"Quasimodo" und die geistige Milch"... damit ihr seinen Spuren folgt": Der erste Petrusbrief

Als Christ zu leben bedeutet, täglich jene "Milch" zu trinken, die nahrhaft ist wie Muttermilch: das Wort Gottes. Die Taufe macht dabei in der Perspektive des Petrusbriefes "logos-fähig", sprich: sie ermöglicht es erst, die Botschaft vom menschgewordenen Wort Gottes richtig zu verstehen.

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"Quasimodo" dürfte manchen von Ihnen als eine Figur aus dem berühmten Roman von Victor Hugo über die Kathedrale Notre Dame in Paris bekannt sein. Zu seinem Namen kam der "Glöckner von Notre Dame", weil er am zweiten Ostersonntag als Findelkind geborgen wurde; dieser Sonntag wird auch als Sonntag "Quasimodo" bezeichnet. Und dieser Name hängt zutiefst mit dem ersten Petrusbrief zusammen, und zwar mit der Passage, die heute im Blickpunkt steht:

1 Legt also alle Bosheit ab, alle Falschheit und Heuchelei, allen Neid und alle Verleumdung! 2 Verlangt wie neugeborene Kinder nach der unverfälschten, geistigen Milch, damit ihr durch sie heranwachst und Rettung erlangt! 3 Denn ihr habt gekostet, wie gütig der Herr ist. (1 Petr 2,1-3)

Dieser Abschnitt ist bereits seit dem 4. Jahrhundert als Lesung in der Osterzeit bezeugt, zum Beispiel bei Augustinus (354–430), der diese Verse aus dem ersten Petrusbrief in einer Predigt vom zweiten Sonntag der Osterzeit auslegt (sermo 353). Im frühen Mittelalter entstand dann der gregorianische Einzugsgesang (Introitus) für die Messe vom "Weißen Sonntag", der mit den Worten aus Vers 2 beginnt, "Wie neugeborene Kinder", lateinisch: Quasi modo geniti infantes. Am Oktavtag von Ostern zogen die in der Osternacht Neugetauften ihre weißen Taufkleider aus und machten sich gewissermaßen für das Alltagsleben als Christen bereit. In der liturgischen Tradition ist 1 Petr 2,1-3 also schon sehr früh im Zusammenhang mit der Taufe bezeugt, und möglicherweise liegt hier auch eine Verbindung zum ursprünglichen Sitz im Leben des Briefes. Zu Beginn dieser Auslegungsreihe hatten wir gesehen, dass in der Forschungsgeschichte zum ersten Petrusbrief durchaus auch die Ansicht vertreten wird, dem Brief liege eine Predigt oder Unterweisung an Taufbewerber oder Neugetaufte zugrunde.

Babynahrung – auf dass der Glaube wachse

Im Blick auf die Auslegungsgeschichte möchte ich einige Aspekte aus den altkirchlichen Interpretationen zu 1 Petr 2,2 vorstellen: Ein Gedanke der Kirchenväter knüpft an das Motiv von der Milch an, das sich im Neuen Testament auch im ersten Korintherbrief (1 Kor 3,2) und im Hebräerbrief (Hebr 5,12f) findet. An beiden Stellen steht das Motiv von der Milch, verstanden als Babynahrung im Unterschied zu fester Speise, für den christlichen Anfangsunterricht, die elementare Glaubensunterweisung – also etwas, das nicht schwer aufzunehmen und leicht verdaulich ist. Origenes (3. Jh.) rechtfertigt deshalb mit Bezug auf 1 Petr 2,2 die Tatsache, dass in den verschiedenen Kontexten der Kirche die Inhalte des christlichen Glaubens auf sehr verschiedenen theologischen und intellektuellen Niveaus Ausdruck finden, ohne dass dadurch der gemeinsame Glaube zersplittere. Sein philosophischer Gegner und Kritiker des Christentums, Celsus, hatte ihm vorgeworfen, auf den verschiedenen Ausdrucksebenen, für die die Bilder "Milch", "feste Speise", "Fleisch", "Gemüse" stehen (vgl. 1 Kor 3,2; Hebr 5,12f; Röm 14,2), würde jeweils ein anderer Gott verkündet. Dagegen wendet Origenes ein:

Wie die Beschaffenheit der Speisen (…) so verändert Gott auch die Kraft seines Wortes, das dazu bestimmt ist, die menschliche Seele zu nähren, für einen jeden Menschen wie es ihm angemessen ist. Daher wird, nach den Worten der Schrift, dem einen geistige, unverfälschte Milch, dem andern als dem Schwächeren gleichsam Gemüse, einem anderen Vollkommenen aber feste Nahrung gegeben. (Origenes, Cels. 4,18)

Das Wort Gottes kann also als "Milch" verabreicht und aufgenommen werden, allerdings – so 1 Petr 2,2 – soll sich das Verlangen auf die "unverfälschte und geistige Milch" richten – nicht auf ein wie auch immer geartetes Milchersatzprodukt.

Nach antiker Überzeugung war die Muttermilch transformiertes Blut, das durch die weiße Farbe für das Kind nichts Beängstigendes und Abschreckendes mehr hatte. 

