Nach dem Präskript, in dem – wie wir gesehen hatten – sich der Absender vorstellt und wir schon einiges über die Adressaten des Briefes erfahren können, wird der Hauptteil des Briefes, das "Briefcorpus", mit einer besonderen literarischen Form eröffnet, einer sogenannten "Eulogie". Diese umfasst die Verse 1 Petr 1,3-12 und hat ihren Namen vom ersten Wort des griechischen Textes her, das hier in der deutschen Übersetzung mit "gepriesen" wiedergegeben ist. Eine Eulogie ist also ein Lobpreis. Im griechischen Originaltext sind die entsprechenden rhetorischen Mittel, mit denen eine solche Eulogie gestaltet wird, recht gut erkennbar, und diese Form begegnet uns auch in vielen weiteren Briefen des Neuen Testaments; im zweiten Korintherbrief und im Epheserbrief ist der Anfang sogar wörtlich mit dem der Eulogie in 1 Petr identisch: "Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus" (2 Kor 1,3; Eph 1,3).
Im griechischen Original haben wir es bei diesem Lobpreis in den Versen 3-12 mit einem einzigen Satz zu tun, innerhalb dessen in ganz gedrängter Fülle und Dichte theologische Traditionen, Aussagen und Begriffe aufeinanderfolgen. Die deutsche Übersetzung hat – was der Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes geschuldet ist – die Eulogie in mehrere Hauptsätze unterteilt, so dass sich eine Gliederung in die Sinneinheiten V. 3-5, 6-9 und 10-12 anbietet. Die folgende Auslegung nimmt daher zunächst nur den ersten Teil des Lobpreises (V. 3-5), mit dem der Hauptteil des Briefes eröffnet wird, in den Blick:
3 Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns in seinem großen Erbarmen neu gezeugt zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, 4 zu einem unzerstörbaren, makellosen und unvergänglichen Erbe, das im Himmel für euch aufbewahrt ist. 5 Gottes Kraft behütet euch durch den Glauben, damit ihr die Rettung erlangt, die am Ende der Zeit offenbart werden soll.
Gottes Barmherzigkeit im Zentrum
In den Versen 3 und 4 erklärt Petrus (ich bleibe bei der traditionellen Verfasserangabe, auch wenn es gute Gründe gibt, seine Autorschaft historisch anzuzweifeln), was Christsein wesentlich ausmacht: Die Initiative liegt ganz allein bei Gott, nämlich in seinem "großen Erbarmen". Barmherzigkeit ist die Eigenschaft Gottes schlechthin, mit der die Heilige Schrift Gottes Hinwendung zu seiner Schöpfung, insbesondere zu den Menschen, ausdrückt. Der Begriff kommt um ein Vielfaches öfter vor als etwa "Gnade" oder "Liebe". Am häufigsten in der gesamten Bibel reden die Psalmen von Gottes Erbarmen, seinem Mitleid und seiner Barmherzigkeit. Im Neuen Testament sind es der Evangelist Lukas und der Apostel Paulus im Römerbrief, bei denen diese Eigenschaft Gottes besonders hervortritt. Und jedes Mal geht es um die Rettung, das Heil der Menschen – ein Begriff, der in dieser Eulogie dreimal fällt (V. 5,9,10).
Lukas und Paulus ergänzen sich in diesem Punkt gut, insofern als der Evangelist von Gottes Barmherzigkeit besonders häufig im Zusammenhang mit der Menschwerdung spricht, nämlich jeweils zweimal in den beiden neutestamentlichen "weihnachtlichen" Psalmen, dem Lied Marias (Lk 1,50.54) und dem Lied des Zacharias (Lk 1,72.78): Gott wird Mensch aus Mitleid! Auch die Verkündigung Jesu trägt bei Lukas in besonderer Weise den Akzent der Barmherzigkeit; das wird an den Gleichnissen vom Barmherzigen Vater (Lk 15) und vom Barmherzigen Samariter (Lk 10) deutlich, die ausschließlich in diesem Evangelium überliefert sind. Paulus dagegen spricht von der Barmherzigkeit Gottes, wenn er darüber schreibt, was Jesus durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung für uns bewirkt hat: die Versöhnung mit Gott, und damit das Heilen der Wunde, die Sünde und Tod in die menschliche Existenz gerissen haben. Der erste Petrusbrief steht theologisch in dieser paulinischen Tradition: "Durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten" bewirkt Gottes Erbarmen die "Neuzeugung" oder "Neugeburt" (V. 3), durch die ein Mensch Christ wird.
