Am Beginn der Auslegung eines Bibeltextes stehen immer die sogenannten "Einleitungsfragen". Dabei geht es darum, so gut wie möglich die historischen Umstände und Zusammenhänge der Entstehung des betreffenden Textes zu klären. Im Blick auf einen Brief wären die wichtigsten Fragen: Liegt ein echter Brief vor oder ist die Briefform nur eine literarische Einkleidung? Wurde der Brief wirklich von der Person geschrieben, als die sich der Verfasser vorstellt? Was ist über die Adressaten des Briefes bekannt, und lässt sich mit Hilfe von äußeren und inneren Kriterien ein Zeitraum eingrenzen, innerhalb dessen der Text entstanden sein muss?
Beim ersten Petrusbrief kann man – nach über einem Jahrhundert intensiver historischer Forschung – in neueren Kommentaren die ernüchternde Erkenntnis lesen, dass sich die Fragen nach den Entstehungszusammenhängen dieser Schrift nur mit Vermutungen beantworten lassen. Ich möchte Sie, liebe Leserin und lieber Leser, wenigstens ein Stück weit in die Fragestellungen mitnehmen, die die historische Forschung an den ersten Petrusbrief stellt. Dazu befassen wir uns zunächst mit der Briefeinleitung, 1 Petr 1,1f:
Petrus, Apostel Jesu Christi, den erwählten Fremden in der Diaspora in Pontus, Galatien, Kappadokien, der Provinz Asia und Bithynien, von Gott, dem Vater, erkannt und durch den Geist geheiligt, um gehorsam zu sein und besprengt zu werden mit dem Blut Jesu Christi. Gnade sei mit euch und Friede in Fülle!
Ist der Brief überhaupt ein Brief?
Von seiner äußeren Form her erfüllt der erste Petrusbrief ganz und gar die Kriterien eines antiken Briefes: Er hat eine "klassische" Einleitung, das sogenannte Präskript, das den Absender, die Adressaten und eine Grußformel enthält und auf das dann der Briefinhalt folgt. Der Brief endet auch mit einer üblichen Schlussformel, dem Postskript, 1 Petr 5,12-14:
Durch Silvanus, den ich für einen treuen Bruder halte, habe ich euch kurz geschrieben: Ich habe euch ermahnt und habe bezeugt, dass dies die wahre Gnade Gottes ist, in der ihr stehen sollt. Es grüßt euch die mitauserwählte Gemeinde in Babylon und Markus, mein Sohn. Grüßt einander mit dem Kuss der Liebe! Friede sei mit euch allen, die ihr in Christus seid!
So klar diese formalen Merkmale zu erkennen sind, so unklar bleibt in der Forschungsdiskussion, ob es sich wirklich um einen echten Brief handelt oder vielleicht doch um eine altchristliche Homilie oder Katechese, die möglicherweise in den Zusammenhang der Taufe beziehungsweise der Osterliturgie gehört und nachträglich in die Briefform gebracht wurde. Hinweise auf den Taufzusammenhang werden uns im Lauf des Briefes begegnen.
Hat der Apostel Petrus diesen Brief verfasst und wenn nicht, was heißt das dann?
Noch schwieriger wird es im Blick auf die Frage der Autorschaft: Hat der historische Apostel Petrus diesen Brief geschrieben? Die meisten Forscher beantworten diese Frage mit einem Nein, und sie begründen ihr Urteil mit folgenden Hinweisen, die hier kurz skizziert seien, ohne allzu tief in die Diskussion über die Frage nach dem Autor des Briefes einzusteigen:
Im Postskript, also am Ende des Briefes wird als Ort der Abfassung die "Gemeinde in Babylon" (1 Petr 5,13) genannt. Einig ist man sich darüber, dass mit "Babylon" sicher nicht die Stadt am Euphrat, im heutigen Irak, gemeint ist, sondern dass es sich um eine Chiffre für die Hauptstadt des Imperiums handelt, um Rom. Mit dem Namen Petrus ist schon früh eine starke Rom-Tradition verbunden, die um das Jahr 95 n. Chr. in einem der ältesten außerbiblischen christlichen Texte, dem ersten Clemensbrief, erstmals explizit bezeugt ist (vgl. 1 Clem 5,1-49); diesem Brief entsprechend erlitt Petrus während der Regierungszeit des Kaisers Nero (54-68) den Märtyrertod in Rom. Die Chiffre "Babylon" für Rom kennen wir auch aus der Johannesoffenbarung (vgl. Offb 17f), allerdings wird in der Forschungsliteratur immer wieder darauf hingewiesen, dass alle Belege für diese Chiffre in jüdischen wie in christlichen Texten nicht vor dem Jahr 70 n. Chr., dem Jahr der Zerstörung Jerusalems durch die Römer, nachzuweisen seien. Für die Verwendung der Chiffre "Babylon" wäre der historische Petrus also gewissermaßen zu früh dran – ein Anachronismus in den Augen vieler Forscher!
Ein Urteil über die Sprachkompetenz des Apostels ist natürlich kaum möglich, aber immerhin wissen wir, dass seine Heimatstadt Betsaida hellenistisch geprägt war und sein Bruder Andreas einen griechischen Namen trug.
