Psalm 39 - Eine SterblichkeitsklageDer Psalter als Buch des Messias

Warum muss ich sterben? Davids Karfreitag: Er kapituliert vor dem Tod, den Gott über ihn verhängt hat. Denn anscheinend kann oder will Gott nichts zu seiner Rettung tun. Jesus sagt in Lk 24,44, sein Tod und seine Auferstehung seien "in den Psalmen" beschrieben. Das zeigt sich besonders deutlich in Pss 37–40.

Aufgeklappte Bibel / Psalmen
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Der Psalter als Buch des Messias: Psalm 38 - Klage über Mobbing und VerfallDer Psalter als Buch des Messias: Psalm 38 - Klage über Mobbing und VerfallHeute wollen wir Psalm 39 genauer betrachten. Der Psalm ist ein "von tiefer Verzweiflung und Enttäuschung eingegebenes Gebet" (Oeming). Darf man derart sarkastisch zu Gott reden? Die Bibel meint: Ja – wenn es nur ehrlich ist. Der Psalm besteht aus vier Strophen. Die erste Strophe V. 2-4 ist ein Selbstgespräch. Gott wird nicht angeredet und kommt auch nicht vor. Ab V. 5 wird der Herr angeredet – in drei Anläufen, die jeweils mit einer Nennung Gottes anheben: V. 5-7, 8-12, 13-14. In der zweiten Strophe V. 5-7 zitiert der Beter sich selbst mit einer Rede, die er früher an Gott gerichtet hatte. Mit "und nun" in V. 8 kommt er in die Gegenwart zu dem Gebet, das er jetzt an Gott richten möchte. Zunächst berichtet er von Früherem:

2 Ich hatte gesagt: Ich will bewahren meine Wege vor dem Sündigen mit meiner Zunge,
ich will verwahren meinen Mund mit einem Maulkorb, solang noch ein Frevler vor mir ist.
3 Ich bin verstummt zu Stille, ich schwieg – glücklos: war doch mein Schmerz dabei aufgerührt.
4 Aufglühte mein Herz in meinem Innern; bei meinem Wimmern entbrannte (jedes Mal) ein Feuer;
da redete ich mit meiner Zunge.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold …

Das Selbstgespräch ist passenderweise gerahmt durch "meine Zunge" in V. 2 und 4. Der Beter hatte sich einst angesichts seines Problems, das er noch nicht ausgesprochen hat, selbst zum Schweigen verpflichtet, hielt es aber nicht aus, weil es in ihm kochte. In der Antike bezeichnete man mit dem Wort, das hier mit "Maulkorb" wiedergegeben ist, ein Totenblech, mit dem man Leichen den Mund verschloss. Unser Beter hatte sich also entschlossen, sich wie ein schon Toter zu verhalten. "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold" galt auch in der Antike. Der Weise schweigt, so dachte zunächst auch unser Beter, aber es brach aus ihm heraus:

5 Lass mich wissen, Herr, mein Ende und das Maß meiner Tage, was es sei!
Ich will wissen, wie vergänglich ich bin!
6 Da: Nur handbreit hast du gemacht meine Tage, und meine Dauer – wie ein Nichts ist sie vor dir.
Nur ganz Windhauch ist jeder Mensch, wie er da steht.
7 Nur als Traumbild geht einher ein Mann, nur Windhauch ist, um was sie lärmen.
Man häuft auf und weiß nicht, wer es zusammenrafft.

Der Beter klagt bitter darüber, dass er nach einem kurzen, belanglosen Leben sterben muss, weil Gott das so über jeden Menschen verhängt hat. Die Rede ist gerahmt von dreifachem "wissen" in den V. 5 und 7: Lass mich das Unbegreifliche verstehen! Er klagt Gott an und wird dabei regelrecht sarkastisch: "vergänglich (hebr. chadel) und "Dauer" (chäläd) in V 5-6 bilden ein Wortspiel, "vergängliche Dauer" ist bereits ironisch. Zu mehr hat es eben nicht gereicht in Gottes Plänen für den Menschen. "Windhauch …, wie er da steht", standhaft stabiler Windhauch – noch so ein Sarkasmus. "Nur ganz Windhauch ist jeder Mensch" ist fast eine Art Refrain im Gedicht, hier in V. 6 und erneut in V. 12. Im Hebräischen ist "häbäl" (Windhauch) auch der Name "Abel" aus Gen 4, und "adam" (Mensch) ist auch der Name Adam aus Gen 4.

