Psalm 29 hatte die Erscheinung Gottes im Gewitter als zugleich furchterregend und faszinierend beschrieben. Ps 30 führt das fort: Das Leben des Beters mit Gott lässt ihn oft tanzen, bisweilen aber auch zittern. Insgesamt ist Ps 30 ein Danklied.
Der Psalm besteht nach der Überschrift aus drei Strophen. Die erste Strophe (V. 2-4) spricht Gott im Du an. Der Beter fordert sich selbst auf, Gott für eine Rettung aus schwerster Krise zu danken. Die zweite Strophe (V. 5-6) fordert anderer Fromme auf, in den Dank einzustimmen ("ihr"), da sie die Erfahrung des Beters wohl auch kennen. Die dritte Strophe (V. 7-13) setzt die zweite fort, spricht aber Gott wieder im Du an. Sie erzählt nun ausführlich, worin die Krise bestand und wie sie endete.
2 Ich will dich hochleben lassen, Herr, denn du hast mich heraufgezogen
und hast meine Feinde keine Schadenfreude empfinden lassen über mich!
3 Herr, mein Gott, ich habe zu dir geschrien und du hast mich geheilt,
Herr, du hast heraufgeführt aus der Unterwelt mein Leben,
hast mich belebt, so dass ich nicht in die Versenkung absteigen musste.
Ein persönliches Magnificat
Der Beter singt Gott sein persönliches "Magnificat": Ich will dich erheben, dich hochleben lassen! Die Begründung ("denn") ist, dass Gott auch ihn erhoben hat, von unten nach oben gezogen. Denn er war schon "unten", offenbar sogar dem Tode nahe. Vermutlich war er schwer krank oder wirtschaftlich und sozial ruiniert, vielleicht durch Mobbing. Er war vielleicht dem physischen, ganz sicher aber dem gesellschaftlichen Tod sehr nahe. Sein Hauptproblem war jedenfalls schon damals nicht der direkte Schaden, den er erlitten hatte, sondern die Schadenfreude seiner Feinde, die ihn endgültig erledigt sehen wollten. Dazu hat nicht viel gefehlt. Aber Gott hat ihn im letzten Moment "heraufgezogen", "heraufgeführt", "geheilt", d.h. wiederhergestellt.
Nach der Selbstaufforderung zum Lob schließt er in der zweiten Strophe eine Aufforderung an andere Fromme an, sich ihm anzuschließen:
5 Singt dem Herrn, seine Frommen, und dankt zu seinem heiligen Gedächtnis!
6 Denn ein Augenblick (wird bestimmt) durch seinen Zorn, ein Leben durch sein Wohlwollen.
Scheint am Abend Weinen über Nacht bleiben zu wollen, kommt doch gegen Morgen hin Jubel auf!
Andere, die seinen Glauben teilen, fordert er nun auf, in sein Gotteslob einzustimmen, weil sie dieselbe Erfahrung kennen: Wie oft schien ein Problem unlösbar, eine Krise unüberwindlich! Und ebenso oft hat der Herr eine unerwartete Wende herbeigeführt. Die Gesinnungsgenossen sollen "zum heiligen Gedächtnis" des Herrn in den Dank einstimmen, d.h. die Rühmung Gottes verbreiten, der so wunderbar gehandelt hat. Sie sollen, wie der Beter selbst es gleich tun wird, ihre Erfahrungen zum Ruhm des Herrn erzählen. Der Beter tut dies nun selbst in der dritten Strophe, die so die zweite direkt fortsetzt:
7 Ich hatte gesagt in meiner (Selbst-) Sicherheit: "Niemals werde ich wanken in Ewigkeit!"
8 Herr, in deinem Wohlwollen hattest du für meinen Berg (auf dem ich mich oben befand) eine Schutzmacht aufgestellt.
Du verstecktest dein Angesicht – ich war geschockt:
9 "Zu dir, Herr, muss ich rufen, und zu meinem Herrn will ich um Gnade flehen!
10 Was wäre der Gewinn an meinem Blut, an meinem Abstieg in die Grube?
Wird denn Staub dir danken oder deine Wahrheit verkünden?
11 Höre, Herr, und gnade mir! Herr, sei ein Helfer für mich!"
12 Verwandelt hast du meine Klage in Tanz für mich,
hast aufgemacht mein Sackgewand und mich mit Freude gegürtet,
13 damit dich besinge (mein Ruf:) 'Ehre!' und nicht verstumme!
Herr, mein Gott, in Ewigkeit muss ich dir danken!
"Ewigkeit – danken" (V. 7 und 10), "Ewigkeit – danken" (V. 13) sind die durchgehenden Wörter, die diese Strophe bestimmen und auf die sie hinausläuft.
