"Das Ende aller Dinge ist nahe. Seid also besonnen und nüchtern und betet!" (1 Petr 4,7) - Christliche Ethik ist in der eschatologischen Naherwartung begründet. Der erste Petrusbrief leitet seine ethische Mahnung in dem Abschnitt 1 Petr 4,7-11 in ganz enger Anlehnung an Jesu Worte Jesu ein, die er zum Auftakt seines öffentlichen Wirkens spricht: "Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium." (Mk 1,15) Jesus fordert zur Umkehr auf angesichts der Nähe der Gottesherrschaft. Sie ist das treibende Motiv seiner Verkündigung in Wort und Tat.
Nach Ostern war den Jüngern klar geworden, wie eng die Person Jesu mit seiner Botschaft vom nahegekommenen Reich Gottes verbunden war. Origenes (3. Jh.) fasst diese Erkenntnis in dem Wort zusammen: "Jesus ist das Reich Gottes in Person." Darum richtete sich die Hoffnung der Christen auf die vom Auferstandenen verheißene Wiederkunft in Herrlichkeit, mit der sich die Gottesherrschaft endgültig erfüllen wird. Man hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die sogenannte akute Naherwartung in den späteren Schriften des Neuen Testaments deutlich schwächer wird zugunsten einer "Einrichtung" der Kirche auf die Dauer der Zeiten.
Naherwartung und existenzielle Nähe
Im ersten Petrusbrief, aber auch in anderen späten Texten wie etwa dem ersten Johannesbrief, der betont: "Die letzte Stunde ist da!" (1 Joh 2,18), ist dieser Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens jedoch keineswegs an den Rand des Bewusstseins gerückt. Vielleicht aber hat eine Akzentverschiebung im Verständnis von "Naherwartung" stattgefunden. Für Paulus, der zumindest für eine gewisse Zeit, wie der erste Thessalonicherbrief bezeugt (vgl. 1 Thess 4,15), fest damit rechnete, dass Christus noch zu seinen Lebzeiten wiederkommen und die Welt vollenden werde, hat die Vorstellung von der "Naherwartung" ein starkes Gewicht auf der zeitlichen Dimension.
"Nahe sein" hat jedoch auch eine existenzielle Dimension: Jemand kann mir nahe sein, auch wenn er räumlich oder sogar zeitlich in weiter Ferne ist. Eine solche existenzielle Nähe des erhöhten Christus beziehungsweise der Gottesherrschaft, die Paulus selbstverständlich auch in hohem Maße kennt – "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,19) – scheint in den Spätschriften des Neuen Testaments die wichtigere Dimension zu sein. Wenn der Petrusbrief also sagt: "Das Ende aller Dinge ist nahe", ruft er den Christen die existenziell bedeutsame Nähe der Vollendung der Welt ins Bewusstsein. Mit der Auferstehung Jesu von den Toten hat die Endzeit begonnen, unabhängig davon, wie lange die chronologisch messbare Zeit dauern wird. Und durch den Glauben und die Taufe haben die Christen schon jetzt teil an diesem neuen Leben in Christus.
Der Realität ohne Schönfärberei begegnen
Im ersten Kapitel hatte der Brief den Christen ihre neue Existenzweise vor Augen geführt: "Ihr seid neu gezeugt worden, nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen: durch Gottes Wort, das lebt und das bleibt." (1 Petr 1,23) Wenn in diesem irdischen Dasein bereits der Same von Gottes Zukunft liegt, dann bedeutet das, dass das jetzige Leben aus der Vergänglichkeit in die Unvergänglichkeit hineinreicht und von ihr her Sinn, Bedeutung und Relevanz erhält: Was ich hier denke, rede und tue, hat Zukunft. Deshalb macht die endzeitliche Erwartung die Christen weder untätig noch interesselos für die Belange des gegenwärtigen Lebens. Das Wissen um das Ende dieser Welt, den Beginn einer neuen Welt und die Verschränkung oder Überlappung beider Welten seit der Auferstehung Jesu lässt die Christen "besonnen" und "nüchtern" sein; das heißt, sie können den Realitäten dieser Welt ohne Illusionen und Schönfärberei begegnen.
