Der Beter von Psalm 28 sieht ein Desaster auf die Gesellschaft zukommen, in der er lebt, eine Katastrophe, die Teile dieser Gesellschaft selbst verschuldet haben. Er findet es durchaus gerecht und angemessen, dass sie ausbaden müssen, was sie verursacht haben. Er bittet aber, als Unschuldiger persönlich verschont zu bleiben von dem nahenden Unheil und bittet überhaupt für sein Volk als Ganzes.
Er gleicht einem Deutschen, der nach 1945 schwere Zeiten auf die Deutschen zukommen sieht und das auch für gerecht hält, damit das verblendete Volk endlich zur Besinnung kommt, der aber als Nazigegner nicht mithaftbar gemacht werden möchte und insgesamt doch für das Wohl seines Volkes betet.
Der Psalm entfaltet sich in drei Strophen: In den V. 1-2 ruft der Beter den Herrn an und bittet um Gehör für sein Anliegen. In den V. 3-5 trägt er seine Bitten vor: Zieh mich nicht hinein in das kommende Desaster, sondern lass es die Schuldigen treffen! In der dritten Strophe V. 6-9 dankt der Beter dem Herrn für die Erhörung, derer er nun sicher geworden ist.
1 Von David. Zu dir, Herr, will ich rufen: Mein Fels,
sei nicht taub vor mir, damit nicht, wolltest du schweigen vor mir,
ich denen gleich werde, die hinabsteigen in die Grube!
2 Höre auf die Stimme meines Flehens, wenn ich zu dir schreie,
wenn ich meine Hände erhebe zur Thronhalle deines Heiligtums!
Das Gebet will von David handeln, aber auch von jedem anderen, der in eine vergleichbare Situation gerät. Angesicht einer sicher bevorstehen Katastrophe wendet sich der Beter zuallererst an Gott um Hilfe und sucht nicht sonst irgendwo Zuflucht. Er nennt Gott einen "Felsen", auf dessen Anhöhe er Schutz finden will vor den herankommenden Unheilsfluten. Die Anhöhe soll ihn davor bewahren, in die Tiefe gezogen zu werden, was den anderen, den Schuldigen droht. Der Beter erhebt seine Stimme und seine Hände zu Gott hin, die Stimme, indem er laut zu Gott ruft, die Hände, indem er sie in Gebetshaltung ausstreckt zum Allerheiligsten des Tempels hin. Sein Geist und sein Leib beten zusammen. Der Beter ist in Jerusalem gedacht, wo David wohnte, vielleicht sogar auf dem Tempelareal, das er aufgesucht hat und wo er nun die Hände hilfesuchend zum Allerheiligsten des Tempels ausstreckt (1 Kön 6).
3 Zieh mich nicht hinein mit den Frevlern und den Übeltätern,
die von Frieden reden mit ihren Nächsten,
während Böses ist in ihren Herzen!
4 Gib ihnen nach ihrem Tun und nach der Bosheit ihres Treibens!
Nach dem Werk ihrer Hände gib ihnen!
Lenk ihr Vollbringen auf sie zurück!
5 Denn sie wollen nicht verstehen die Taten des Herrn
und das Werk seiner Hände, dass er sie niederreißen wird,
nicht aufbauen.
Sie glauben, sie kommen mit ihrer Heuchelei davon?
In der zweiten Strophe bittet der Beter nun, nicht hineingezogen zu werden in die schlimmen Folgen des Tuns der Schuldigen. Das Wort "(hinein)-ziehen" gebrauchte Ps 10,9 von einem Jäger, der sein Opfer mit dem Fangnetz wegzieht. Er will nicht mit den Schuldigen mitgezogen werden. Sie sind Heuchler, die damals und jetzt erst recht unschuldig daherreden, während ihre wirkliche Gesinnung ganz anders war und ist. Er bittet Gott, die Schuldigen nicht nach ihrer geheuchelten "Friedens"-Rede zu beurteilen, sie hätten es ja nur gut gemeint oder wären gar nicht wirklich dabei gewesen, sondern nach ihrer Tat. Sie sollen die Suppe selber auslöffeln, die sie allen eingebrockt haben.