Und damit hängt ein weiterer Gedanke zusammen, der sich in den Kirchenväterauslegungen findet. Sein Ursprung liegt bereits im 2. Jahrhundert bei Clemens von Alexandrien. Clemens entwickelt seine Deutung vom damaligen Kenntnisstand der antiken Medizin über die Herkunft der Muttermilch. Nach antiker Überzeugung war die Muttermilch transformiertes Blut, das durch die weiße Farbe für das Kind nichts Beängstigendes und Abschreckendes mehr hatte. Die "unverfälschte, geistige Milch" ist für Clemens daher nichts anderes als das Blut Christi, mit dem die Kirche als Mutter ihre Kinder ernährt (vgl. Clemens, Paedagogos 1,39.40). Die Nahrung, nach der die Neugetauften verlangen sollen, sind die Sakramente der Kirche, insbesondere die Eucharistie. Nicht von ungefähr schließt der erste Petrusbrief in Vers 3 das Zitat aus Psalm 34,9 an: "Kostet und seht, wie gut der Herr ist", bis heute in der Eucharistiefeier ein häufig zitierter Vers vor der Kommunionausteilung und im Brief sogar nicht einmal als Aufforderung, sondern als Erfahrung formuliert: "Ihr habt die Güte des Herrn bereits gekostet".

Die Taufe macht Christen "logos-fähig"

Im ersten Petrusbrief wird zudem klar gesagt, wozu die Milch dient: "zum Heranwachsen hinein in die Rettung" (V. 2). Es geht um einen geistlichen Wachstumsprozess, und in diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Variante im Text dieses Verses aufmerksam machen, die unter anderem in der Bibelhandschrift nachzuweisen ist, die dem Kommentar des Beda Venerabilis (673–735) zum Petrusbrief zugrunde lag und die in den Text des Introitus "Quasi modo" Eingang gefunden hat: Dort ist die Eigenschaft "geistig" (lat. rationalis) nämlich nicht auf die Milch bezogen, sondern auf die neugeborenen Kinder. Sie sind durch die Taufe "rational" geworden. Was bedeutet das? Hier lohnt es sich, auf das ursprüngliche griechische Wort zu schauen, logikos. Logikos heißt: auf den Logos bezogen. Nun sind logos und ratio, Vernunft und Verstand, natürlich sehr wichtige philosophische Begriffe. Nach Aristoteles (384–322 v.Chr.) ist es geradezu die Definition des Menschen in Abgrenzung zu allen anderen Lebewesen, dass er das einzige "Lebewesen, das Verstand (logos) hat", ist.

In der biblisch-christlichen Tradition ist dieser Logos aber niemand anderes als das menschgewordene Wort (Logos) Gottes, Jesus Christus. Durch die Neugeburt in der Taufe, so sagt es der erste Petrusbrief, sind die Christen logos-fähig oder logos-gemäß geworden, sie haben also Teil an dem göttlichen Logos, Christus. Vermittelt über den biblischen Logos-Begriff formuliert Origenes daher das spezifisch christliche Menschenbild: "Wirklich vernünftig (logikos) ist allein der Heilige." (Kommentar zum Johannesevangelium 2,16,114) Die Adressaten des ersten Petrusbriefs sind auf dem Weg dahin, heilig zu werden (vgl. dazu die Ausführungen zu 1 Petr 1,15), oder anders gesagt: Christus immer ähnlicher werden.

Wer von der "geistigen (logoshaften) Milch", die Christus ist, genährt wird, der erfährt an sich, wie er selbst immer mehr durch diese Speise verändert und ihr ähnlich wird.

Dazu gehört auch das Bild vom Kleiderwechsel, das in 1 Petr 2,1 anklingt. "Ablegen" beziehungsweise "ausziehen" sollen die Christen ihre alten Verhaltensweisen, "Bosheit, Falschheit, Heuchelei, Neid, Verleumdung". Diese Aufzählung steht stellvertretend für alle Denk- und Verhaltensweisen, die nicht mit der christlichen Existenz vereinbar sind. Solche sogenannten "Lasterkataloge" kommen an mehreren Stellen im Neuen Testament in mehr oder weniger großer Ausführlichkeit vor, etwa in Mk 7,21f, Gal 5,19-21 oder Kol 3,5-8. In den Briefen des Apostels Paulus folgt auf die Aufforderung, diese alten Verhaltensweisen und Denkmuster abzulegen, oft die Anweisung, bestimmte neue Verhaltensweisen anzuziehen (vgl. 1 Thess 5,8; Eph 4,24f). Dabei ist dieser "Umkleidungsprozess" mit seinen ganz praktischen Auswirkungen auf die Lebensgestaltung keineswegs ein vordergründiger, äußerer oder oberflächlicher Kleiderwechsel, sondern er greift ins innerste Wesen des Menschen ein: "Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen" (Gal 3,27). Wer von der "geistigen (logoshaften) Milch", die Christus ist, genährt wird, der erfährt an sich, wie er selbst immer mehr durch diese Speise verändert und ihr ähnlich wird.

"Verlangt nach dieser Milch!"

In einem antiken christlichen Brief steht darum das Verlangen nach dieser geistigen Milch im Vordergrund: Der anonyme Theologe, dessen Schriften unter dem Namen "Pseudo-Makarios" geführt werden und vermutlich aus dem 6. Jahrhundert stammen, beklagt in diesem Brief, dass das Verlangen der Christen nach dieser Milch nachlässt und dieser Mangel an geistlicher Leidenschaft sich sichtbar und spürbar auswirkt, insofern als das christliche Leben ohne seine lebensnotwendige Nahrung glanzlos, kraftlos und müde wird:

Weil unser Lebensstil nicht keusch ist, besitzt unser Geist keinen Glanz. Weil wir die reine geistige Milch nicht lieben, macht unsere Seele in der Weisheit seines (Christi) Geistes keinen Fortschritt. Weil wir unsere Seele nicht aufwecken, weil uns das Licht des Tages nicht aufgeht, lässt der geistliche Morgenstern sein Licht nicht in unserm Geist leuchten. (Ps.-Macarius, ep. 2,2)

Der erste Petrusbrief richtet an seine Adressaten den eindringlichen Aufruf: "Verlangt nach dieser Milch!"

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