Mit dem Bild vom "lebendigen Stein" hatte der erste Petrusbrief die Konsequenzen der Entscheidung für oder gegen den Glauben an Christus gezeichnet: Für die Glaubenden ist er der Grundstein, auf dem sie selbst als "lebendige Steine" zur Kirche aufgebaut werden. Für diejenigen, die die Verkündigung des Evangeliums nicht annehmen, wird ein und derselbe Stein zum "Stein des Anstoßes", an dem sie "zu Fall kommen" (vgl. 1 Petr 2,4-8). Ihr Schicksal deutet der Brief nur sehr knapp an, während er im Folgenden in reichen Farben das Bild der Kirche darstellt, die auf dem Stein aufgebaut ist, der das ganze Gebäude trägt und zusammenhält. Dabei zählt der Petrusbrief eine ganze Reihe von Ehrentiteln auf, die im Alten Testament dem erwählten Gottesvolk Israel zugesprochen sind:
Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat. (1 Petr 2,9)
Der wichtigste Bezugstext stammt aus dem Buch Exodus, und es handelt sich um Worte, mit denen der Bundeschluss am Sinai vorbereitet wird:
Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. (Ex 19,5f)
Die Kirche gehört Gott und nicht sich selbst
In der Kirche, so sehen es die Autoren der neutestamentlichen Schriften, ist die Hoffnung Israels Wirklichkeit geworden: aus dem "ihr sollt" (Ex 19,5) ist ein "ihr seid" (1 Petr 2,9) geworden. Paulus bezeichnet die Kirche als das "Israel Gottes" (Gal 6,16), und deshalb gelten ihr sowohl alle Verheißungen an Israel als auch die Würdenamen des Volkes Gottes.
Die Kirche ist "auserwählt", "heilig" und Gottes "besonderes Eigentum". Diese Attribute bringen vor allem ein Wesensmerkmal der Kirche zum Ausdruck: Sie gehört Gott und nicht sich selbst. Sie hat sich nicht selbst erschaffen oder erfunden und sie verfügt auch nicht über sich selbst, da sie Gottes "Eigentum" ist. Ihre "Heiligkeit" hat sie ebenfalls von Gott, nicht durch eigene Anstrengung. Das "Heilige" im biblischen Sprachgebrauch ist das, was nicht mehr zu dieser Welt gehört, sondern von ihr ausgesondert in Berührung und Gemeinschaft mit Gott steht und so seine verborgene Gegenwart aufscheinen lässt.
Die Kirche ist eine "königliche Priesterschaft". Die Aufgabe des Priesters im Alten Testament war es, Mittler zu sein zwischen Gott und dem Volk, dem der Zugang zum Heiligtum untersagt war. Im Neuen Testament sind alle fähig, "durch Jesus Christus geistige Opfer" (1 Petr 2,5) zu bringen, nämlich "sich selbst als geistigen Gottesdienst" (Röm 12,1). Der Zugang zu Gott muss nicht mehr durch andere vermittelt werden, "denn durch Christus haben wir (…) in dem einen Geist Zugang zum Vater" (Eph 2,18). Von diesem Verständnis des ganzen Gottesvolks als "Priesterschaft" zu unterscheiden ist das Weihepriestertum in der Kirche. Darum geht es an dieser Stelle aber nicht.