Zugleich macht der Zustand dieser Welt angesichts des nahen Gerichts die Christen auch zu Betern, denn sie wissen um die Ernsthaftigkeit der Gegenwart, weil sie Entscheidung für die Zukunft ist. Aus dieser Haltung zur Zeit und Zeitlichkeit heraus fordert der Petrusbrief die Christen zu ethischem Handeln auf:
Vor allem haltet beharrlich fest an der Liebe zueinander; denn die Liebe deckt viele Sünden zu. (1 Petr 4,8)
Jesus gibt seinen Jüngern das Gebot der gegenseitigen Liebe: "Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe." (Joh 15,12; ebf. Joh 13,34) In der Endzeitrede Jesu im Matthäusevangelium (Mt 25,35-45) entscheiden die Werke der Liebe im Gericht. Für den ersten Petrusbrief ist der Gedanke wichtig, dass die Liebe im Gericht retten wird, und zwar den, der anderen Liebe erweist.
Gastfreundschaft als konkrete Form der Liebe
Im Hintergrund steht ein Zitat aus dem alttestamentlichen Buch der Sprichwörter: "Hass weckt Streit, / Liebe deckt alle Vergehen zu." (Spr 10,12) Dieses Wort wird im Neuen Testament und in den sehr frühen außerbiblischen christlichen Schriften, den sogenannten Apostolischen Vätern, häufig zitiert, aber immer in der Bedeutung, dass die Liebe die Sünden der anderen zudeckt (vgl. Jak 5,20; 1 Clem 49,5; Didask 2,3 u.a.). Hier im ersten Petrusbrief geht es um die eigenen Sünden, die durch die Liebe "neutralisiert" werden. Origenes (3. Jh.), einer der bedeutendsten Exegeten der Alten Kirche, bringt die Aussage in 1 Petr 4,8 mit dem Wort Jesu über die Sünderin, die ihn mit ihrem kostbaren Öl salbt, zusammen: "Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der liebt wenig." (Lk 7,47, vgl. Origenes, Lev. Hom. 2,4) In diesem Sinn kann man die Aussage über die vergebende Kraft der Liebe als eine positiv formulierte Fortführung der Vaterunser-Bitte: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern", verstehen.
Als eine ganz konkrete Form der Liebe stellt der Petrusbrief die Gastfreundschaft vor:
Seid untereinander gastfreundlich, ohne zu murren! (1 Petr 4,9) Die Gastfreundschaft spielt im Leben Jesu eine bedeutende Rolle und sie gehört zu den entscheidenden Kriterien beim Jüngsten Gericht: "Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen" (Mt 25,35). Insbesondere das Lukasevangelium überliefert Jesu Haltung zur Gastfreundschaft, etwa in der Kritik, die er an Simon, dem Pharisäer, der ihn zum Essen eingeladen hatte, übt: "Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser für die Füße gegeben (…) du hast mir keinen Kuss gegeben, (…) du hast mir nicht das Haupt mit Öl gesalbt" (Lk 7,44-46), oder in der Mahnung, Gastfreundschaft nicht aus Berechnung zu erweisen:
"Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich wieder ein und dir ist es vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten." (Lk 14,12-14)
Gastfreundschaft als Pflichtübung
In den Briefen des Neuen Testaments wird die Gastfreundschaft von allen Christen gefordert; konkret dürfte dahinter einerseits die Bedürftigkeit der urchristlichen Wandermissionare stehen, wie aus dem dritten Johannesbrief zu ersehen ist:
"Du wirst gut daran tun, wenn du die Brüder für ihre Reise so ausrüstest, wie es Gottes würdig ist. Denn für seinen Namen sind sie ausgezogen und haben von den Heiden nichts angenommen. Darum sind wir verpflichtet, solche Männer aufzunehmen, damit auch wir zu Mitarbeitern für die Wahrheit werden." (3 Joh 6-8)