Schmerzlicher Prozess
Der Beter wähnte sich, gerade auch in seinem Glauben, einst sehr sicher. Es ging ihm gut, er hatte Erfolg. Er stand ganz oben. Er wusste sehr wohl, dass er dies Gottes "Wohlwollen" und seiner "Schutzmacht" verdankt. Und doch hatte er alles als Selbstverständlichkeit genommen und geglaubt, das werde jetzt für immer so bleiben. Er war ja ein Frommer. Beschützt einen der Glaube nicht vor schlimmen Erfahrungen, vor Verunsicherungen und echten Gefährdungen? Darauf hatte er sich verlassen. Aber so war es nicht. Sein Glaube hat ihn vor gar nichts bewahrt. Und die, die ihm schon immer gesagt hatten, ‚dein Glaube bringt nichts!‘ verzogen schadenfreudig ihr Gesicht. Gott ließ ihn hängen, "versteckte sein Gesicht". Für unseren Beter war das ein Schock. Hatte er nicht fest an Gott geglaubt? in Wahrheit hatte er an seinen "Gottesbesitz" geglaubt, geglaubt, er sei seines Gottes sicher.
In einem schmerzlichen Prozess, der von "Selbstsicherheit" (V. 7) über "Schock" (V. 8) und Trauer (V. 12) zu "Tanz" und "Freude" führte, musste er lernen, dass sein früheres Wohlergehen, dass Gottes damaliges Wohlwollen ihn zu einer falschen Sicherheit verführt hatten. Er glaubte, ihm könne nichts passieren, er werde "niemals wanken" (V. 7), weil er sich ja auf Gott verlässt und der ihm wohl will. Und dann plötzlich verbarg sich Gott und schien seine Hand zurückzuziehen. Zu wem sollte er rufen, wenn nicht zu dem, von dem er glaubte, er habe ihn hängen lassen? War Gott die Ursache seines Unglücks, konnte auch nur Gott es wieder wenden. Absichtlich nennt er "den Herrn" (V. 9a) "seinen Herrn" (V. 9b) – in der Hoffnung, dass er das immer noch ist, dass er sich auch jetzt noch für den Beter zuständig fühlt. Sollte Gott wirklich zulassen, dass er von ganz oben (V. 8: "Berg") nach ganz unten abstürzt (V. 10: "Grube")? Gott würde einen verlieren, der bisher Zeugnis für ihn abgelegt hat (V. 10).
Herr, sei ein Helfer für mich!
Langsam und zaghaft schiebt er sich selbst in V. 11 wieder vor Gottes Auge, damit das anscheinend abgewandte Gesicht (V. 8) ihn wieder in den Blick bekäme: "Höre, Herr!" (kein "mich"!). "Gnade mir!" (im Hebräischen nur ein angehängtes Suffix wie italienisch "aiutami!"), und schließlich: "Herr, sei ein Helfer für mich!" (ein eigenständiges Pronomen wie italienisch "per me"). Und urplötzlich machte er die Erfahrung, die er bei seinen Freunden auch als bekannt voraussetzt: Gottes gefühlte Abwendung, sein "Zorn" ist schnell vorbei. Die gefühlte Krise war im Rückblick eine kurze und schnell vergessene Angelegenheit. Wer kennt das nicht? Damals freilich wirkte sie, als ob sie nie vergehen wollte, daher die drohende Verzweiflung:
Denn ein Augenblick (wird bestimmt) durch seinen Zorn, ein Leben durch sein Wohlwollen. Scheint am Abend Weinen über Nacht bleiben zu wollen, kommt doch gegen Morgen hin Jubel auf! (V. 6)
Gott hat ihn tatsächlich wieder in den Blick genommen und wahrscheinlich gar nie aus dem Blick verloren. Gott hat wirklich an ihm gehandelt, sein Klagen in Tanzen verwandelt. Der scheinbar ferne und abwesende Gott, rückte ihm auf einmal wieder sehr nahe, um ihm sein Sackgewand, ein Zeichen der Trauer, auszuziehen und ihn neu einzukleiden mit einem Feiertagsgewand. Denen, die es mit unserem Beter nicht gut meinten, hat Gott die "Schadenfreude" über seinen endgültigen Untergang nicht gegönnt (V. 2), stattdessen dem Beter wieder wahre Freude geschenkt (V. 12).
Der Beter, der einst geglaubt hatte, er werde "in Ewigkeit" nicht wanken, will nun Gott "in Ewigkeit" danken. Er ist geheilt worden – nicht nur von der Krise, die ihn befallen hatte, sondern mehr noch von der falschen Sicherheit, wer sich einmal für Gott entschieden habe, sei vor jeder Gefahr gefeit. Er hat erkannt: Alles bleibt verdankt. Gottes Gegenwart bleibt unverfügbar. Darum ist "danken" sein letztes Wort. Nicht des Beters pausenloses Wohlbefinden ist entscheidend im Leben, sondern seine ununterbrochene Dankbarkeit gegenüber Gott. Das hat er durch die Krise gelernt.