Mit dem Aufruf zur "heiligen Lebensführung" (1 Petr 1,15) begann, wie wir gesehen hatten, der Hauptteil des Briefes. An dieses sogenannte "paränetische", d.h. ermahnende, aufmunternde, Stück schließt sich nun wieder eine theologische Begründung an, die dazu dient, die Adressaten des Briefes dazu zu motivieren, ihre neue Lebensweise wirklich zu ergreifen und daran festzuhalten. Der ganze Abschnitt 1 Petr 1,17-21 bildet im griechischen Text eine einzige lange Satzperiode. Damit wird die innere Zusammengehörigkeit der einzelnen Gedanken zum Ausdruck gebracht. In der deutschen Übersetzung haben wir es, wie schon bei der Eingangs-Eulogie, mit einer Aufschlüsselung in mehrere Einzelsätze zu tun. Vers 17 beschreibt das neue Gottesverhältnis der Getauften, für die Gott Vater und zugleich Richter ist:
Und wenn ihr den als Vater anruft, der jeden ohne Ansehen der Person nach seinem Tun beurteilt, dann führt auch, solange ihr in der Fremde seid, ein Leben in Gottesfurcht! (1 Petr 1,17)
"Wenn ihr den als Vater anruft …"
Bereits am Beginn des Briefes wird Gott als Vater der Christen bezeichnet, der "uns in seinem großen Erbarmen neu gezeugt" (1 Petr 1,3) hat, und wenige Verse vor unserer Stelle begegnete die Bezeichnung der Christen als "Kinder des Gehorsams" (1 Petr 1,14). Die Gotteskindschaft ist begründet und vermittelt durch Jesus Christus. Das sagt auch der Prolog des Johannesevangeliums: "Allen, die ihn [Christus] aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben" (Joh 1,12), und natürlich gehört in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das Vaterunser, mit dem Jesus seinen Jüngern die Gottesanrede "Vater" anvertraut, und auf das die Wendung in 1 Petr 1,17 deutlich anspielt: "Wenn ihr den als Vater anruft …".
Dass der Vater zugleich der Richter ist, setzt der erste Petrusbrief ganz selbstverständlich voraus und unterstreicht damit, dass der Gott, den die Schriften des Alten Testaments verkünden, wenn sie ihn anflehen: "Erhebe dich, Richter der Erde!" (Psalm 94,2), kein anderer ist als der Vater Jesu Christi, denn die Gerichtsthematik begegnet auch in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu auf Schritt und Tritt (vgl. z.B. explizit in den Gleichnissen vom Unkraut unter dem Weizen und vom Fischnetz, Mt 13,24-30.36-43.47-50).
"Gottesfurcht" bezeugt in erster Linie, dass sich die Christen darüber im Klaren sind, dass sie ihr Leben in der Zeit zwischen ihrer Bekehrung und dem vollendeten Heil mit Ernsthaftigkeit vor Gott verantworten wollen.
Das Alte Testament betont einerseits die unbestechliche Gerechtigkeit Gottes als Richter (vgl. Psalm 7,12), anderseits spiegelt es auch die Erfahrung der großen Barmherzigkeit seines Richtens wider: "Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld. Er wird nicht immer rechten und nicht ewig trägt er nach. Er handelt an uns nicht nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Schuld." (Psalm 103,8-10) Diese Aspekte stehen allerdings in 1 Petr 1,17 nicht im Vordergrund, sondern eine andere Eigenschaft Gottes als Richter, die auch bereits im Alten Testament zur Sprache kommt: "Der ist Herr Richter, vor ihm gibt es kein Ansehen der Person." (Sir 33,15; vgl. auch 2 Chr 19,7)
Das Wissen darum, dass es vor Gott keine Rolle spielt, welches öffentliche Ansehen jemand genießt oder zu welcher ethnischen oder sozialen Schicht jemand gehört, ist in der neutestamentlichen Briefliteratur ein wichtiges Thema; in der Apostelgeschichte wird eigens erwähnt, wie Petrus zu dieser Einsicht gelangt ist: "Da begann Petrus zu reden und sagte: Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist." (Apg 10,34f; vgl. ebf. Röm 2,11; Eph 6,9 u.ö.). Wie in der Apostelgeschichte ist auch hier im ersten Petrusbrief das entscheidende Kriterium die Gottesfurcht. "Furcht" ist hier nicht im Sinn von "Angst" vor Gott zu verstehen, sondern als Ausdruck von Respekt und Anerkennung als eine Haltung, die sich ganz konkret im alltäglichen Handeln – Gott urteilt nach dem "Tun" (V. 17) – ausgestaltet. "Gottesfurcht" bezeugt in erster Linie, dass sich die Christen darüber im Klaren sind, dass sie ihr Leben in der Zeit zwischen ihrer Bekehrung und dem vollendeten Heil mit Ernsthaftigkeit vor Gott verantworten wollen.
In Vers 18 setzt der Brief gewissermaßen zu einem Frontalangriff auf das an, was für die Menschen in der antiken römisch-hellenistischen Kultur maßgeblich identitätsstiftend war: die "von den Vätern ererbte Lebensweise", die Tradition der Vorfahren.
