Psalm 29: Ehre sei Gott!Der Psalter als Buch des Messias

Jeder kennt die Erfahrung, dass etwas, das einst als Katastrophe erlebt wurde, sich im Nachhinein als Segen erweist. Das meditiert der Beter von Psalm 29.

Aufgeklappte Bibel / Psalmen
© Foto von Aaron Burden auf Unsplash

Psalm 28 hatte darum gebetet, dass ein bevorstehendes Desaster nur die Schuldigen treffen möge, nicht aber Unschuldige. Der richtende Gott möge sich in seinem Gericht auch als rettender zeigen. Psalm 29 meditiert nun Gottes Herrlichkeit, die sich oft wunderbar Leben schaffend zeigt, dann aber eben bisweilen auch so, dass alles vor Gottes Majestät vergehen muss, Gott als mysterium fascinosum et tremendum, ein Geheimnis, das fasziniert und zugleich erschauern lässt. Harmlos ist er jedenfalls nicht ("der macht nichts!").

"Der Herr ist Schutz für sie … Rette dein Volk!" hatte der Beter von Ps 28 am Ende des Psalms gesagt. Mit "der Herr wird machtvollen Schutz geben seinem Volk" im Schlussvers schließt sich Ps 29 an den Vorgängerpsalm an. Der Psalm besteht aus drei ungleichen Strophen. In den V. 1-2 werden Himmelswesen aufgefordert, Gott die Ehre zu geben. Mit siebenfachem "die Stimme des Herrn" bilden die V. 3-9a die große mittlere Strophe, die ein Schauspiel auf Erden besingt. V. 9b-11 kehrt am Schluss in die himmlischen Sphären zurück, wo Gott nun "Ehre" zugerufen und seinem Volk "Frieden" zugesagt wird: Ehre Gott in der Höhe und Frieden auf Erden den Menschen! (Lk 2,14).

1 Ein Instrumentallied von David.
Gebt dem Herrn, ihr Göttersöhne,
gebt dem Herrn Ehre und Macht!
2 Gebt dem Herrn die Ehre seines Namens!
Werft euch nieder vor dem Herrn
in der Majestät (seiner) Heiligkeit!

Besondere Form: "Treppenparallelismus"

Die Stichworte "Ehre" und "Macht" in den V. 1-2 und 3 sowie 9b.11 rahmen das ganze Gedicht. Die ersten beiden Verse sind der Aufruf an die überirdischen Mächte, Gott allein die Ehre zu geben, ihn zu verherrlichen. Das Gedicht ist ganz und gar israelitisch, klingt aber absichtlich immer wieder so, dass auch Kanaanäer, also Heiden, es in ihrer religiösen Sprache verstehen können. So ist die hier im ganzen Psalm immer wieder verwendete Form des "Treppenparallelismus" in Ugarit, einer reichen Handels- und Hafenstadt um 1300 v. Chr., bekannt:

Gebt dem Herrn, ihr Göttersöhne,
gebt dem Herrn Ehre und Macht!
Gebt dem Herrn die Ehre seines Namens!

Israeliten, die nur an den einen wahren Gott glauben, aber auch Kanaanäer, die El, Baal und andere Götter verehren, verstehen dieses Lied, seine treppenartige Form und seinen Inhalt. Israeliten sehen in den Göttersöhnen Engelwesen, Kanaanäer aber niedere Götter unter dem Hochgott El. Am Ende will der Psalm auch denen, die nicht an den Herrn glauben, den Gott Israels als den Herrn aller Schöpfung und der wunderbaren Naturschauspiele in ihr nahebringen. Dabei redet der Psalm bewusst "ökumenisch", so dass auch Andersgläubige die biblische Botschaft verstehen können.

Die mittlere Hauptstrophe besingt nun das schauerlich-faszinierende Schauspiel eines Gewitters, das vom Mittelmeer zunächst östlich über den Libanon zieht, von da südwärts um Jerusalem herum nach Kadesch in die Negev-Wüste:

3 Die Stimme des Herrn über den Wassern, der Gott der Ehre hat losgedonnert, der Herr über den großen Wassern. 4 Die Stimme des Herrn ist voll Kraft, die Stimme des Herrn ist voll Majestät. 5 Die Stimme des Herrn bricht Zedern, zerbrochen hat der Herr die Zedern des Libanon. 6 Er ließ sie hüpfen wie ein Kalb, den Libanon und den Sirjon (Antilibanon) wie einen Wildstier. 7 Die Stimme des Herrn haut Feuerflammen. 8 Die Stimme des Herrn wird zum Gebären bringen die Wüste, zum Gebären wird bringen der Herr die Wüste von Kadesch. 9a Die Stimme des Herrn wird gebärfreudig machen Hirschkühe und hat Waldbäume abgeschält.

