Der recht lange Psalm 37 besteht aus drei Hauptteilen: Im Eingangs- und Schlussteil (V. 1-11 und V. 27-40) appelliert David mit einer Kaskade von Imperativen an den Kronprinzen oder den Messias (Lohfink), gewaltlos zu bleiben. Im Mittelteil (V. 12-26) fehlen Imperative, ja überhaupt Anreden: Der Psalmist räsoniert hier darüber, wie der Herr dafür sorgt, dass die Guten und Gerechten auf Dauer Erfolg haben, während die Bösen letztlich scheitern müssen, weil sie den Herrn gegen sich haben.
Die 15 Imperative (positive und negative) des ersten Teils und die sieben des dritten Teils ergeben zusammen 22 Aufforderungen Davids an den Sohn. Die Zahl entspricht der Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets. Tatsächlich ist der Psalm ein Alphabetpsalm ("Akrostichon"), der gewöhnlich mit je zwei Zeilen dem Alphabet von Aleph bis Taw entlanggeht. Solche Psalmen haben immer einen lehrhaften, "alphabetisierenden" Charakter.
Die 22 Aufforderungen geben dem Psalm etwas ausgesprochen Drängendes. In Qumran wurde Ps 37 eschatologisch-apokalyptisch verstanden, als Text von drängender Naherwartung: Jetzt herrscht große Drangsal, aber die Wende, die Gott herbeiführt, steht unmittelbar bevor!
Überlass die Überwindung der Bösen Gott!
Darum drängt David den Sohn, den künftigen König:
1 Erhitz dich nicht gegen die Bösewichter! Ereifere dich nicht …
2 Denn wie Gras werden sie schnell verwelken.
3 Vertrau auf den Herrn und handle gut! …
4 Ergötz dich am Herrn, so dass er dir gibt, was dein Herz erbittet!
5 Wälz auf den Herrn deinen Weg und vertrau auf ihn, dann wird er handeln!
David rät dem Sohn Davids: Überlass die Überwindung der Bösen Gott! Er wird handeln. Du brauchst nichts zu tun. Im Gegenteil:
8 Steh ab vom Zorn und lass die Wut! Erhitz dich nicht, sonst tust du gar noch Böses!
Gelassenheit in gewalttätiger Welt
Berechtigte, aber ins Leere gehende Wut ist nur Energieverschwendung. Ja, sie droht den Wütenden auf das Niveau der Gewalttäter hinabzudrücken. Dabei sind die Bösewichter, die der Psalmist im Auge hat, nicht solche, die dem Angesprochenen etwas getan hätten. Der Adressat der apokalyptischen Mahnrede ist nicht selbst Opfer dieser Bösen, sondern als künftiger König zuständig dafür, für Gerechtigkeit zu sorgen (V. 6). Dabei droht er freilich, die Geduld zu verlieren und gewaltsam vorgehen zu wollen. Davor warnt ihn David. Angesichts der Gewalttätigkeit in der Welt Gelassenheit zu wahren, ist nur dem möglich, der weiß, dass Gott letztlich alles in der Hand behält. Er kann plötzliche Wenden herbeiführen, wie den Zusammenbruch der scheinbar unbesiegbaren Imperien Assurs (605 v. Chr.), Babylons (539 v. Chr.), des Sowjetreiches (1989/92). Das verlangt Leidensbereitschaft und langen Atem, wie ihn die Märtyrer des 3. Reiches hatten, die wussten, dass sie, nicht das NS-Regime, auf der Siegerseite der Geschichte (= des Jüngsten Gerichts) standen.
9 Denn die Bösewichter werden gefällt werden.
Die aber auf den Herrn hoffen, werden das Land in Besitz nehmen.
10 Und nur noch wenig, dann ist kein Frevler mehr da.
Der ganze Duktus der V. 1-11 sagt: Konzentriere dich nicht zuerst auf die Bösen, so sehr sie sich auch in den Vordergrund schieben, sondern auf den Herrn, denn er ist der Herr der Geschichte!
Der Mittelteil V. 12-26 bedenkt nun in drei Schritten, wie der Herr die Gewalttäter auf Dauer scheitern lässt. Er beginnt mit der Erfolglosigkeit ihrer Gewaltanwendung, die nichts Dauerhaftes zu schaffen vermag (V. 12-17), bedenkt dann, dass der Herr die Wende schon im Blick hat (V. 18-20), und endet mit dem wirtschaftlichen Scheitern der Gewalttäter (V. 21-26).
Die Erfolglosigkeit der Gewaltanwendung der Bösen bedenken die V. 12-17:
12 Ersinnt ein Frevler gegen den Gerechten einen Hinterhalt und fletscht gegen ihn seine Zähne,
13 dann wird der Herr über ihn lachen, denn er hat gesehen, dass sein Tag [der Niederlage] eintreten wird.
