"Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt" (2 Petr 2,21b). – Mit dieser Begründung ermutigt der Verfasser des Briefes die christlichen Sklaven zu einer ihrem Glauben entsprechenden Haltung und Ethik. Der erste Petrusbrief sieht in ihrer Existenz als rechtlich unfreie Menschen in einer Gesellschaft, der der Gedanke von der Würde und Gleichheit aller Menschen völlig fremd war, den Raum, in dem sich die Berufung zur Nachfolge Christi verwirklicht. Einige Jahrzehnte vorher hatte der Apostel Paulus den Christen in Korinth geschrieben: "Jeder soll so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gottes Ruf ihn getroffen hat." (1 Kor 7,17)
Nachfolge ist in jeder Lebenslage und Situation möglich, das heißt, es muss nicht erst eine entsprechende Umgebung geschaffen werden, um als Christ und Christin leben zu können. Das Sklavendasein und ebenso auch die Lebensumstände als Ehefrau eines ungläubigen Mannes, wie sie im nächsten Abschnitt der Haustafel wohl im Hintergrund stehen (vgl. 1 Petr 3,1-7), stellen Extremsituationen dar, in denen die äußeren Bedingungen – Unfreiheit, Unterdrückung, Misshandlung, Rechtslosigkeit – in einem spürbaren Gegensatz zum christlichen Menschenbild stehen. Und dennoch ist gerade unter diesen Lebensbedingungen echte Nachfolge möglich. Der erste Petrusbrief stellt darum Christus als den, der ihm zugefügtes Leiden in Geduld erträgt, in den Vordergrund. Sein Leiden ist die "Fußspur" (1 Petr 2,21), in die seine Jünger und Jüngerinnen eintreten.
Nachfolge ist Kreuzesnachfolge
Dass Nachfolge immer Kreuzesnachfolge ist, wird an zahlreichen Stellen im Neuen Testament deutlich. Jesus selbst ruft dazu auf: "Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!" (Mk 8,34) In ganz wörtlichem Sinn ist Simon von Kyrene der erste, der die Last des Kreuzes Jesu zu spüren bekommt. Ihm wird das Kreuz Jesu aufgeladen, und er trägt es ein Stück weit (vgl. Lk 23,36). In der Tauftheologie, die Paulus im Römerbrief entwickelt, betont der Apostel, dass "wir auf seinen (Jesu) Tod getauft worden sind" (Röm 6,3). Diese "Gemeinschaft mit seinem Leiden" (Phil 3,10) stellt die Realität der christlichen Existenz in diesem Leben dar; sie gehört jedoch untrennbar zusammen mit der Teilhabe an der Auferstehung Jesu: "Wenn wir nämlich mit der Gestalt seines Todes verbunden wurden, dann werden wir es auch mit der seiner Auferstehung sein." (Röm 6,5, vgl. Phil 3,10; 2 Kor 1,5-7)
Durch die bewusste Entscheidung, die eigene Situation mit Christi Weg zu verbinden, vollzieht sich die innere Verwandlung von bedrückenden Lebenssituationen, so dass aus einer belastenden Daseinsbedingung die Erfahrung von "Gnade in den Augen Gottes" entsteht.
Innere Wandlung
Für Paulus bedeutet die enge existenzielle Verbundenheit mit Christus, dass er in den Bedrängnissen und leidvollen Erfahrungen seines eigenen Lebens die Leiden Christi selbst erkennen kann. So können und dürfen nach Paulus alle Glaubenden ihre Nöte als hineingenommen in das Leiden Christi verstehen (vgl. 2 Kor 1,7). So sieht es auch der Petrusbrief und macht es beispielhaft an der Situation der Sklaven deutlich. Durch die bewusste Entscheidung, die eigene Situation mit Christi Weg zu verbinden, vollzieht sich die innere Verwandlung von bedrückenden Lebenssituationen, so dass aus einer belastenden Daseinsbedingung die Erfahrung von "Gnade in den Augen Gottes" (1 Petr 2,20) entsteht. Das Leiden der Christen wird als Teilhabe am Leiden Christi verstanden. Der Hebräerbrief richtet deshalb den Aufruf an alle Christen: "Lasst uns zu ihm (…) hinausziehen und seine Schmach tragen!" (Hebr 13,13)
In den Versen 1 Petr 2,22-24 erläutert der Brief, in welcher Weise sich Christus als "Vorbild" zeigt:
22 Er hat keine Sünde begangen und in seinem Mund war keine Falschheit. 23 Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. (1 Petr 2,22f)
Wortlose Geduld des leidenden Jesus
1 Petr 2,22 macht die Sündelosigkeit Jesu zum Ausgangspunkt der folgenden Passionstheologie. Dass Jesus keine Sünde begangen hat, gehört zu den fraglosen Aussagen im gesamten Neuen Testament. Im ersten Johannesbrief findet sich eine mit der Christologie des Petrusbriefs verwandte Äußerung: "Ihr wisst, dass er erschienen ist, um die Sünden wegzunehmen, und in ihm ist keine Sünde." (1 Joh 3,5) Jesu Sündelosigkeit bewährt sich vor allem in seiner Geduld im Leiden. Die Schmähungen, an die der Brief in Vers 23 erinnert, beziehen sich sehr wahrscheinlich auf entsprechende Überlieferungen über das Leben Jesu in den Evangelien: Vorgeworfen wird ihm, dass er mit dem Teufel im Bund stehe (vgl. Mk 3,22), dass er ein "Fresser und Säufer" sei (Mt 11,19).
