"Eine Sache, welche bey andern Anstoß verursacht" – so liest sich die Definition der Redewendung vom "Stein des Anstoßes" in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart aus dem Jahr 1801. Beim "Stein des Anstoßes" handelt es sich um eine Redewendung, die – wie manch andere in der deutschen Sprache – ihren Ursprung in der Bibel hat, in diesem Fall im ersten Petrusbrief. Im vorausgehenden Abschnitt, 1 Petr 2,4-7a, zeichnete der Brief das Bild von Christus als dem lebendigen Stein und von der Kirche als dem geistigen Haus aus lebendigen Steinen. Dieser Stein und dieses Gebäude wird für manche Menschen unter bestimmten Voraussetzungen zum "Stein des Anstoßes":
Für jene aber, die nicht glauben, ist dieser Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden, zum Stein, an den man anstößt, und zum Felsen, an dem man zu Fall kommt. Sie stoßen sich an ihm, weil sie dem Wort nicht gehorchen; doch dazu sind sie bestimmt. (1 Petr 2,7b-8)
Der erste Petrusbrief entwickelt hier das Bild vom Stein weiter, das er in den Versen vorher mit Hilfe von Zitaten aus Psalm 118, 122 und Jesaja 28,16 entworfen hatte, indem er es durch ein weiteres alttestamentliches Zitat ausweitet, ebenfalls aus dem Jesajabuch: "Der Herr wird zum Heiligtum werden, zum Stein des Anstoßes und zum Felsen, an dem man strauchelt" (Jes 8,14). Der Petrusbrief wendet diese Aussage auf Christus und die Kirche an: An Christus scheiden sich die Geister, entweder ist er Grundstein oder Stolperstein. Diese Alternative ist kompromisslos, denn offensichtlich gibt es keine "neutrale" Haltung gegenüber der Botschaft des Evangeliums. Die Verkündigung fordert zu der Entscheidung auf, das Evangelium anzunehmen, das heißt im Sprachgebrauch des Briefes: "dem Wort zu gehorchen" (V. 8). Wer das Wort hört und sich ihm gegenüber verschließt, "kommt zu Fall" (V. 7).
Es geht um Leben und Tod
Vor dem Hintergrund des bisherigen Briefverlaufs, in dem wiederholt betont wurde, dass der Glaube an Christus das endgültige Heil und die eschatologische Rettung bedeutet, dürfte klar sein, dass die Rede vom "Anstoßen" und "zu Fall Kommen" sich ebenfalls auf das endgültige Schicksal der Menschen bezieht. An einer Stelle wie dieser wird deutlich, wie ernst es dem Verfasser des Briefes um die Bedeutung des Glaubens für das Heil des Menschen ist. Es geht um Leben und Tod, und ganz entscheidend ist dabei die Einsicht, dass es in der Hand des Menschen liegt, den rettenden Glauben zu ergreifen. Über jene, die das Wort Gottes zurückweisen und deshalb an ihm anstoßen und zu Fall kommen, kommentiert der Brief: "Denn dazu sind sie bestimmt" (V. 8b). Das könnte im Sinne einer Vorherbestimmung missverstanden werden, so als läge die Frage nach Glaube und Gehorsam gegenüber dem Evangelium außerhalb der Verfügung des menschlichen Willens.
Vom Kontext her scheint es aber vielmehr eine Reflexion der Erfahrungen zu sein, die die christlichen Missionare gemacht haben, nämlich, dass das Evangelium sowohl auf Annahme als auch auf Ablehnung gestoßen ist. Das unbegreifliche Rätsel, dass Menschen das angebotene Heil zurückweisen, findet hier einen Erklärungsversuch: Unglaube ist keine unausweichliche Vorherbestimmung, sondern erweist sich als Ungehorsam, also als Entscheidung und Tat des freien Menschen, der das "lebendige Wort Gottes" (1 Petr 1,23) zurückweist.
Im neutestamentlichen Sinn zu "glauben" bedeutet immer, das ganze Leben auf den Willen Gottes hin auszurichten und es durch ihn verwandeln zu lassen. Das ist mit "Gehorsam" gemeint.
Dass der Petrusbrief den Unglauben als Weigerung, dem Wort Gottes zu gehorchen, definiert, weist auf den spezifisch christlichen Glaubensbegriff hin: Glauben umfasst mehr als bloß eine intellektuelle Zustimmung zu bestimmten Glaubensinhalten. Das zugrundeliegende griechische Wort ist das Verb pisteuein, das in seiner Grundbedeutung "vertrauen" ganz wesentlich den Aspekt der Hingabe samt einer entsprechenden Haltung und eines Verhaltens einschließt. Im neutestamentlichen Sinn zu "glauben" bedeutet immer, das ganze Leben auf den Willen Gottes hin auszurichten und es durch ihn verwandeln zu lassen. Das ist mit "Gehorsam" gemeint.