Durch die Naturgewalt den Schöpfer erkennen

Im Donner des Gewitters hört der Beter die Stimme des Herrn, der alles erschaffen hat. Das siebenfache "die Stimme des Herrn" lässt die fortwährenden Donnerschläge hören, dazu werden Blitze sichtbar in "Feuerflammen". Das treppenartige Zickzack der sprachlichen Form veranschaulicht das Zickzack der Blitze. Das Gewitter hebt im Westen über dem Mittelmeer an, zieht über den Libanon und Antilibanon und dann südwärts zur Wüste – im Kreis um Jerusalem herum. Kanaanäer kennen den Mythos vom achtfachen Donner und siebenfachen Blitz ihre Gottes Baal. Auch ihnen sagt das siebenfache Donnern des Psalms etwas über den Gott Israels: Er schafft das Wetter, nicht Baal. Der Beter schaut fasziniert und erschauernd, wie das Gewitter mächtige Libanonzedern zerbricht, Bäume abschält. aber am Ende bei aller Zerstörung dann doch auch die Wüste Kadesch fruchtbar macht, also Leben und Segen zurücklässt, so sehr, dass angesichts des vielen Grüns selbst die Tiere mehr Junge werfen, da die Nahrungsversorgung gesichert ist. Durch die Betrachtung des Naturschauspiels sieht der Beter des Psalms durch die Naturphänomene hindurch den Schöpfer im Hintergrund, dessen schaurig-schöne Heiligkeit durchscheint. Nach aller Zerstörung lässt er Leben und Segen zurück.

Die Schluss-Strophe kehrt dann wieder in den Himmelspalast zurück, in Gottes Thronsaal, wo die Himmelswesen nun rufen, wie sie eingangs aufgefordert wurden: "Gebt dem Herrn die Ehre!".

9b Dabei ruft in seinem Palast alles: "Ehre!" 10 Der Herr hat sich über der Flut gesetzt und es sitzt der Herr als König in Ewigkeit. 11 Der Herr wird machtvollen Schutz geben seinem Volk. Der Herr wird segnen sein Volk mit dem Frieden.

Die Kanaanäer glaubten, der Gott Baal habe die Wasser des Urchaos besiegt und danach die Schöpfung eingerichtet. Israel glaubt, Gott habe über den Urfluten (Gen 1,2) machtvoll die Welt ins Dasein gerufen. Das Gedicht bringt allen nahe, dass der Schöpfer über allem thront und die Kontrolle behält. Ihm gleitet nichts aus der Hand, mag die Welt auch noch so chaotisch aussehen. Das Gewitter hatte einen Kreis um Jerusalem gezogen. Im himmlischen Palast donnert alles "Ehre!", im irdischen Tempel hallt der himmlische Gottesdienst wider. Im Auge des gewaltigen Sturms – in Jerusalem – ist Frieden. "Frieden" ist nach allen Turbulenzen das letzte Wort des Psalms.

Gott bleibt auch im Chaos Weltenlenker

Der Schlussvers von Ps 29 klingt an das Ende von Ps 28 an. Tatsächlich ergänzt Ps 29 den Vorgänger und führt ihn inhaltlich fort: Der Beter von Ps 28 sah ein von Menschen verschuldetes Desaster herannahen und bittet für sich und sein Volk um Verschonung. Dabei sieht er in einem strafend zerstörerischen Eingreifen Gottes durchaus einen Sinn für die, die anders nicht zu belehren sind. Ps 29 versichert ergänzend, dass Gott noch im größten Chaos, das in der Welt ausbrechen mag, alles in der Hand behält, ja dass gerade dort, wo auf den ersten Blick nur Destruktivität wütete, im Nachgang doch unerwartet Neues erblüht, wie nach einem tobenden Gewitter in der Wüste.

Mehrere neutestamentliche Schriftsteller haben sich durch die Meditation dieses Psalms inspirieren lassen. In aramäischen Übersetzungen des hebräischen Psalms ("Targume") stand für "Göttersöhne" in V. 1 "Engelscharen". Lukas lässt die Engelscharen auf den Feldern von Betlehem mit Ps 29 singen: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden (den Menschen)!" (Lk 2,14)

Die Offenbarung des Johannes nimmt den siebenfachen Donner aus Ps 29 auf:

[Ein Engel] setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken auf das Land 3 und rief laut, so wie ein Löwe brüllt. Nachdem er gerufen hatte, erhoben die sieben Donner ihre Stimme. 4 Als die sieben Donner gesprochen hatten, wollte ich es aufschreiben. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel her rufen: Versiegle, was die sieben Donner gesprochen haben; schreib es nicht auf! 5 Und der Engel, den ich auf dem Meer und auf dem Land stehen sah, erhob seine rechte Hand zum Himmel. 6 Er schwor bei dem, der in alle Ewigkeit lebt, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, die Erde und was darauf ist, und das Meer und was darin ist: Es wird keine Zeit mehr bleiben, 7 sondern in den Tagen, wenn der siebte Engel seine Stimme erhebt und seine Posaune bläst, wird auch das Geheimnis Gottes vollendet sein; so hatte er es seinen Knechten, den Propheten, verkündet. (Offb10,2-7)

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