Christsein bedeutet den Beginn eines ganz neuen Lebens, das von Gott geschenkt ist und zuinnerst in der Auferstehung Jesu gründet.
Das zugrundeliegende griechische Wort kann beides, "zeugen" und "gebären", bedeuten. Damit ist hier sehr wahrscheinlich die Taufe gemeint, denn ähnliche Ausdrucksweisen finden sich auch in anderen neutestamentlichen Schriften, in denen die Taufe als "Geburt" bezeichnet wird, etwa im Brief an Titus, wo von der "Wiedergeburt" die Rede ist (Tit 3,5), oder im Römerbrief, in dem Paulus erklärt, warum und wie die Taufe uns in "die Wirklichkeit des neuen Lebens" (Röm 6,4) bringt; im Hintergrund steht auch das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus, in dem Jesus den Schriftgelehrten aus der Fassung bringt, indem er ihm erklärt, man müsse "von oben geboren werden", um in das Reich Gottes zu gelangen (vgl. Joh 3,3). Ob man nun mit "Neuzeugung" oder "Neugeburt" übersetzt – beide Begriffe stehen in gleicher Weise als Bild dafür, dass das Leben sich durch die Taufe nicht bloß mehr oder weniger ändert, sondern dass mit dem Christwerden ein ganz neues Leben beginnt, das so noch nicht da war. Paulus spricht darum sogar von "Neuschöpfung" (2 Kor 5,17; Gal 6,15).
Christliche Hoffnung ist Auferstehungshoffnung
Dass in 1 Petr an dieser Stelle von der "Neugeburt" die Rede ist, wird, zusammen mit anderen Passagen des Briefes, als Indiz dafür gesehen, dass der "Sitz im Leben" dieses Textes irgendwie in den Zusammenhang der Tauffeier gehört haben könnte. Dazu aber an anderer Stelle mehr. Wichtig ist hier zunächst der Gedanke: Christsein bedeutet den Beginn eines ganz neuen Lebens, das von Gott geschenkt ist und zuinnerst in der Auferstehung Jesu gründet. Dieses neue Leben wird nun konkreter gefasst: Es ist eine Geburt oder Zeugung "hinein in eine lebendige Hoffnung" (V. 3) und "hinein in eine Erbschaft" (V.4). "Hoffnung", so sagt es Paulus im ersten Thessalonicherbrief, ist das Unterscheidungskriterium zwischen den Christen und "den anderen, die keine Hoffnung haben" (1 Thess 4,13).
Christliche Hoffnung ist Auferstehungshoffnung – nichts anderes, nichts weniger. Das wird sehr deutlich, wenn Paulus den Christen in Korinth, bei denen der Auferstehungsglaube in eine Krise geraten war, scharf und kompromisslos schreibt: "Wenn wir allein für dieses Leben unsere Hoffnung auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen." (1 Kor 15,19) Nebenbei bemerkt: Vor einigen Jahren wurden die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, nach denen weniger als 30 Prozent der befragten katholischen und evangelischen Christen an die Auferstehung glauben.
In 1 Petr wird die Hoffnung der Christen als "lebendig" bezeichnet. An späterer Stelle im Brief werden die Christen selbst "lebendige Steine" (1 Petr 2,4f) genannt, und wieder in einem anderen Zusammenhang sagt der Brief, dass "das lebendige Wort Gottes" der Ursprung jeden christlichen Lebens ist (1 Petr 1,23). "Lebendigkeit" tritt in 1 Petr als Ausdrucksform des christlichen Daseins in Erscheinung.
