Im Vorgängerpsalm 30 hatte der Beter gelernt, dass die Beziehung zu Gott nicht vor Krisen und Schwierigkeiten bewahrt, dass sie aber sehr wohl hilft, diese zu meistern. In Ps 31 nun meditiert er seine Erfahrung, dass Gott nicht nur in hellen Stunden nahe ist. Wie in Ps 30 wird auch in Ps 31 Gott zwölf Mal genannt: zehn Mal "der Herr" und zweimal "Gott". Das Gebet teilt sich in sechs Strophen, deren jede den "Herrn" gleich eingangs nennt.
Die erste Strophe (V. 2-5) hebt an mit "Zu dir, Herr, habe ich mich geflüchtet" und bestürmt den Herrn dann mit einer ganzen Serie von Aufforderungen ("lass mich entrinnen, neig dein Ohr, entreiß mich …"), den Beter zu retten. Mit der Abfolge "Schutz – Zuflucht (V. 3) – "Zuflucht" (V. 4) – "Schutz" (V. 5) umreißt der Beter in poetischer Form ("Chiasmus"), was er von Gott erwartet und erhofft. In welcher Not er sich befindet, wird noch nicht deutlich. "Dass ich nicht zuschanden werde!" in V 2 deutet nur an, dass er sich vor einem öffentlichen Scheitern fürchtet und zwar durch Feinde, wie V. 5 andeutet. In dieser ersten Strophe geht es noch nicht darum, wovor er Zuflucht sucht, sondern bei wem. Darum beginnt es so eindringlich mit "zu dir".
Gott befreit aus dem Würgegriff der Gegner
"In deine Hand will ich übergeben meinen Geist, hast du mich doch ausgelöst, Herr, wahrhaftiger Gott!" beginnt die zweite Strophe (V. 6-9). Anfang und Ende benennen die Alternativen: "In deine Hand" (V. 6) statt "in die Hand des Feindes" (V. 9). "Du hast mich doch ausgelöst" erinnert er sich und Gott an früher gemachte Rettungserfahrungen. Zugleich verbindet er seine persönliche Heilsgeschichte mit der Israels, das von Gott aus Ägypten "ausgelöst" worden war (Dtn 7,8; 9,26; 13,6; EÜ: "freigekauft"). Vertrauen andere, z. B. seine Feinde, auf irdische Machtmittel (V. 7), hält er sich betont an den Gott, der allein "wahrhaftig" und damit verlässlich ist (V. 8). Er ist sicher, Gott werde ihn auch dieses Mal aus dem Würgegriff seiner Gegner befreien, die ihm den Hals einschnüren (V. 8: "Bedrängnisse meiner Kehle", EÜ: "Ängste meiner Seele").
In der dritten Strophe (V. 10-14) bestürmt der Beter Gott nun mit seiner Not und stellt sie auch dar: "Gnade mir, Herr, denn mir ist eng!" Der Beter hat in der Vergangenheit einen Fehler gemacht. Das räumt er ein (V. 11). Aber dieser Lapsus wird nun von übelwollenden Leuten benutzt, den Beter zu mobben, in die Enge zu treiben. Das verursacht ihm nicht nur "Kummer" und "Seufzen" (V. 11), sondern zeigt psychosomatische Folgen: Er ist regelrecht krank geworden durch ihre Treibjagd. Sein Gram hat absteigend Auge, Kehle und Bauch krank gemacht (V. 10). Aber das ist noch nicht alles! Sein objektiv schlechter Gesundheitszustand und das Gerede seiner Feinde treiben ihn in den sozialen Tod. Seine Freunde wenden sich von ihm ab, Bekannte trauen sich nicht mehr, sich mit ihm sehen zu lassen (V. 12).
"Ich aber habe auf dich mein Vertrauen gesetzt, Herr!"
Dem Treiben seiner Feinde setzt der Beter in der vierten Strophe (V. 15-21) sein Gottvertrauen entgegen: "Ich aber habe auf dich mein Vertrauen gesetzt, Herr! Ich sagte: Du bist mein Gott!"
"Mein Gott" heißt mein Schutzgott, der für mich zuständig ist. Du warst immer mein Gott und solltest es auch jetzt sein! Meine Feinde solltest du als deine Feinde betrachten, denn sie vertrauen nicht auf dich!"
Mit sieben Bitten bestürmt er in V. 16-19 seinen Gott: "Entreiß! Lass leuchten! Rette! Dass ich nicht zuschanden werde! Zuschanden werden, erstarren und verstummen sollen sie"! Denn freche, hochmütige und höhnische Rede (V. 19) kann Gott nicht ertragen. Nachdem der Beter seinen ganzen Zorn hinausgeschleudert hat, beruhigt er sich in V. 20-21 und wird von einer plötzlichen Zuversicht erfasst. Der Gebetsprozess selbst beginnt, ihn zu verwandeln. er sieht seine Lage auf einmal in neuer Perspektive. Er gewinnt die Gewissheit, dass seine früher gemachten Erfahrungen mit Gottes Hilfe, sich auch dieses Mal bewähren werden.