C. S. Lewis greift in seinem Buch "Pardon, ich bin Christ" das Problem auf, dass der Versuch, durch eine rein intellektuelle Anstrengung Christ sein zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist. Mit dem berühmten Tipp: "Act as if you did!" – "Verhalte dich so, als ob du Christ wärst" – führt Lewis den Gedanken aus, dass das Handeln nach christlichen Prinzipien dazu führen kann, dass der Glaube selbst wächst und sich vertieft. Am "Stein anstoßen" ist ein Bild, das über die Tatsache einer grundsätzlichen Ablehnung der christlichen Botschaft hinaus auch die Konsequenzen illustriert, die sich aus der Weigerung ergeben, sein Leben wirklich Gott anzuvertrauen und sich auf das neue Leben als Christ und seine praktischen Konsequenzen für den Alltag vorbehaltlos einzulassen.
Ein Stein inmitten der Kirche
In seinem historischen Zusammenhang dürfte sich der Abschnitt 1 Petr 2,7b-8 tatsächlich auf die Frage nach der Reaktion der Menschen auf die christliche Verkündigung beziehen. Einige Zeit später, im 3. Jahrhundert, aktualisiert der Theologe Origenes dieses Bild vom Stein des Anstoßes in den Kontext der Situation der Kirche seiner Zeit hinein. In der Auslegung des Origenes scheidet der "Stein" die Menschen nicht mehr wie im Petrusbrief zwischen Christen und Nichtchristen, sondern er steht inmitten der Kirche und scheidet die Geister in Bezug auf die Frage nach der Relevanz der Heiligen Schrift für Glaube und Leben. Der "Stein des Anstoßes" bei Origenes ist die Heilige Schrift, genau genommen die zahlreichen schwer verständlichen, ja sogar oft als "anstößig" empfundenen Passagen und Aussagen. Dem Leser und der Leserin der Bibel, die auf solche "Brocken" stoßen, gibt Origenes folgenden Ratschlag:
Wenn du beim Lesen der Schrift über einen guten Gedanken stolperst, der ein Stolperstein und ein Fels des Anstoßes ist, dann tadle dich selbst. Glaube zuerst und du wirst viel Hilfe unter dem vermeintlich Anstößigen entdecken. Es gibt kein Jota und keinen Fleck (vgl. Mt 5,18), der in der Schrift geschrieben steht, der nicht sein Werk wirkt in denen, die die Kraft der Schriften zu verwenden wissen. Tadle mehr dich selbst als die heiligen Schriften, wenn du nicht die Bedeutung dessen entdeckst, was geschrieben ist. (fragm. in Jer. 51,22, hom. 39, GCS 3,196)
"Sich selbst tadeln" – damit meint Origenes, dass der Leser und die Leserin, wenn er oder sie auf eine Aussage in der Bibel trifft, die nicht unmittelbar einleuchtend erscheint, keine spontane Zustimmung hervorruft, sondern eher, weil seltsam und befremdlich, Widerwillen auslöst, nicht die Heilige Schrift in Frage stellen oder ablehnen, sondern vielmehr die eigenen Voraussetzungen hinterfragen solle. Ganz im Sinne des ersten Petrusbriefs erklärt auch Origenes, dass der Glaube die entscheidende Voraussetzung ist, ob man die Heilige Schrift als "Kraft", tragfähigen Grundstein des Lebens, erfährt oder ob sie zum Stolperstein wird, dann nämlich, wenn der Glaube fehlt, dass in diesen Texten das "lebendige Wort Gottes" (1 Petr 1,23) zu finden ist, spricht und durchaus auch Ansprüche stellt. Mit dieser Deutung trifft Origenes nicht bloß den Nerv seiner eigenen Zeit, sondern seine Gedanken zur Bibel als "Stein des Anstoßes" scheinen mir auch gegenwärtig ganz aktuell zu sein.
Wie bleibt der Stein heute noch "Eckstein"?
Die als "anstößig" empfundenen Stellen in den biblischen Texten sind ja keineswegs weniger geworden, nur die Ausweichmanöver, um der Konfrontation mit dem "Stein des Anstoßes" zu entgehen, vielleicht noch etwas subtiler als zur Zeit des Origenes. Dazu gehört die Flucht in die wissenschaftlich begründete Distanzierung von den Texten: Als Dokumente einer längst vergangenen Zeit mit ihrer Kultur und Weltanschauung können sie wohl kaum noch den Anspruch auf existenzielle Relevanz und Verbindlichkeit für heute erheben! Eine weitere Maßnahme, um dem "Stein des Anstoßes" aus dem Weg zu gehen, besteht in der Praxis, die entsprechenden Stellen aus Lesungen und Psalmen in den liturgischen Büchern einfach nicht abzudrucken, so dass sie gar nicht erst zum geistlichen Stolperstein werden können.
Im Sinne des ersten Petrusbriefs wäre an diese Vorgehensweisen und Praktiken die Frage zu richten: Wenn der "Stein" so weit abgetragen wird, dass man sich nicht mehr an ihm stoßen oder über ihn stolpern kann – hat er dann überhaupt noch Substanz genug, um "Eckstein" zu sein, tragfähiges Fundament, auf dem das Leben als Christ sicher und stabil aufgebaut werden kann?