Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels, 1 Petr 1,22-25, bringt zwei wichtige Begriffe ins Spiel und stellt sie in ein Verhältnis zueinander: Wahrheit und Liebe. Beides sind zunächst einmal abstrakte Begriffe, aber der erste Petrusbrief bezieht sie unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit der Christen:
Der Wahrheit gehorsam, habt ihr euer Herz rein gemacht für eine aufrichtige geschwisterliche Liebe; darum hört nicht auf, einander von Herzen zu lieben. (1 Petr 1,22)
Wenn im Neuen Testament von "Wahrheit" die Rede ist, geht es nicht um den Diskurs über eine philosophische Fragestellung, auch wenn die berühmte Frage des Pilatus diesen Gedanken vielleicht nahelegen mag: "Was ist Wahrheit?" (Joh 18,38) In der lateinischen Version der Pilatus-Frage, quid est veritas?, haben mittelalterliche Theologen ein Anagramm entdeckt: Wenn man die einzelnen Buchstaben der Wörter in eine andere Reihenfolge bringt, enthält die Frage selbst die Antwort: Est vir, qui adest – "(Wahrheit) ist der Mann, der hier ist." Das Anagramm entspricht, auch wenn es nicht die unmittelbare Absicht des Evangelisten gewesen sein kann, der ja nicht auf Latein, sondern auf Griechisch geschrieben hat, ganz der Eigenart des Johannesevangeliums, das deutlich betont, dass die Wahrheit eine Person ist: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6).
Ein gereinigtes Herz folgt der Wahrheit
Die Wahrheit begegnet uns im menschgewordenen Gott, Jesus Christus. Deswegen ist es auch möglich, der Wahrheit zu gehorchen, wie es 1 Petr 1,22 formuliert. Der Gehorsam gegenüber der Wahrheit in Person, Jesus Christus, geschieht durch die Reinigung des Herzens. Das griechische Wort für "reinigen" an dieser Stelle ist verwandt mit dem Begriff "heilig", so dass das Herz zu reinigen eigentlich bedeutet, es heilig zu machen. Und damit ist im biblischen Sprachgebrauch gemeint, das Herz, also sich selbst, dem Heiligen anzugleichen. Im Alten Testament wird dies in der Aufforderung ausgedrückt: "Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig" (Lev 19,2). Das gereinigte, heilige Herz folgt der Wahrheit. Jesus fordert im Johannesevangelium dazu auf, "die Wahrheit zu tun" (Joh 3,21); in den anderen Evangelien entspricht das dem Ruf zur Nachfolge.
Die Liebe soll echt sein, nicht vorgetäuscht. Damit macht Petrus klar, dass es nicht nur vordergründig um irgendwelche Taten und Aktionen geht, sondern dass das Verhalten erst dann "christlich" ist, wenn seine Quelle aufrichtige Liebe ist.
Dass der Wahrheit gehorsam zu sein auf ein Tun ausgerichtet ist beziehungsweise sich im Handeln verwirklicht, zeigt der erste Petrusbrief, indem er von der "geschwisterlichen Liebe" spricht, die durch das gereinigte Herz möglich und auch gefordert ist. Der innere und untrennbare Zusammenhang von der Liebe zu Gott und der Liebe zueinander ist ein Grundmotiv, das sich durch viele Schriften des Neuen Testaments zieht, angefangen von Jesu Antwort auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot (vgl. Mt 22,35-40) bis hin zur kompromisslosen Feststellung im ersten Johannesbrief: "Wenn einer sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner." (1 Joh 4,20)
Hier im ersten Petrusbrief ist ausdrücklich die Rede von der Liebe zu Christus (vgl. 1 Petr 1,8) als Quelle der geschwisterlichen Liebe. Das kommt im Neuen Testament weitaus seltener vor als die Rede von der Liebe zu Gott, ausdrücklich etwa im Schlussgruß des Epheserbriefs: "Gnade mit allen, die unseren Herrn Jesus Christus lieben" (Eph 6,24), und als Haltung des Philemon, über den Paulus schreibt: "Ich höre von deinem Glauben an Jesus, den Herrn, und von deiner Liebe zu ihm und zu allen Heiligen." (Phlm 1,5)
Wahrheit also erweist sich durch die Liebe, und diese Liebe soll "aufrichtig" sein. Im Originaltext steht an dieser Stelle das Wort "ungeheuchelt". Die Liebe soll echt sein, nicht vorgetäuscht. Damit macht Petrus klar, dass es nicht nur vordergründig um irgendwelche Taten und Aktionen geht, mögen sie auch noch so sozial wirksam sein, sondern dass das Verhalten erst dann "christlich" ist, wenn seine Quelle aufrichtige Liebe ist.
Aufruf zur geschwisterlichen Liebe
Dass Liebe auch geheuchelt sein und eine vermeintlich gute Tat einer ganz egoistischen Motivation entspringen kann, weiß auch der Apostel Paulus, der im Brief an die Römer mahnt: "Eure Liebe sei ohne Heuchelei!" (Röm 12,9) Hier an dieser Stelle im ersten Petrusbrief geht es zunächst um die geschwisterliche Liebe (griechisch: philadelphia), das heißt um die Liebe, die Christen sich untereinander schenken. Die Hinwendung zu Nichtchristen und die Haltung ihnen gegenüber wird im zweiten Kapitel des Briefes Thema sein.
