"Die Heilige Schrift nicht zu kennen, bedeutet Christus nicht zu kennen." Davon ist der Kirchenvater Hieronymus (4. Jh.) felsenfest überzeugt, und deshalb schreibt er diesen Satz in das Vorwort zu seinem Kommentar über das Buch des Propheten Jesaja. Ja, Sie sehen richtig, liebe Leserin und lieber Leser: Hieronymus spricht hier nicht von der notwendigen Lektüre der Evangelien, sondern er bezieht sich mit seiner Aussage auf jenen Teil der Heiligen Schrift, den wir als Altes Testament bezeichnen. Ohne das Alte Testament können wir Christus nicht kennen, nicht verstehen und – wie 1 Petr 1,8 sagt und wir in den letztwöchigen Ausführungen gesehen haben – auch nicht lieben. Damit sind wir mitten im ersten Petrusbrief, im letzten Abschnitt der Eulogie, die den Brief inhaltlich eröffnet, 1 Petr 1,10-12:
10 Nach dieser Rettung haben die Propheten gesucht und geforscht und sie haben über die Gnade geweissagt, die für euch bestimmt ist. 11 Sie haben nachgeforscht, auf welche Zeit und welche Umstände der in ihnen wirkende Geist Christi hindeute, der die Leiden Christi und die darauf folgende Herrlichkeit im Voraus bezeugte. 12 Ihnen wurde offenbart, dass sie damit nicht sich selbst, sondern euch dienten; und jetzt ist euch dies alles von denen verkündet worden, die euch in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes das Evangelium gebracht haben. Das alles zu sehen ist sogar das Verlangen der Engel.
Im Rahmen der Einleitungsfragen zu diesem Brief haben wir gesehen, dass die Empfänger sehr wahrscheinlich sogenannte "Heidenchristen" waren, das heißt, sie kannten vor ihrer Begegnung mit den christlichen Missionaren die schriftlichen Überlieferungen Israels vermutlich nicht oder nur in geringem Maß. Wenn der erste Petrusbrief nun aber so selbstverständlich Christus mit den alttestamentlichen Propheten verbindet und den Empfängern des Briefes erklärt: "Für euch" (V. 10.11) ist das alles geschehen, auf die Verkündigung "für euch" läuft die ganze Heilsgeschichte hin, müssen wir annehmen, dass die Vertrautheit mit den alttestamentlichen Schriften zweifellos zu ihrer christlichen Identität dazugehörte. Nur so ergeben die Verse 10-12 einen Sinn.
"Musste nicht der Christus das erleiden?"
Vers 10 stellt Christus als den Fluchtpunkt der ganzen Geschichte vor: Alles Suchen und Forschen der Propheten war auf ihn ausgerichtet, auf die "Rettung", die er bringt. Hier wird auch klar, worum es in der ganzen Heilsgeschichte geht, worauf die lange Geschichte der Offenbarung Gottes zielt: auf die Rettung. Das griechische Wort soteria wird oft auch mit "Erlösung" oder "Heil" übersetzt. Wichtig für die neutestamentlichen Schriften ist, dass diese Rettung durch eine Person geschieht, den Retter: "Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr" (Lk 2,11), wie Lukas im Weihnachtsevangelium formuliert und wie die Leute aus Samarien bekennen: "Er ist wirklich der Retter der Welt." (Joh 4,42)
Die Propheten wussten etwas über das Ereignis selbst, nämlich "die Leiden Christi und die darauf folgende Herrlichkeit" (V. 11), aber den Zeitpunkt kannten sie offenbar nicht. Was der Petrusbrief hier über das Wissen und die Weissagung der Propheten schreibt, hat eine Entsprechung in dem Wort, das der auferstandene Jesus zu den Jüngern spricht, als sie mit ihm auf dem Weg nach Emmaus waren und ihn zunächst nicht erkannten: "Ihr Unverständigen, deren Herz zu träge ist, um alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht." (Lk 24,26f)
Die ersten Christen lasen die Schriften des AT gewissermaßen als "Evangelium"; sie wurden von den Missionaren in die Lage versetzt, diese Texte als "Prophezeiung" über das Leben, die Passion und die Auferstehung Jesu zu verstehen.
Prophezeiung über Leben, Passion und Auferstehung
Zwei Aspekte sind wichtig: Erstens gehören Leiden und Herrlichkeit untrennbar zusammen; der Weg Jesu zum Vater endet nicht am Kreuz, aber er führt auch nicht am Kreuz vorbei. Die Christen des ersten Petrusbriefs erleben sich in einer Situation des Leidens, doch der Glaube an Christus eröffnet ihnen die Perspektive der Hoffnung auf Herrlichkeit. Zweitens betont Jesus in Lk 24,26f, dass "alles" von den Propheten Gesagte und "die gesamte Schrift" sich auf ihn beziehen. Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus kannten ja die vier Evangelien noch nicht, die Adressaten des ersten Petrusbriefs möglicherweise auch noch nicht. Das heißt, als die christlichen Missionare in ihr Gebiet kamen, das geographisch ungefähr mit der heutigen Türkei übereinstimmt, brachten sie als Heilige Schrift das Alte Testament mit. Das Neue gab es noch nicht! Die ersten Christen lasen also die Schriften des AT gewissermaßen als "Evangelium"; sie wurden von den Missionaren in die Lage versetzt, diese Texte als "Prophezeiung" über das Leben, die Passion und die Auferstehung Jesu zu verstehen.