Worauf gründet die Zuversicht? Sein Gebet hat ihn eine grundlegende Einsicht gewinnen lassen: "In deiner Hand sind meine Zeiten!" In Gottes Hand hatte er sich schon in V. 6 übergeben, sicher, dass sie ihn vor "der Hand des Feindes" (V. 9) bewahren wird. In Gottes Hand, so versteht er jetzt, ist er nicht nur, wenn es ihm gut geht, sondern auch dann noch, wenn er eine schwere Zeit durchmacht. "Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit/Wissenschaft" wird Paulus später schreiben (1 Kor 1,22). Wahrheit hätte ein Grieche der Antike niemals in der Geschichte gesucht. Die besteht aus lauter regellosen Zufällen. Wahrheiterkenntnis, die festen Boden unter die Füße gibt, suchten die Griechen nur hinter den Phänomenen.
Alle Zeiten des Beters sind in Gottes Hand. Und weil das so ist, weil auch des Beters Leidenszeiten in Gottes Hand sind, kann er von Gott eine Wende erhoffen, denn nichts ist Gottes Hand entglitten.
Dagegen die Juden wissen sehr wohl, dass Gott in der wechselvollen Geschichte bleibend Gültiges wirken kann. Ihre Versuchung ist allerdings, Gott nur hinter den leuchtenden Siegen zu vermuten, hinter Zeichen und Wundern. In Krisen und schweren Zeiten beschleicht sie leicht die Furcht, Gott habe sich abgewandt, sie fallen lassen. Unser israelitischer Beter wird aber nun plötzlich von der Erkenntnis erfasst, dass nicht nur die guten Stunden in Gottes Hand sind, sondern auch die schweren. Alle Zeiten des Beters sind in Gottes Hand. Und weil das so ist, weil auch des Beters Leidenszeiten in Gottes Hand sind, kann er von Gott eine Wende erhoffen, denn nichts ist Gottes Hand entglitten.
Gott ist auch in dunklen Zeiten nahe
Diese Einsicht lässt den Beter in der kurzen fünften Strophe aufjubeln (V. 22-23): "Gepriesen sei der Herr, denn wunderbar hat er mir seine Loyalität erwiesen in einer Belagerungsstadt". Der Beter hatte sich in seiner eigenen heimatlichen Umgebung belagert und von allen bedrängt gesehen, aber Gott, nur Gott hat zu ihm gehalten. "Ich aber hatte in meiner Bestürzung gesagt: Abgeschnitten bin ich, dir aus den Augen! Du jedoch hast gehört auf mein lautes Gnadenflehen, als ich schrie zu dir." In seiner Niedergeschlagenheit hatte er schon gefürchtet, Gott habe ihn aus den Augen verloren, der Kontakt zu Gott sei abgebrochen, abgeschnitten. Jetzt war er wieder sicher, dass Gott gerade auch in dunkler Zeit besonders nahe ist.
Und so wendet der Beter sich in der sechsten Strophe (V. 24-25) abschließend den Menschen um ihn herum zu: "Liebt den Herrn, all seine Frommen! Treue bewahrt der Herr, zahlt aber reichlich dem zurück, der hochmütig handelt." Wer beim Herrn Zuflucht sucht, wird nicht verlassen, sondern seine Treue erfahren. "Seid stark, dass Mut fasse euer Herz, alle, die harren auf den Herrn!" Der Beter will seine Erfahrung anderen weitergeben, damit auch sie in dunkler Stunde dort Hilfe suchen, wo sie allein zu finden ist. Das letzte Wort des Gebets ist "der Herr".
Jesus wusste auch in dieser dunkelsten Stunde, dass Gott nicht nur hinter seinen früheren Erfolgen stand, als alle seine Reden und seine Taten bewunderten, sondern auch jetzt, da er ganz unten angekommen war, bei ihm blieb.
Der Psalmist wird in Ps 71,1-3 seine Worte aus Ps 31,2-4 fast wortwörtlich wiederholen, weil sich eben sein Gebet Ps 31 bewährt hatte. In der Psalmenserie Ps 23–31 hatte der Beter immer wieder Gottes Nähe gesucht, wollte beim Tempel, bei Gott wohnen (Ps 24,3; 27,4-6), strebte zum Altar (Ps 26,6). Wirklich gefunden aber hat er diese Nähe Gottes erst, als er einsieht, von der Gewissheit ergriffen wird, dass seine Krisenzeiten den Kontakt zu Gott nicht unterbrechen, jedenfalls nicht von Gottes Seite her.
Nicht ohne Grund legt Lukas in 23,46 dem sterbenden Jesus ein Zitat aus Ps 31 in den Mund (V. 6): "In deine Hand übergebe ich meinen Geist!" Jesus wusste auch in dieser dunkelsten Stunde, dass Gott nicht nur hinter seinen früheren Erfolgen stand, als alle seine Reden und seine Taten bewunderten (Lk 4,22; 9,43; 11,14), sondern auch jetzt, da er ganz unten angekommen war, bei ihm blieb, denn "in deiner Hand sind meine Zeiten" (Ps 31,16), die hellen sowieso, aber gerade auch die dunklen.