Der Psalm 38 besteht aus drei Strophen, die alle mit einer Anrufung des Herrn beginnen und zunächst fortfahren mit der Anrede im Du (V. 1-4; 10; 16). Es folgt dann jeweils der Übergang zu einer Ich-Klage, die das Leiden in der 3. Personen darstellt (V. 5-9; 11-15; 17-21). Das Gesamtgedicht schließt in V. 22-23 mit neuerlicher Anrede.
Es wird sich zeigen, dass die 1. und die 3. Strophe (V. 2-9; 16-23) das Gebet "jetzt" sind. Dagegen zitiert der Beter in der 2. Strophe (V. 10-15) ein Gebet, das er früher schon vor Gott gebracht hat, woran er Gott nun erinnert. Vielleicht deswegen ist der Psalm überschrieben mit "zur Erinnerung".
1 Ein Psalm von David zur Erinnerung
Die Überschrift "zur Erinnerung" kommt im Psalter außer bei Ps 38 nur noch in Ps 70 vor. Ps 70 ist die Wiederholung von Ps 40,14-18 innerhalb des Psalters, ruft jenes halbe Gebet also "in Erinnerung". Ähnliches tut unser Beter in Ps 38 in seiner 2. Strophe. Die Lutherbibel deutet den Ausdruck "zur Erinnerung" als ein Opfer und schreibt daher "zum Gedenkopfer". Ähnlich geht die Einheitsübersetzung vor, die "zum Weihrauchopfer" schreibt, weil in Lev 24,7 ein ähnlicher Ausdruck für ein Weihrauchopfer steht. Die Deutung ist umstritten.
2 Herr, nicht in deinem Ärger weise mich zurecht!
Und (nicht) in deiner Wut nimm mich in Zucht!
"Dein Pfeile sind niedergefahren in mich hinein"
Dem Beter geht es schlecht, und es wird immer schlimmer. Er weiß, dass er daran nicht ganz unschuldig ist. Er leugnet nicht seine "Sünde" (V. 4), "Verschuldungen" (V. 5), seine "Dummheiten" (V. 6). Er bestreitet auch nicht Gottes Recht, ihn dafür in Zucht zu nehmen, ihn mit pädagogischen Maßnahmen zur Umkehr zu bewegen. Er fleht Gott aber an, "nicht im Ärger, in Wut" zu strafen, d.h. im Affekt, in Maßlosigkeit und Unvernunft. Der Beter meint, Gott habe unterdessen das hilfreiche Maß überschritten.
3 Ja, deine Pfeile sind niedergefahren in mich hinein,
und niedergefahren ist gegen mich deine Hand.
4 Nichts ist unversehrt an meinem Fleisch angesichts deines Zorns,
nichts ist heil an meinen Knochen angesichts meiner Sünde.
Das pädagogische Ziel ist erreicht
Der Beter erfährt seinen schlimmen Zustand als Angriff von Gott her. Zunächst noch aus der Ferne ("Pfeil"), dann aus der Nähe ("Hand") kamen Gottes Schläge auf ihn nieder. Er ist wie einer, der die Folgen seines ungesunden Lebenswandels schrittweise spürt: zunächst als glimpflichen "Schuss vor den Bug", den er ignoriert, dann aber als schmerzliche Konsequenz. Vielleicht war es auch sein Geschäftsgebaren, dass ihn zunächst die Katastrophe erst nur streifen ließ, bis sie ihn dann voll traf. Inzwischen ist nichts mehr "unversehrt" und "heil" an ihm, sei es, weil er krank ist, sei es, weil sein wirtschaftlich-gesellschaftlicher Absturz ihn nun auch körperlich ruiniert. Der Beter will Gott sagen: Ich habe begriffen. Das pädagogische Ziel ist erreicht. Weitere Züchtigung würde zerstören, nicht belehren.
Der Beter stellt sich Gott vor Augen in allen seinen körperlichen Einzelheiten. Neun seiner Körperteile nennt er im Psalm: Fleisch, Knochen (V. 4.8), Kopf (V. 5), Lendenmuskeln (V. 8), Herz (V. 9.11), Augen (V. 11), Hals (nefesch auch "Leben", V. 13), Mund (V. 14.15), Fuß (V. 17). Ein zehntes Körperteil steht ganz am Anfang und gehört Gott: "deine Hand" (V. 3). "Hand" ist in der Bibel ein Symbol für Macht und Handlungsfähigkeit. In diesem Psalm hat nur Gott eine "Hand", der Beter nicht. Er hat nur leidende Körperteile. Er ist von oben bis unten machtlos und versehrt.
9 Ich bin erschöpft und zerschlagen über die Maßen.
Ich brüllte aus dem Stöhnen meines Herzens.
"Verlassen hat mich meine Kraft"
Unterdessen ist der Beter am Ende und kommt nun darauf zu sprechen, dass er Gott schon vor einiger Zeit angefleht habe, als sein Zustand noch nicht ganz so schlimm war. Die V. 10-15 zitieren das damalige "Brüllen" (V. 9).
10 Herr, (offen) vor dir liegt all mein Begehren,
und mein Seufzen ist dir nicht verborgen.
11 Mein Herz pochte, verlassen hat mich meine Kraft,
und das Licht meiner Augen, sogar von ihnen!, ist nicht mehr bei mir.