Der Geist Christi sorgt nicht nur für eine Kontinuität der schriftlich aufgezeichneten Offenbarung Gottes, sondern er verbindet auch die alte Prophetie mit der gegenwärtigen Verkündigung.
Der erste Petrusbrief bringt dazu noch die maßgebliche Erklärung, warum diese Schriften auf Christus hin gelesen werden, eigentlich sogar, was diese Schriften überhaupt zu prophetischen Schriften macht: Der Geist Christi wirkt in ihren Verfassern (1 Petr 1,11). Darin also unterscheiden sie sich nicht von den Autoren des Neuen Testaments und auch nicht von den Missionaren, die "euch in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes das Evangelium gebracht haben" (V. 12). An diesem Gedanken von der Inspiration aller biblischen Schriften (vgl. 2 Tim 3,16) hängt sowohl der Grundsatz des christlichen Bibelverständnisses, nämlich dass Altes und Neues Testament als Zeugnisse der Gottesoffenbarung eine unauflösliche Einheit bilden, als auch die Einsicht, dass Christus im Grunde nichts völlig Neues brachte, sondern die Erfüllung dessen, was die Menschen von den Verheißungen des Alten Testaments her erwarten konnten.
Und noch mehr: Der Geist Christi sorgt nicht nur für eine Kontinuität der schriftlich aufgezeichneten Offenbarung Gottes, sondern er verbindet auch die alte Prophetie mit der gegenwärtigen Verkündigung. In den ersten Jahrhunderten der Kirche, als das Neue Testament längst fertig und überall verbreitet war, lernten die Katechumenen im Taufunterricht immer noch zuallererst die Schriften des Alten Testaments kennen, allen voran die Psalmen, bevor ihnen das Neue Testament in die Hand gedrückt wurde. Das ist der Hintergrund des Satzes von Hieronymus: "Die Heilige Schrift nicht zu kennen, bedeutet Christus nicht zu kennen."
Der Wendepunkt der Geschichte ist erreicht, die Endzeit ist unwiderruflich angebrochen. Und an dieser Stelle des Geschichtsablaufs, der in die endgültige Gottesherrschaft mündet, stehen die Christen, an die dieser Brief gerichtet ist.
Jetzt wird das Heil enthüllt
Die Eulogie am Beginn des ersten Petrusbriefes enthält aber noch einen weiteren Gedanken, der uns etwas von dem Selbstverständnis der Christen am Ende des 1. Jahrhunderts erschließt: Sie sind die Generation, die jetzt das hören und sehen, wonach die alten Propheten gesucht und geforscht haben, ja mehr noch, was zu sehen "das Verlangen der Engel" (V. 12) ist. Die Engel gehören der biblischen Tradition gemäß ganz in die Nähe Gottes und agieren als Vermittler und Boten zwischen Gott und den Menschen. Üblicherweise sind sie es, die mehr wissen und mehr Einsicht in den Willen und die Pläne Gottes haben als die Menschen. Jetzt ist es anders: Die Empfänger des Petrusbriefes werden daran erinnert, dass ihnen durch die Verkündigung des Evangeliums etwas zuteil geworden ist, das den Engeln offensichtlich vorbehalten war. Damit macht Petrus die Einzigartigkeit ihrer geschichtlichen Situation deutlich. Jetzt wird das lang angesagte und verborgene Heil, die "Rettung" (V. 10), enthüllt. Der Wendepunkt der Geschichte ist erreicht, die Endzeit ist unwiderruflich angebrochen. Und an dieser Stelle des Geschichtsablaufs, der in die endgültige Gottesherrschaft mündet – mit den Worten des Apostels Paulus: "dass Gott alles in allem sei" (1 Kor 15,28) – stehen die Christen, an die dieser Brief gerichtet ist.
Mit Vers 12 endet die Eingangs-Eulogie, die Gott dafür preist, dass er die Christen durch ihre Bekehrung und Taufe zu dem macht, was sie sind: Botschafter des heilvollen Endes, an das die von Gott gelenkte Geschichte jetzt gelangt ist. Das ist der Ausgangspunkt für den Hauptteil des Briefes, der nun folgt und den Christen zeigen will, dass sie keineswegs das sind, wonach es aussieht: eine einsame, eingeschüchterte und diffamierte Minderheit, sondern "ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat" (1 Petr 2,9).