Anderseits schlägt sich im Aufruf zur Gastfreundschaft auch bereits die Situation der Verfolgung und Vertreibung von Christen nieder: "Nehmt Anteil an den Nöten der Heiligen; gewährt jederzeit Gastfreundschaft!" (Röm 12,13) In den Pastoralbriefen wird die Gastfreundschaft als "Amtspflicht" des Bischofs angesprochen (vgl. 1 Tim 3,2; Tit 1,8). Der Petrusbrief bringt den vielsagenden Zusatz, Gastfreundschaft solle "ohne zu murren" erwiesen werden. Hier kommt zum Ausdruck, dass die Beherbergung und Versorgung durchaus auch als mühevolle Last erfahren wurde. Die Didache, ein Text aus dem 2. Jh., bezeugt, dass christliche Gastfreundschaft durchaus auch missbraucht wurde (vgl. Did 11-13), und der Satiriker Lukian, ebenfalls aus dem 2. Jh., macht sich in seinem Roman "Der Tod des Peregrinos" über die Christen lustig, die sich in ihrer Gastfreundschaft vom "Helden" der Geschichte maßlos ausnutzen lassen (vgl. ebd. §12f).
Die Charismen in der christlichen Gemeinde
In den beiden letzten Versen des Abschnitts, 1 Petr 4,10f, geht es um die Charismen in der christlichen Gemeinde:
10 Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat! 11 Wer redet, der rede mit den Worten, die Gott ihm gibt; wer dient, der diene aus der Kraft, die Gott verleiht. So wird in allem Gott verherrlicht durch Jesus Christus. Sein ist die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen. (1 Petr 4,10f)
Die Charismen als die "empfangenen Gaben" erweisen sich als sichtbare und spürbare Wirkung der neuen Schöpfung. Der Petrusbrief ist davon überzeugt, dass jeder Christ eine solche Gabe hat, mit der er "dienen" kann, das heißt zur reichen Vielfältigkeit in der Kirche beitragen. Auch wenn im Vergleich zu den Charismen des apostolischen Zeitalters hier die außerordentlichen Geistbegabungen wie Wunderkräfte, Zungenrede, Heilungsgabe (vgl. 1 Kor 12,9) nicht genannt sind, sondern jene Gaben, die im alltäglichen Leben zum Zuge kommen, teilt der Apostel Paulus doch mit dem Petrusbrief die Auffassung, dass die dienenden Gaben in der Kirche den Vorrang haben (vgl. 1 Kor 12,28; Röm 12,6-8). Die beiden Gaben, auf die sich der Brief konzentriert, sind das Charisma des Wortes und das Charisma der helfenden Tat. Diese Verknüpfung findet sich auch schon bei Paulus: "Hat einer die Gabe des Dienens, dann diene er. Wer zum Lehren berufen ist, der lehre." (Röm 12,7) Der Lehrer spricht "mit den Worten, die Gott ihm gibt"; er verkündet nicht seine eigene Meinung, sondern er ist "Diener des Wortes" (Lk 1,2) und "Diener des Evangeliums" (Eph 3,7).
Im Wort der Kirche wird das Wort Gottes ausgerichtet; das bezeugt schon Paulus:
"Darum danken wir Gott unablässig dafür, dass ihr das Wort Gottes, das ihr durch unsere Verkündigung empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern – was es in Wahrheit ist – als Gottes Wort angenommen habt; und jetzt ist es in euch, den Glaubenden, wirksam." (1 Thess 2,13)
Für jeden Dienst in der Kirche gilt, dass er "durch Jesus Christus" zur Verherrlichung Gottes geschieht. Gottes Herrlichkeit ist das Ziel von allem. Alle Lebensvollzüge der Christen in dieser Welt sind ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes, auf das sich die christliche Hoffnung richtet und von dem her die Christen ihr Leben gestalten.