Dass Petrus innerhalb eines Verses so dicht gedrängt zur gegenseitigen Liebe mahnt und die Geschwisterlichkeit der Christen untereinander betont, könnte seinen Grund in der besonderen Situation der Gemeinden haben, an die der Brief adressiert ist: Angesichts von Bedrängnis und Verfolgung vermittelt der Aufruf zum Zusammenhalt Stärkung und Zuversicht, zumal dieser Zusammenhalt in der gemeinsamen Liebe zu Christus begründet ist. Die Beziehung zu Christus macht die Beziehungen der Christen untereinander stabil und belastungsfähig.
Dieser Hintergrund der sehr unsicheren und schwierigen Lebensbedingungen der Christen in ihrer heidnischen Umwelt scheint nochmals in Vers 23 durch, in dem der Brief den bereits früher ausgesprochenen Gedanken von der Neuschöpfung durch Gott (vgl. 1 Petr 1,3.18) wiederholt:
Ihr seid neu gezeugt worden, nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen: durch Gottes Wort, das lebt und das bleibt. (1 Petr 1,23)
Ein Leben, das bleibt
Das Wort Gottes zeugt das neue Leben. Durch die Verkündigung des Evangeliums und die Annahme dessen, was sie gehört haben, sind die Christen bereits jetzt in ein Leben eingetreten, "das bleibt" und das ihnen eine Neubewertung all dessen ermöglicht, was ihr bisheriges Leben bestimmt hat. Zur Bekräftigung zitiert der erste Petrusbrief im Anschluss einen Abschnitt aus dem alttestamentlichen Jesaja-Buch, vgl. Jes 40,6-8:
Denn: Alles Sterbliche ist wie Gras und all seine Schönheit ist wie die Blume im Gras. Das Gras verdorrt und die Blume verwelkt; doch das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. (1 Petr 1,24.25a)
Das Zitat gehört eigentlich in den Zusammenhang der prophetischen Verheißung über die Rückkehr Israels aus dem babylonischen Exil im 6. Jh. v. Chr., jedoch spielt dieser ursprüngliche Kontext für den Petrusbrief keine Rolle. Petrus interessiert hier nur die eine Aussage, nämlich, dass das "Wort des Herrn in Ewigkeit bleibt". So wird der Jesaja-Text zu einem Schriftbeweis für die Unvergänglichkeit des Wortes Gottes angesichts aller Flüchtigkeit, Unbeständigkeit und Hinfälligkeit der alltäglichen menschlichen Realitäten. Diese Stelle ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, wie die neutestamentlichen Autoren beim Verfassen ihrer Schriften die Überlieferungen des Alten Testaments verstanden und entsprechend benutzt haben: Den größeren Zusammenhang oder den historischen Kontext einer alttestamentlichen Schriftstelle haben sie zumeist nicht im Blick, sondern es geht ihnen um bestimmte Stichworte und Motive, an denen die neutestamentlichen Autoren die innere Verbindung der heilsgeschichtlichen Ereignisse erkennen und die Einheit der Gottesoffenbarung durch die Geschichte hindurch erfassen. Sie verknüpfen also bestimmte Schlagworte und Leitgedanken miteinander und zeigen so, dass es ein und derselbe Gott ist, der die Welt erschaffen, Abraham berufen, seinen Sohn in die Welt gesandt hat und schließlich bleibend gegenwärtig in seiner Kirche ist.
Dass dieser große Bogen der Heilsgeschichte sich bis in die Gegenwart der Adressaten des Briefes spannt, hatten wir im Rahmen der Eingangseulogie besprochen, in der Petrus eigens betont, dass nun die Geschichte der Offenbarung der "Gnade, die für euch bestimmt ist" (1 Petr 1,10) an ihr Ziel gelangt ist.
Das erste Kapitel des Briefes schließt mit der Zusicherung, dass das unvergängliche und lebendige Wort Gottes, von dem der Prophet Jesaja bereits sprach, nichts anderes ist als das Evangelium, das den Empfängern des Briefes verkündet wurde:
Dies aber ist das Wort, das euch als frohe Botschaft verkündet worden ist. (1 Petr 1,25b)
Der Glaube an das verkündete Wort gibt den Christen zuverlässigen Halt; es ist das Fundament, auf dem sie ihr Leben aufbauen. Am Beginn des zweiten Kapitels wird der Brief das Bild von Christus als dem Grundstein und von der Kirche als dem geistigen Haus zeichnen, um von da aus im Hauptteil des Briefes (1 Petr 2,11-4,11) einzelne Lebenssituationen in den Blick zu nehmen und zu erläutern, wie sich das, was Kirche ihrem Wesen nach ist, auf den ganz konkreten Alltag der Christen auswirkt.