Christliche Hoffnung ist dann lebendige Hoffnung, wenn sie in einem konkreten Bezug zu Christus steht, nämlich als Glaube an seine Auferstehung, die der Grund dieser Hoffnung ist.
Was ist damit gemeint? Hier könnte der Blick auf den neutestamentlichen Sprachgebrauch hilfreich sein, insofern als die griechische Sprache mehrere Wörter für "Leben" bietet und die Autoren des Neuen Testaments von dieser Differenzierungsmöglichkeit Gebrauch machen: Es gibt ein Wort für das biologisch-physische Leben und eines für das, was die Bibel das "Leben in Fülle" (Joh 10,10) nennt und von dem Jesu sagt: "Ich bin das Leben" (Joh 11,25; 14,6). Etymologisch gehört die Eigenschaft "lebendig" in 1 Petr diesem Leben an, das von Gott kommt und für das Jesus Christus steht. Das bedeutet für unseren Zusammenhang: Christliche Hoffnung ist dann lebendige Hoffnung, wenn sie in einem konkreten Bezug zu Christus steht, nämlich als Glaube an seine Auferstehung, die der Grund dieser Hoffnung ist.
Die Taufe führt die Christen nicht nur in eine ganz neue Hoffnungsexistenz hinein, sondern auch noch zu etwas anderem ganz Neuem: zu einer "Erbschaft" (V. 4), die ihnen vorher nicht gehörte, auf die sie vorher keinen Anspruch hatten. Diese Erbschaft ist "unzerstörbar, makellos und unvergänglich" und sie ist "im Himmel für euch aufbewahrt".
Christus als Kraft Gottes
Die Erbschaft hat ungewöhnliche Attribute, die besagen, dass sie anders ist als alles, was man normalerweise mit einem Erbe verbindet, denn dieses Erbe kann nicht erlöschen oder beschädigt werden. Und es handelt sich bei diesem Erbe nicht um eine unerwartete Überraschung; vielmehr wissen die Adressaten des Briefes darum, was es ist und wo es ist und vor allem, dass es "für euch" aufbewahrt ist. Dieser Dativ, "für euch", lässt sich sicher im Sinn von "extra für euch" verstehen; das wird später in V. 10 noch einmal eigens deutlich: Die früheren Verheißungen sind jetzt Wirklichkeit geworden, für die Empfänger des Briefes. Sie, die Christen, spielen deshalb in der Geschichte dieser Welt und für diese Welt eine ganz bedeutende Rolle – auch das wird im Brief später genauer ausgeführt. Zugleich steht das eigentliche Ziel aber noch aus, die "Rettung, die am Ende der Zeit offenbart werden soll" (V. 5).
Von dieser Zukunft her, das wird in den folgenden Versen 6-12 angesprochen und im gesamten Brief dann entfaltet, wird das gegenwärtige Leben der Christen bestimmt und der Sinn von allem, was dazugehört, erschlossen. Das Leben in der Gegenwart steht unter dem Schutz der "Kraft Gottes", und zwar "durch den Glauben". Die "Kraft Gottes" ist hier wohl mit Paulus personal zu verstehen: gemeint ist Christus, "Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Kor 1,24).
In diesen ersten drei Versen am Beginn des Hauptteils des Briefes setzt sich fort, was wir bereits beim Präskript beobachten konnten: Der erste Petrusbrief verwendet wichtige und geprägte theologische Begriffe in einer unglaublichen Fülle und Dichte. Dabei verknüpft er diese schwergewichtigen theologischen Aussagen von Anfang an mit der Lebenswirklichkeit der Adressaten des Briefes. Im nächsten Teil der Eulogie wird das noch um einiges deutlicher.