Ein weiteres Argument gegen die petrinische Verfasserschaft wird im Blick auf die Adressaten erhoben: Wir haben keine weiteren Quellen, die in irgendeiner Weise eine Verbindung des Apostels Petrus zu den im Präskript genannten Gebieten in Kleinasien und am Schwarzen Meer belegen. Eine Ausnahme stellt eine Notiz in der Kirchengeschichte des Eusebius aus dem vierten Jahrhundert dar, nach der Petrus durch diese Gegenden gereist sei; diese Nachricht gilt aber als nicht belastbar, weil man davon ausgeht, dass Eusebius hier vom ersten Petrusbrief abhängt (vgl. Eusebius, HE III 42). Welche Motivation hätte der historische Petrus gehabt, diesen Gemeinden zu schreiben? Der Brief selbst gibt wohl eine Antwort auf diese Frage – aber dazu später.
Dazu kommt weiter die Frage, ob Petrus die griechische Sprache hinreichend beherrschte, um solch einen Brief schreiben zu können. Ein Urteil über die Sprachkompetenz des Apostels ist natürlich kaum möglich, aber immerhin wissen wir, dass seine Heimatstadt Betsaida hellenistisch geprägt war, sein Bruder einen griechischen Namen trug, Andreas, und ein weiterer Jünger Jesu, Philippus, nicht nur einen griechischen Namen hatte, sondern sich offensichtlich mit griechisch-sprechenden Diasporajuden in Jerusalem verständigen konnte (vgl. Joh 12,20f). Am Schluss des Briefes (1 Petr 5,12) taucht der Name Silvanus als Schreiber des Briefes auf – vielleicht der Sekretär oder Dolmetscher. Ihn kennen wir als Begleiter des Apostels Paulus auf seiner zweiten Missionsreise (vgl. Apg 15,40-18,5) – durch griechischsprachige Städte!
Achtung, "Fälschung"...!?
Schließlich wird als Argument gegen den historischen Petrus als Autor angeführt, dass der Brief eine "fortgeschrittene", verschärfte Diffamierung und Isolation der Christen in der antiken Gesellschaft widerspiegle, was auf seine späte Abfassungszeit gegen Ende des ersten Jahrhunderts hinweise. Wie gewichtig dieses Argument ist, müsste mit einem Blick auf den Philipperbrief des Apostels Paulus geprüft werden, der neueren Datierungen zufolge in die zweite Hälfte der 50er Jahre gehört. Paulus bezeugt in diesem Brief nämlich nicht nur, dass er selbst "wegen des Evangeliums" im Gefängnis sitzt und sogar mit seinem Todesurteil rechnen muss (vgl. Phil 1,7.19f), sondern auch, dass die Christen in Philippi Bedrängnissen und Leiden aufgrund ihres Glaubens ausgesetzt sind (vgl. Phil 1,28-30).
Modernes Empfinden würde vermutlich "Fälschung!" unterstellen, in der Antike dagegen sah man in der Pseudepigraphie kein Verbrechen, sondern eher ein Gütesiegel für eine Schrift, die sich durch die Verfasserangabe in eine bestimmte Tradition stellen wollte.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es gibt gute, wenn auch nicht zwingende Gründe, den ersten Petrusbrief als sogenannte pseudepigraphe Schrift einzuordnen, das heißt, der Brief würde den Namen und die Autorität des Apostels Petrus benutzen, ohne dass der Apostel tatsächlich sein Verfasser wäre. Wenn diese Hypothese zutreffend ist, dann ist das im Neuen Testament kein Einzelfall. Modernes Empfinden würde vermutlich "Fälschung!" unterstellen, in der Antike dagegen sah man in der Pseudepigraphie kein Verbrechen, sondern eher ein Gütesiegel für eine Schrift, die sich durch die Verfasserangabe in eine bestimmte Tradition stellen wollte. Schon in der Alten Kirche wusste man, dass vermutlich nicht alle neutestamentlichen Texte tatsächlich von den Autoren stammen, deren Namen sie tragen.
Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des neutestamentlichen Kanons mit seinen 27 Schriften zeigt, dass die Verifikation des historischen Verfassers immer nur als zweitrangiges Kriterium für die Frage galt, ob ein Text dem Anspruch genügte, "Heilige Schrift" zu sein. Das entscheidende Kriterium nennt der Kirchenvater Hieronymus (4. Jh.) im Zusammenhang mit der Diskussion über die unklare Autorschaft des Hebräerbriefs und die damit verbundenen Vorbehalte, ihn als inspirierte Schrift anzuerkennen; sein Standpunkt in dieser Debatte: "Es ist völlig uninteressant, von wem der Brief nun stammt, wenn er nur von einem kirchlich gesinnten Mann geschrieben wurde und täglich in der gottesdienstlichen Lesung als heilige Schrift vorgelesen wird." (ep. 129,3)
So steht auch hinter dem ersten Petrusbrief die Autorität der Kirche, die dafür einsteht, dass dieser Text für die Christen aller Zeiten als Brief des Apostels Petrus Bedeutung hat. Wie wichtig die Verfasserangabe "Petrus, Apostel Jesu Christi" für die Adressaten des Briefes war und welche Relevanz die Gestalt des Petrus für die durch diesen Brief vermittelte Theologie hat, wird im Lauf der Auslegung deutlich werden.