Niemandem untertan und an niemanden gebunden
Die Priesterschaft des Gottesvolks ist eine "königliche". Mit der Vorstellung vom Königtum verbindet sich in den biblischen Texten das "Herrschen" beziehungsweise die Herrschaft auszuüben. Mit dem Gedanken des Herrscher-Seins sind vor allem Freiheit und Souveränität verknüpft: Wer Herr ist, ist niemandem untertan und an niemanden gebunden. In der Kirche sind nach 1 Petr 2,9 alle Könige. Was für eine königliche Freiheit das ist, die die Christen erlangt haben, erklärt der Apostel Paulus im Brief an die Römer:
Denn ist durch die Übertretung des einen [Adam] der Tod zur Herrschaft gekommen, durch diesen einen, so werden erst recht diejenigen, denen die Gnade und die Gabe der Gerechtigkeit reichlich zuteilwurde, im Leben herrschen durch den einen, Jesus Christus. (Röm 5,17)
In diesem Kapitel des Römerbriefs erläutert Paulus, wie Christus die Menschheit aus der Knechtschaft und Unfreiheit der Sünde befreit, in die sie sich selbst verstrickt hatte und aus eigener Kraft nicht davon loskam. Ursprünglich war der Mensch zum Herrschen über die Schöpfung bestimmt (vgl. Gen 1,26); diese Souveränität hat er aber durch eigene Schuld verloren. Indem Christus durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung den Tod als den Beherrscher der Menschen besiegt hat, sind die so befreiten Menschen wieder in ihre königliche Würde und Freiheit zurückgeführt. Dieser Gedanke, dass die königliche Würde des Menschen, die er zusammen mit dem Paradies verloren hatte, ihm durch Christus wieder neu gegeben wurde, wird auch in der Johannesoffenbarung bezeugt:
Du wurdest geschlachtet / und hast mit deinem Blut / Menschen für Gott erworben / aus allen Stämmen und Sprachen, / aus allen Nationen und Völkern 10 und du hast sie für unsern Gott / zu einem Königreich und zu Priestern gemacht; / und sie werden auf der Erde herrschen. (Offb 5,9f)
Von Licht und Finsternis
Allerdings wird in den neutestamentlichen Texten auch deutlich, dass dieses königliche Herrschen jetzt noch verborgen ist. Jesus spricht seinen Jüngern die Herrschaft als eschatologische Verheißung zu:
Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet auch ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. (Mt 19,28)
Dennoch nimmt die Kirche als "königliche Priesterschaft" ihre wichtigste Aufgabe jetzt schon wahr, nämlich dass sie "die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat" (1 Petr 2,9). Inhalt dieser Verkündigung ist der Befreiungsruf Gottes, der sein Volk aus der Finsternis ins Licht geführt hat. Die Symbolik des Gegensatzpaares Licht und Finsternis ist in der Bibel breit bezeugt. Der Prophet Jesaja zum Beispiel spricht damit die Hoffnung auf die Befreiung des Gottesvolkes aus übermächtigen Gewaltzusammenhängen aus: "Das Volk, das in der Finsternis ging, / sah ein helles Licht" (Jes 9,1).
Neben diesem Text, der als Lesung in der Heiligen Nacht verwendet und damit in der Liturgie auf Christus bezogen wird, spielt der Kontrast von Licht und Finsternis vor allem im Johannesevangelium eine wichtige Rolle, um die klare und kompromisslose (Ent-)Scheidung zwischen Tod und Leben zu benennen, die in der Entscheidung für oder gegen Jesus erfolgt: "Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt" (Joh 12,46). Das "wunderbare Licht" aus V. 9 ist niemand anderes als Jesus Christus. Durch die Verkündigung dieses Evangeliums wird die Kirche selbst zum Licht für die anderen. Das kommt in der Bergpredigt zum Ausdruck: "So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen" (Mt 5,16), und auch ganz ähnlich im Philipperbrief: "Ihr seid Kinder Gottes ohne Makel mitten in einer verkehrten und verwirrten Generation, unter der ihr als Lichter in der Welt leuchtet" (Phil 2,15).
Christsein oder Römersein?
Der ganze Abschnitt 1 Petr 2,4-10 schließt mit einer wichtigen Erinnerung an die Christen im Blick auf ihre Herkunft ab:
Einst wart ihr kein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen, jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden. (1 Petr 2,10)
Petrus zitiert hier einen Vers aus dem Buch des Propheten Hosea. In seinem ursprünglichen Zusammenhang geht es darum, dass Israel, nachdem es sich von Gott getrennt hatte – fremde Götter verehrt und deren Kult betrieben, soziale Ungerechtigkeit in hohem Maß geübt –, wieder aus Erbarmen von ihm als sein Volk angenommen wird. Der erste Petrusbrief, und übrigens auch Paulus im Römerbrief (vgl. Röm 9,25), überträgt diese Aussage auf die Heiden. Sie sind von Gott in sein Volk gerufen und nicht aus eigenem Antrieb oder Verdienst hinzugestoßen. Dass sie zur Kirche gehören, verdanken sie einzig und allein dem Erbarmen Gottes.
In diesem Vers, der die Aufzählung der Ehren- und Würdebezeichnungen der Kirche abschließt, steckt noch ein weiterer Gedanke: Nicht nur, dass die Heiden früher nicht Volk Gottes waren, jetzt sind sie nicht nur sein Volk, sondern ein Volk: Die frühere Zugehörigkeit der Christen "aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern" (Offb 5,10) gehört der Vergangenheit an. Es entsteht ein neues Bewusstsein von Zusammengehörigkeit zu dem einen Volk Gottes. Und diese neue Identität, die sich nicht mehr aus der Nationalität herleitet, bringt die Christen im Römischen Reich schließlich auch in eine schwierige Lage: Christsein gerät in eine Unvereinbarkeit mit dem "Römersein". Mit dieser Situation setzt sich der Brief dann im nächsten Abschnitt auseinander.