Der Beter legte Gott damals sein Problem vor. Sein Leiden war damals noch bei weitem nicht so schlimm wie jetzt: Herzrasen, Mattigkeit, Glanzlosigkeit der Augen. Der körperliche Verfall hatte begonnen, war aber noch nicht fortgeschritten. Was aber schon damals sofort begonnen hatte, waren die gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Schwächung:
12 Meine Lieben und meine Freunde wollen abseits stehen von dem,
was mich getroffen hat, meine Nächsten blieben in der Ferne stehen.
13 Dann haben mir Fallen gestellt, die mir nach dem Leben trachten,
und die mein Unglück suchen, reden Verderbenbringendes,
und Hinterhältigkeiten murmeln sie den ganzen Tag.
"Ich aber bin wie ein Tauber, höre nicht"
Sobald er nicht mehr der Gesunde und Erfolgreiche war, nahmen seine Mitmenschen Abstand von ihm. Dabei gibt es Abstufungen: Seine Allernächsten möchten am liebsten nicht in sein Problem hineingezogen werden, andere hielten sich sofort fern. Am deutlichsten kamen heraus, die, die ihm immer schon übelwollten. Sie tun alles, damit es nicht bei einer vorübergehenden Schwäche bleibt. Sie wollen seinen Ruin. Hinten herum hetzen sie, um sein Ende zu beschleunigen.
14 Ich aber bin wie ein Tauber, höre nicht,
und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftun kann,
15 und bin wie ein Mann, der nicht hört
und in dessen Mund nichts an Zurechtweisungen ist.
Er durchschaut genau, was läuft, kann aber nichts machen – gerade so als ob er es nicht mitbekäme. Er ist wehrlos, vielleicht ja auch gerade, weil er ja nicht ganz unschuldig ist.
Der Beter hatte von Anfang an diesen drohenden sozialen Tod mehr gefürchtet als seine körperliche oder wirtschaftliche Schwäche. Ihm schwante sofort, dass es auf die gesellschaftliche Vernichtung hinauslaufen könnte, darum schrie er zu Gott um Hilfe. Wenn Gott seinen pädagogisch gemeinten Schlag, seinen "Schuss vor den Bug" jetzt nicht beendete, behalten die Feinde und Neider des Beters recht, weil sie sagen können, Gott selbst habe den Beter vernichtet und damit ja auch verurteilt. Der Beter hatte damals nicht um Heilung gebetet, weil Krankheit nicht sein Problem war, auch nicht die beginnende körperliche Schwächung. Sein Problem waren die Mitmenschen, die das ausnutzen wollten. er fürchtete die soziale Vernichtung.
Mit V. 16 kehrt der Beter nach dem Zitat des damaligen Gebets wieder in die Gegenwart zurück und bittet um Gottes Einschreiten gegen die Feinde.
16, Ja, auf dich Herr, habe ich geharrt, du sollst antworten, Herr, mein Gott!
17 Ja, ich sagte: Dass ja nicht sich freuen können über mich,
die beim Wanken meines Fußes gegen mich großgetan haben!
"Ich, ich muss meine Schuld bekennen"
Da er wie ein Stummer geworden ist, der nichts gegen seine Feinde sagen kann, muss Gott antworten. Nur er könnte sie ins Unrecht setzen. Gott möge ihre Schadenfreude vereiteln, die sofort einsetzte, aber noch nicht zu ihrem Ziel gekommen ist, solange er nicht vollends erledigt ist.
18 Ich stehe kurz vor dem Erlahmen, und mein Schmerz liegt ständig (offen) vor mir.
19 Ja, ich muss meine Schuld bekennen, bangen wegen meiner Sünde.
20 Meine Feinde aber sind quicklebendig, sind stark geworden;
zahlreich wurden meine verlogenen Hasser.
21 Indem sie mir Böses für Gutes vergelten,
befehden sie mich dafür, dass ich Gutes verfolge.
Der Beter weist Gott darauf hin, dass Eile geboten ist. Er kann nicht mehr ("kurz vor dem Erlahmen"). Im Gegensatz dazu werden seine Gegner mit jedem Tag, den er darniederliegt, selbstsicherer und zuversichtlicher, ihr Ziel zu erreichen.
22 Verlass mich nicht, Herr! Mein Gott, halt dich nicht fern von mir!
23 Eile mir zu Hilfe, Herr, meine Rettung.
Nur Gott allein rettet
Der Herr soll sich als "mein Gott" zeigen, nicht als ihrer – und zwar so schnell wie möglich. "meine Rettung" ist das letzte Wort des Psalms, denn eine andere Rettung als Gott hat er nicht. Die Überschrift deutet den Psalm auf David, der – teils durch eigene Schuld (2 Sam 11-12), größtenteils nicht (Sauls Verfolgungen 1 Sam 19-26) – in vielerlei Bedrängnissen, Leiden und Anfeindungen war, aber immer auf Gott gebaut hat.
Lukas deutet den Psalm auf Jesu Passion, denn David ist Vorbild für den Sohn Davids. In Lk 23,49 schreibt der Evangelist: "All seine Bekannten aber standen in der Ferne" und zitiert damit Ps 38,12 in Anwendung auf Jesus, der schuldlos gelitten hat, aber die Verfehlungen seines Volkes, ja der Menschheit auf sich nahm.