Verspottet wird er von den Mitgliedern des Hohen Rates (vgl. Mt 26,67), von den Soldaten, die ihn selbst noch am Kreuz misshandeln (vgl. Mt 27,30), und schließlich von den Hohenpriestern, den Schriftgelehrten und Ältesten sowie von den beiden Männern, die mit ihm zusammen gekreuzigt wurden (vgl. Mt 27,41.44). Die christlichen Sklaven der Generation des ersten Petrusbriefs, die selbst Unrecht ertragen müssen, finden in der wortlosen Geduld des leidenden Jesus ihr eigenes Schicksal abgebildet und aufgehoben in der Gerechtigkeit Gottes.
Spätestens mit Vers 24 weitet der Verfasser des Briefes seinen Blick vom Leiden der Sklaven hin zur ganzen Kirche:
"Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und leben für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden seid ihr geheilt." (1 Petr 2,24)
Weil er wirklich Mensch war
Hier klingen Worte aus dem vierten Gottesknechtslied (Jes 52,13-53,12) an, mit dessen Hilfe viele neutestamentliche Schriften die Passion Jesu zu deuten suchen (vgl. u.a. Apg 8,32f; Röm 4,25; 1 Kor 15,3; Hebr 9,20). Der Evangelist Lukas führt die christologische Deutung der alttestamentlichen Gottesknechtslieder auf Jesus selbst zurück, der seinen Jüngern beim Letzten Abendmahl erklärt: "Ich sage euch: An mir muss sich erfüllen, was geschrieben steht: Er wurde zu den Gesetzlosen gerechnet. Denn alles, was über mich gesagt ist, geht in Erfüllung." (Lk 22,37)
"Unsere Sünden", das heißt menschliche Schuld, konnte der Sohn Gottes tragen, weil er wirklich ein Mensch war. So war seine Passion stellvertretendes Leiden und Sterben "für uns". Jesus trägt die Sünden der Menschen wie eine Last auf das Kreuz hinauf. Das hier verwendete griechische Verb anapherein bedeutet im Alten Testament, etwas auf den Opferaltar tragen. Das Kreuz ist dieser Altar und Jesu Tod das Opfer. Wichtig ist, dass nicht die Sünden das Opfer darstellen, sondern der Leib Jesu.
Die durch Jesus von ihren Sünden befreiten Menschen sollen von nun an "für die Gerechtigkeit leben".
Der Gedanke von der Heilsbedeutung seines Leibes begegnet auch im Kolosserbrief: "Jetzt aber hat er euch durch den Tod seines sterblichen Leibes versöhnt, um euch heilig, untadelig und schuldlos vor sich hintreten zu lassen." (Kol 1,22) Aus dem stellvertretenden Leiden Jesu – unsere Sünden werden zu seinen Wunden – leitet der Brief einen ethischen Anspruch ab: Die durch Jesus von ihren Sünden befreiten Menschen sollen von nun an "für die Gerechtigkeit leben". Dieser Gedanke hat eine Parallele im Römerbrief des Apostels Paulus (vgl. Röm 6,15-23). Dort wie hier ist klar, dass "Gerechtigkeit" nicht dem eigenen Leistungswillen und der persönlichen Anstrengung entspringt, sondern ganz und gar in der Heilstat Christi begründet ist. Es ist die Gerechtigkeit, die Christus wirkt und in die er die Glaubenden hineinnimmt.
Christus als Hüter der Seelen
Mit Vers 25 schließen die christologischen Aussagen, mit denen der erste Petrusbrief die ethischen Ansprüche an die christlichen Sklaven und darüber hinaus an alle Christen begründet: "
Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen." (1 Petr 2,25)
Der Vers erinnert noch einmal an die Zeit vor der Begegnung mit Christus: Als Heiden waren die Adressaten wie "verirrte Schafe". Das Bild von Gott als dem Hirten ist in der Bibel, im Alten wie im Neuen Testament, tief verankert. Im Petrusbrief fällt allerdings auf, dass er die "Hinwendung" der Schafe zu ihrem Hirten eigens hervorhebt. Die anderen biblischen Bilder nehmen dagegen viel stärker den suchenden und fürsorgenden Hirten in den Blick und bei den Schafen auch eher die Tendenz, von ihrem Hirten wegzulaufen. Die "Schafe" im Petrusbrief sind da anders! Sie suchten ihren Hirten und haben ihn gefunden, so dass er nun "Hüter" ihrer Seelen ist.
Im griechischen Text heißt der Hüter episkopos. Zur Zeit der Abfassung des Briefes am Ende des ersten Jahrhunderts wurde dieser Begriff bereits als Amtsbezeichnung für den Bischof verwendet. Indem der Verfasser an dieser Stelle auf diesen Begriff zurückgreift, will er möglicherweise die innere Verbindung zwischen Christus und dem kirchlichen Leitungsamt in Erinnerung rufen: Christus ist es, der im kirchlichen Amt als der eigentliche Bischof (episkopos) wirkt. Das kirchliche Amt wird am Ende des Briefes noch einmal eigens Thema sein (vgl. 1 Petr 5,1-7).