Dieses Mal soll es wirklich die Verantwortlichen treffen und nicht, wie sonst zu oft, die Unschuldigen. Ihre "Taten und das Werk ihrer Hände" waren den "Taten des Herrn und dem Werk seiner Hände" immer entgegengesetzt. Der Beter unterstreicht den Gegensatz durch die Wiederholung derselben Wörter. Sie glauben, sie kämen mit ihrer Heuchelei davon? Das sollte nicht geschehen! Sie begreifen nicht, dass Gottes von ihnen selbst verschuldete Strafe über sie kommt. Nicht irgendwelche Verräter und Versager, Gott selbst reißt sie ein und lässt sie ihre Niederlage erleben.
Die dritte Strophe ist ein Lobpreis, der eingerahmt ist vom Wort "segnen" (= preisen) in V. 6 und 9:
6 Gesegnet sei der Herr,
weil er auf die Stimme meines Flehens gehört hat!
7 Der Herr ist mein Schutz und mein Schild,
auf ihn vertraute mein Herz und mir wurde geholfen.
Da jauchzte mein Herz, und mit meinem Lied will ich ihm danken:
8 Der Herr ist Schutz für sie
und rettende Schutzwehr für seinen Gesalbten!
9 Rette dein Volk und segne dein Erbe,
und weide sie und erhebe sie in Ewigkeit!
In V. 1 hatte der Beter gerufen: Höre auf die Stimme meines Flehens. Jetzt am Ende des Gebets hat er Sicherheit gewonnen, weil der Herr "auf die Stimme seines Flehens gehört" hat. Das Beten selbst hat ihn gestärkt. Er sieht jetzt klarer und ist sicherer geworden. Eingangs hatte er den Herrn als "Felsen" angerufen, der ihn vor den herankommenden Fluten in Sicherheit bringen soll. Jetzt stellt er fest, der Herr sei wirklich sein "Schutz und Schild" geworden, mit dem er die Gefahr abwehren konnte. Sein Herz hatte vertraut und kann jetzt jubeln (V. 7). Das Herz der Schuldigen war dagegen voll Bosheit (V. 3).
Danklied für die Errettung
Der Beter stimmt abschließend ein Danklied an, in dem er nicht nur für seine Rettung dankt, sondern für die aller anderen Geretteten in seinem Volk – einschließlich des Königs (von Israel). Im Munde Davids meint der "Gesalbte" ihn selbst. Vor allem aber geht es ihm abschließend um das ganze Volk, Israel, Gottes Erbe, das durch die Verbrechen einiger Leute nicht zur Gänze zugrunde gehen soll. Der Beter hofft, seine Fürbitte, das "Erheben seiner Hände" (V. 2) führe zur "Erhebung" seines Volkes (V. 9) auf den sicheren Felsen (V. 1), dass Gott sie erhalte, weide, ja in Ewigkeit schütze – sogar über den Tod hinaus.
Im Neuen Testament kommt Paulus in 2 Kor 10,13-15 auf dergleichen verlogene Heuchler zu sprechen, von denen der Psalmist geredet hatte, und zitiert in 2 Kor 10,15 den Ausdruck "nach ihren Taten" aus Ps 28,4. Paulus ist sicher, dass sie ernten werden, was sie gesät haben. Auch die Johannesoffenbarung verweist in 20,12.13 zweimal auf Psalm 28, wenn sie versichert, beim Endgericht werde allen "nach ihren Taten" vergolten.
Dass Jesus die Ansicht des Psalms teilt, erklärt er in Lk 10,13-15:
13 Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Wenn einst in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind – längst schon wären sie in Sack und Asche umgekehrt. 14 Doch Tyrus und Sidon wird es beim Gericht erträglicher ergehen als euch. 15 Und du, Kafarnaum, wirst du etwa bis zum Himmel erhoben? Bis zur Unterwelt wirst du hinabsteigen! (vgl. auch Mt 11,21-24)
Psalmen kann man nicht nur singen und rezitieren. Man kann und sollte sie auch meditieren und betrachten, denn das hilft, Gott, die Welt und sich selbst zu verstehen.