Frontalangriff auf die Tradition der Vorfahren
Diese Zeit bezeichnet der Brief als "Leben in der Fremde". Das griechische Wort für "Fremde" heißt paroikia. Damit wurden im Altertum unter anderem Gruppen von Menschen bezeichnet, die in einer Stadt lebten, dort aber keinen festen Wohnsitz hatten und auch nicht die vollen Bürgerrechte besaßen, und die nach einer mehr oder weniger langen Zeit wieder weiterzogen. Das deutsche Wort "Pfarrei" leitet sich übrigens von der paroikia ab und hat bis ins 21. Jahrhundert einen bemerkenswerten Bedeutungswandel durchlaufen. Für die Adressaten des Briefes hat sich – ohne äußere Wohnsitzverlegung – ein fulminanter innerer "Umzug" ereignet: Das, was ihnen vor ihrer Bekehrung zum christlichen Glauben das Vertraute und Heimatliche war, ist jetzt für sie das Fremde geworden: Sie sind nicht mehr "angepasst", haben die "Unwissenheit" und die "Leidenschaften" hinter sich gelassen und sind weitergezogen hin zu "Hoffnung" und "Gnade" (vgl. 1 Petr 1,14):
18 Ihr wisst, dass ihr aus eurer nichtigen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold,19 sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel. (1 Petr 1,18f)
In Vers 18 setzt der Brief gewissermaßen zu einem Frontalangriff auf das an, was für die Menschen in der antiken römisch-hellenistischen Kultur maßgeblich identitätsstiftend war: die "von den Vätern ererbte Lebensweise", die Tradition der Vorfahren. Diese über Generationen weitergegebene Lebensweise beurteilt der Brief schlichtweg als "nichtig"; das zugrundeliegende griechische Wort bedeutet in erster Linie "sinnlos", dann auch "wertlos" und "leer". Umgekehrt spürt auch die römische Gesellschaft sehr deutlich, dass die christliche Lebensweise mit ihrer Tradition unvereinbar ist. Das wird deutlich bei der Erzählung über die erste christliche Mission auf europäischem Boden: Als Paulus mit seinen Begleitern in Philippi das Evangelium verkündet, kommt es zu einem Eklat, Paulus und seine Leute werden verhaftet mit der Begründung: "Diese Männer verkünden Sitten und Bräuche, die wir als Römer weder annehmen können noch ausüben dürfen." (Apg 16,21) Im weiteren Verlauf des Briefes wird an konkreten Fällen deutlich, wie tiefgreifend der christliche Glaube die gesellschaftlich etablierten Denk- und Verhaltensweisen in Frage stellt.
Welt und Geschichte: Auf Christus hin konzipiert
Mit dem Bild vom "Loskauf" verschärft der Brief noch einmal sein Urteil über die "von den Vätern ererbte Lebensweise": Losgekauft werden Sklaven. Der heidnische Lebensstil war eine Existenz in Unfreiheit und Entwürdigung. Die Christen konnten sich aus dieser Situation nicht selbst befreien, sondern verdanken ihre neue Existenzweise "dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel" (V. 19). Der erste Petrusbrief verbindet hier die Praxis des Freikaufens von Sklaven mit der alttestamentlichen Versöhnungspraxis, die vorschreibt, dass man sich mit der Schlachtung eines einem bestimmten Geldwert entsprechenden, fehlerlosen Opferlammes von seiner Schuld gegenüber Gott "loskaufen" konnte (vgl. Lev 5,14-26; Num 5,5-8). Der erste Petrusbrief betont demgegenüber, dass das Opfer Christi "unbezahlbar" war, und damit absolut unvergleichbar ist mit allen anderen Formen von Schuldopfern.
20 Er war schon vor Grundlegung der Welt dazu ausersehen und euretwegen ist er am Ende der Zeiten erschienen. 21 Durch ihn seid ihr zum Glauben an Gott gekommen, der ihn von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben hat, sodass ihr an Gott glauben und auf ihn hoffen könnt. (1 Petr 1,20-22)
In Vers 20 macht der Brief eine weitreichende und tiefgreifende theologische Aussage: Die ganze Welt und ihre Geschichte ist von Christus her und auf ihn hin "konzipiert". Und die Adressaten des Briefes stehen gewissermaßen im Scheinwerferlicht der Heilsgeschichte: "Euretwegen" ist Gott selbst in die Weltgeschichte eingetreten und hat dadurch offenbart, dass das "Ende der Zeiten" erreicht ist. Der Beweis dafür ist die Auferstehung Jesu von den Toten. Sie macht es möglich, dass die vormaligen Heiden nun an Gott glauben können. Im Brief an die Römer argumentiert Paulus ganz ähnlich: Das Evangelium von Jesus Christus, schreibt er, offenbare "jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten unausgesprochen war, jetzt aber … kundgemacht wurde, um alle Heiden zum Gehorsam des Glaubens zu führen" (Röm 16,25f).
Glaube verwandelt das Leben
Die Adressaten des ersten Petrusbriefs werden in dem Abschnitt 1 Petr 1,17-22 zu einem vertieften Verständnis der Einzigartigkeit ihrer geschichtlichen Situation geführt und erneut daran erinnert, dass ihnen der Glaube eine ganz neue Existenz in Freiheit und Würde geschenkt hat. Typisch für die Struktur des ersten Petrusbriefes ist es, dass auf diesen theologischen Abschnitt wieder eine Passage folgt, die auf die lebenspraktischen Konsequenzen der "dogmatischen" Grundlagen eingeht (1 Petr 1,22-2,3). Der Glaube verwandelt das ganze Leben: Bewusstsein, Haltung und Verhalten.