Wenn man den ersten Petrusbrief auf besondere Charakteristika abfragt, mit denen er die Christen kennzeichnet, gehört die "Lebendigkeit" auf alle Fälle dazu. Schon in der Eröffnung des Briefes war von der "lebendigen Hoffnung" (1 Petr 1,3) die Rede, von der das durch den Glauben an Christus ganz neu gewordene Leben getragen und durchdrungen ist. In Vers 18 des ersten Kapitels wiederholt der Verfasser dann noch einmal den Gedanken von der Neuzeugung, dort spricht er vom "lebendigen Wort Gottes" als dem Samen, aus dem das neue Leben keimt und Gestalt gewinnt; in diesem Zusammenhang kam der Eigenschaft "lebendig" vor allem die Bedeutung des Unzerstörbaren, Dauerhaften zu.
Im Abschnitt 1 Petr 2,4-7a tritt das Charakteristikum des Lebendigen erneut in den Vordergrund, und zwar in einer parallel gestalteten Aussage über Christus und die Christen: Petrus spricht hier vom lebendigen Stein und den lebendigen Steinen:
4 Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist! 5 Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen! 6 Denn es heißt in der Schrift: Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten Stein, einen kostbaren Eckstein, den ich in Ehren halte; wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde. 7a Euch, die ihr glaubt, gilt diese Ehre.
"Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein!"
In diesen Abschnitt sind zwei alttestamentliche Zitate eingeflochten: Das Bild vom verworfenen Stein in V. 4 spielt auf einen Psalmvers an: "Ein Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden" (Ps 118,22), und wird später in Vers 7b ein weiteres Mal aufgegriffen. Vers 6 zitiert den Propheten Jesaja: "Darum – so spricht Gott, der Herr: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen harten und kostbaren Eckstein, ein fest gegründetes Fundament" (Jes 28,16). In beiden alttestamentlichen Kontexten hat der Stein jeweils schon metaphorische Bedeutung, und Petrus überträgt diese Bedeutung auf Christus. Er ist der "Stein", der zugleich lebendig und verworfen ist, das heißt, dass der Glaube an ihn als den Auferstandenen, Lebendigen immer in Verbindung mit dem Kreuz, dem skandalösen Zeichen des Verworfenseins (vgl. Dtn 21,23; Gal 3,13) bleibt.
In den Augen der menschlichen Gesellschaft ist Christus "Verworfener" – das wird durch seinen schmachvollen Tod am Kreuz bestätigt –, in den Augen Gottes dagegen ist er "Auserwählter".
Für den Apostel Paulus ist dies übrigens das entscheidende Kriterium des christlichen Glaubens. Der Gemeinde in Korinth erklärt er: "Wir verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Kor 1,23f). In diesem Sinn fordert der erste Petrusbrief die Christen dazu auf, sich ganz entschieden zu positionieren: "Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein!" Wenn sie sich auf seine Seite stellen, also auf die Seite des Gekreuzigten, handelt Gott an ihnen genauso wie an Christus, den er als den von den Menschen Verworfenen "auserwählt und geehrt" (V. 4) hat. Die Christen werden dann selbst zu lebendigen Steinen, als solche "zu einem geistigen Haus aufgebaut" (V. 5), und ihnen "gilt diese Ehre" (V. 7), nämlich dieselbe, die Christus zuteil wurde.
Die Rede von der "Ehre", die uns heute vielleicht eher befremdlich vorkommt, gehört zu einem ganz geläufigen Konzept in den antiken Kulturen des Mittelmeerraums: Das Schema "Ehre und Schande" diente der Regulierung und Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenlebens; ein entsprechendes Verhalten bestimmte über die Zugehörigkeit und das gesellschaftliche Ansehen oder über den Ausschluss aus der Gemeinschaft, Verachtung und Gesichtsverlust. Der christliche Glaube "revolutioniert" dieses Schema, indem er das Urteil Gottes über das, was Ehre und was Schande bedeutet, über das gesellschaftliche Urteil stellt. In den Augen der menschlichen Gesellschaft ist Christus "Verworfener" – das wird durch seinen schmachvollen Tod am Kreuz bestätigt –, in den Augen Gottes dagegen ist er "Auserwählter".
Von lebendigen Steinen zu einem geistigen Haus
Auch beim Apostel Paulus steht dieses Konzept von Ehre und Schande im Hintergrund, wenn es darum geht zu zeigen, dass das Leben nach den Maßstäben des Evangeliums in einen scharfen Kontrast zu den gesellschaftlich etablierten Überzeugungen, Normen und Gewohnheiten führt: "Ich schäme mich des Evangeliums nicht. Es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen" (Röm 1,16). Und aus der Situation seiner Inhaftierung im Gefängnis – ein deutliches Signal seiner gesellschaftlich festgestellten "Schande" – schreibt Paulus an die Christen in Philippi: "Ich erwarte und hoffe, dass ich in keiner Hinsicht beschämt werde, dass vielmehr Christus in aller Öffentlichkeit (…) verherrlicht werden wird in meinem Leib, ob ich lebe oder sterbe" (Phil 1,20).