Ganz Abel ist jeder Adam

Der Dichter verweist also auf Gen 4, die Geschichte von Kain und Abel: Ganz Abel ist jeder Adam. Ein vorzeitig ungerecht Dahingemordeter (wie Abel), von Jugend an todgeweiht ist jeder Adam, jeder Mensch. Und wer ist schuld an dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit? Der Beter braucht es nicht auszusprechen, es ist auch so klar: Gott! In V. 7 zitiert der Beter höhnisch Gen 1,27. Dort heißt es vom Menschen, er sei als "Abbild Gottes" geschaffen. Unser Beter meint: Gottesbild? Ein Traumbild! Ein Trugbild ist die flüchtige Menschenexistenz! Der Mensch sammelt Güter, Wissen, Erfahrung, Beziehungen – alles für nichts. Mit dem Tod verschwindet alles wie ein Windhauch. Spurlos (Weish 2,1-5).

8 Nun aber: Was könnte ich erhoffen, Herr? Soll mein Harren dir gelten?

Nach dem Bericht über sein früheres Hadern kommt der Beter zur Gegenwart. Was kann er denn erhoffen, wenn sowieso alles nichtig ist?

9 Aus all meinen Rebellionen entreiß mich! Dem Spott des Toren setz mich nicht aus!
10 Ich bin verstummt, ich werde meinen Mund nicht mehr auftun, denn du hast gehandelt!
11 Entfern von mir deinen Schlag! Vom Angriff deiner Hand bin ich ganz fertig.
12 Mit Zurechtweisungen für Verkehrtheit hast du gezüchtigt einen Mann
und aufgelöst wie eine Motte, was ihm lieb ist. Nur Windhauch ist jeder Mensch.

Er erhofft nichts Positives. Verschon mich und lass mich in Ruhe! Das ist alles, was er noch von Gott erhofft. Wollte er in V. 3 noch wie ein Weiser schweigen aus eigenem Entschluss, so kapituliert er in V. 10 einfach nur, denn gegen Gottes Handeln kann man ohnehin nichts machen. Er appelliert auch nicht etwa an Gottes Erbarmen, sondern meint nur: Ich bin doch schon total fertig, also lass mich in Ruhe! Am Ende versteigt er sich gar dazu, Gott mit einer Motte zu vergleichen, die von innen her alles zerfrisst, was schön und brauchbar war. Nur Abel ist jeder Adam! "Das Menschenleben ist eine unerträgliche Farce mit ungerechtem Ausgang" (Böhler, Psalmen 1-50, 715).

"Blick weg von mir!"

"Hör mein Flehen, Herr!" eröffnet in V. 13 die resignierte Schlussbitte. Er bittet um nichts Inhaltliches, nur um Gehör. Der Schluss-Satz kommt noch einmal auf Gen 4 zurück:

14 Blick weg von mir, dass ich mich aufheitere, bevor ich gehe und nicht mehr bin!

Der Herr hatte damals auf Abels Opfer geblickt, auf Kains Opfer aber blickte er nicht (Gen 4,4-5). "Blick weg von mir!" schleudert der Beter Gott entgegen. Es ist ja bekannt, was einem blüht, auf den du blickst! Er wird binnen kurzem vorzeitig weggerafft wie Abel. "Ich gehe und bin nicht mehr" ist das letzte Wort.

Ps 39 schließt an die Pss 37-38 an und führt einen dort begonnenen Prozess fort. In Ps 37 hatte David seinen Sohn gemahnt, angesichts der Gewalt, die er um sich sieht, gewaltlos zu bleiben, stillzuhalten und Gott handeln zu lassen: 37,5: Vertrau auf ihn, er wird handeln! 7: Halt still vor dem Herrn und harre auf ihn!In Ps 38 kommt das Leiden über David selbst, und er sieht sich gezwungen, sich an seinen eigenen Ratschlag zu halten und zu verstummen: 38,14: Ich bin wie ein Tauber, höre nicht und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftun kann.

Gott hat gehandelt, der Beter verstummt

In Ps 39 kapituliert David vollends, verstummt und tut den Mund nicht mehr auf, denn Gott hat gehandelt – indem er nichts gemacht hat. 39,3:

Ich bin verstummt zu Stille … 8: Sollte mein Harren dir gelten? 10: Ich bin verstummt, ich werde den Mund nicht mehr auftun, denn du hast gehandelt.

Gott hat seinen Gesalbten nicht gerettet, er hat ihn hängen lassen. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" (Ps 22,2). Und dann auf einmal ohne jede Ankündigung jauchzt David im nächsten Psalm, zu Beginn von Ps 40 plötzlich auf:

2 Ich hoffte, ja ich hoffte auf den Herrn, und er neigte sich mir zu und hörte mein Schreien ...
3 er zog mich herauf aus der vernichtenden Grube …
4 und gab in meinen Mund ein neues Lied.

Der eben noch Hängengelassene wird von Gott aus der Grube gezogen. Dem eben noch resignierend Verstummten wird ein neues Lied in den Mund gelegt. Der Auferstandene sagt in Lk 24,44-45 zu den Elf:

Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht. … So steht es geschrieben: Der Christus wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen.

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