14 Haben Frevler das Schwert gezückt …
15 Dann wird ihr Schwert in ihr eigenes Herz eintreten …
Das Sinnen des Gewalttäters ist ungeduldig und drängt zur Tat. Daher zeigt es sich sofort im Äußeren, im Mienenspiel, im Zähnefletschen. Gottes Haltung dazu ist ein souveränes, überlegenes Lachen – das ist seine Weise "die Zähne zu fletschen" – denn Gott hat Zeit und muss nicht ungeduldig sein. Er sieht das Scheitern des Bösen mit Sicherheit voraus. Das Böse geht an sich selbst zugrunde.
"Wie Gras werden sie schnell verwelken"
Über Litauens Hauptstadt Vilnius ragen auf einem Hügel drei weiße Kreuze empor, das Wahrzeichen der Stadt. Stalin ließ sie 1950 wegsprengen. 1988 wurden sie wieder aufgebaut und bestimmen wieder das Stadtbild. Stalin hatte die Macht, sie wegzusprengen. Er hatte aber nicht die Macht, das auch nur 40 Jahre dauern zu lassen. "Wie Gras werden sie schnell verwelken" (Ps 37,2). Auf Dauer erreichte Stalin nur die Stärkung des Widerstandswillens der Litauer. Der Triumph der Gewalttäter ist kurz, Geduld und Dulden (patientia et passio) sind auf Dauer überlegen und tragen längerfristig den Sieg über die Gewalt davon:
18 Der Herr kennt die Tage der Integren, und ihr Erbteil wird in Ewigkeit bestehen.
Nach der Darstellung des ökonomischen Scheiterns der Gewalttäter (V. 21-26) kehren im dritten Teil des Psalms (V. 27-40) die drängenden Imperative zurück:
27 Vermeide Böses und handle gut!
Zentral bei diesem guten Handeln sind Meditation und Gebet:
30 Der Mund des Gerechten wird Weisheit murmeln und seine Zunge wird von Recht reden.
31 Die Tora seines Gottes wird in seinem Herzen sein, seine Schritte werden nicht wanken.
Hat der Gerechte im Gebet stets Gott vor Augen, wird sein Handeln trittsicher sein. V. 31 ist der einzige im ganzen Psalm, in dem das Wort "Gott" vorkommt (sonst immer "der Herr"). Schriftbetrachtung wird ins Herz des Gerechten einsickern und damit Gott selbst in seinem Inneren herrschend werden. Die drängenden Imperative setzen sich fort:
34 Hoffe auf den Herrn und beobachte seinen Weg …!
Wie die Frevler gefällt worden sind, kannst du dann besichtigen. …
39 Aber die Rettung der Gerechten kommt vom Herrn,
ihrer Schutzwehr in der Zeit der Not.
40 Der Herr hat ihnen [früher] geholfen und sie entkommen lassen –
er wird diese [wieder] entkommen lassen vor den Frevlern
und wird sie retten, da sie sich zu ihm geflüchtet hatten.
Richtiges Gottvertrauen beflügelt
Gandhi hat mit Gewaltlosigkeit ein Imperium in die Knie gezwungen. Mandela hat mit Geduld und Leidensbereitschaft eine Diktatur überwunden. Im Rückblick auf die friedliche Revolution 1989 in Ostdeutschland soll Horst Sindermann (1973–1976 DDR-Ministerpräsident, 1976–1989 Volkskammerpräsident) gesagt haben: "Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet – nur nicht auf Kerzen und Gebete."
Der Triumph der Gewalttäter währt kurz, weil das Böse in sich keinen Bestand hat. Was der Gläubige braucht, sind Hoffnung und Zeit als "Pilger der Hoffnung" (Leitwort des Jubiläums 2025).
David hatte in Ps 37 den Sohn Davids belehrt "Ereifere dich nicht, harre auf den Herrn, er wird handeln!" Jesus, der Sohn Davids, nimmt sich die Mahnung zu Herzen und zitiert in seiner Bergpredigt Ps 37,11:
Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben (Mt 5,5).
Das auf den Herrn harrende Hoffen ist dabei keineswegs Untätigkeit, war es auch bei Gandhi und Mandela nicht. Ignatius von Loyola fasst die richtige Haltung des Gläubigen in den Scintillae Ignatianae 2 einmal so zusammen:
Dies sei die erste Regel bei allem, was zu tun ist: Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir und nichts von Gott abhinge. Dann aber verwende so alle Mühe darauf, als ob Gott alles allein und du gar nichts tun würdest!
Es klingt paradox und ist daher in der Überlieferung gerne verdreht worden. Ignatius meint Folgendes: Es ist falsches Gottvertrauen, sich aufs Sofa zu legen und mit verschränkten Armen zu sagen: "Gott, ich vertraue dir, mach du mal!" Richtiges Gottvertrauen beflügelt dich, macht dich erfolgsgewiss und daher aktiv und emsig. Dabei muss deine Emsigkeit aber getragen sein von einer großen Gelassenheit, die weiß: Am Ende kommt es ja doch so heraus, wie Gott es verfügt.