Bereits im Alten Testament wird darauf hingewiesen, dass nicht materielle Gaben, sondern Gebet, Lob und Dank, sowie Buße die wahren Opfer seien.
Der erste Petrusbrief stellt im Bild vom "lebendigen Stein" Christus und die Christen in eine Entsprechung: In Christus sollen die Christen sich erkennen und sein, was er ist. Als "lebendige Steine" werden sie zu einem "geistigen Haus" aufgebaut (V. 5), das auf dem Grundstein Christus (V. 6) errichtet ist. Zusammen mit den Motiven von der "heiligen Priesterschaft" und dem "geistigen Opfer" gehören diese Verse in den großen Bildzusammenhang von der Kirche als Tempel, der in zahlreichen Färbungen in den Schriften des Neuen Testaments begegnet (z.B. Mt 16,18; 1 Kor 3,9-11; Eph 2,20-22; 1 Tim 3,15).
Die Bezeichnung des Hauses und der Opfer als "geistig" ist einen Blick in den griechischen Text wert: Das entsprechende Wort heißt pneumatikos, und das bedeutet, das Pneuma, niemand anderes als der Heilige Geist, ist hier am Werk. Als geistiger Bau ist die Kirche vom Heiligen Geist geschaffen, und die Opfer, die in diesem Tempel dargebracht werden, sind ebenso wesentlich "geistig". Bereits im Alten Testament wird darauf hingewiesen, dass nicht materielle Gaben, sondern Gebet, Lob und Dank, sowie Buße die wahren Opfer seien (vgl. Psalm 141,2; 50,14; 107,22; 51,19). Die "spiritualisierten" Opfer sind ja gegenüber den materiellen Opfern keineswegs ein Verlust an Wirklichkeit, sondern, weil es Opfer im Heiligen Geist sind, sogar höchste Realität. Gemeint ist mit den "geistigen Opfern" nicht irgendetwas, das die Christen darbringen sollen, sondern der Mitvollzug des Opfers Jesu Christi.
Existenzielle Hingabe an Gott
Im Brief an die Römer formuliert Paulus dieses Opferverständnis ganz eindeutig als existenzielle Hingabe an Gott: "Bringt eure Leiber als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer dar, als euren geistigen Gottesdienst" (Röm 12,1). Hier im ersten Petrusbrief kommt dieser Gedanke von der Ganzhingabe im Bild von den lebendigen Steinen zum Ausdruck, die sich in das geistige Haus einfügen lassen. Bemerkenswert in Vers 5 ist der passive Imperativ: "Lasst euch … aufbauen!" In Vers 6 kommt dann entsprechend zum Ausdruck, dass Gott der Baumeister der Kirche ist; sie ist keine menschliche Konstruktion, weder in ihrem Bauplan noch in ihrer Ausführung. Das Kirchenverständnis aus 1 Petr 2,4-6 wird in dem traditionell zum Kirchweihfest gehörenden Hymnus "Urbs beata Ierusalem", der aus dem 7. Jahrhundert stammt, aufgegriffen, metaphorisch weiter ausgestaltet und mit Motiven aus der Johannesoffenbarung (Offb 21) und dem Epheserbrief (Eph 2,20) verbunden.
Die Aufforderung: "Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen!" (V. 5) deutet der Dichter des Hymnus als lebenslangen Formungsprozess, in dem Gott als der "Künstler" des Bauwerks jeden einzelnen Stein so bearbeitet, dass er genau an den Platz passt, den er für ihn vorgesehen hat. Diese Bearbeitung geschieht durch "Schläge und Drücken", womit durchaus darauf angespielt sein kann, dass der christliche Weg, wenn er Weg Jesu ist, immer ein Kreuzweg ist. Dabei erweist sich die Lebendigkeit der Steine darin, dass sie sich ganz dem Gestaltungswillen des Künstlers überlassen. Im Wortlaut und in einer – möglichst wörtlichen – Übersetzung lautet die vierte Strophe des Hymnus so:
"Tunsionibus pressuris expoliti lapides
suis coaptantur locis
per manum artificis
disponuntur permansuri sacris aedificiis." Übersetzt: "Die durch Schläge und Drücken geglätteten Steine
werden an ihrem passenden Platz eingefügt
durch die Hand des Künstlers
und werden angeordnet, um dauerhaft in heiligen Gebäuden zu bleiben."
Den ganzen Hymnus mit Notenbild und Text kann man sich übrigens HIER anhören.