Beten und MeditierenDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

In den Psalmen kommen Erfahrungen zur Sprache, die Menschen zuteilwurden, die ihnen zu denken gegeben und sie angesprochen haben. Sie erschließen eine Dimension der Wirklichkeit, die oft übersehen wird.

Bibel
© Pixabay

"Brot in der Wüste" – unter dieser Überschrift soll hier einmal wöchentlich die Bibel ausgelegt werden. Der Titel ist dem gleichnamigen Buch von Thomas Merton (1915–1968) entnommen: "Bread in der Wilderness". Darin ringt der Lehrer des geistlichen Lebens um einen vertieften Zugang zu den Psalmen. Als Student der Literaturwissenschaft in Dreißigerjahren in Cambridge und New York verstand sich Merton, wie viele seiner damaligen Altersgenossen, als Atheist. Doch nach und nach ging ihm auf, dass diese Lebensform zu kurz greift. Ihm wurden Erlebnisse zuteil, die seine scheinbar so sichere Einstellung: "Ich glaube an nichts" erschütterten. Er wurde ein Suchender. Im Alter von 24 Jahren ließ er sich im November 1939 in New York taufen: "Wie Berge fiel es von meinen Schulter! Finstere Nacht löste sich von meinem Geiste und ließ das Bild Gottes und seine Wahrheit ein!" (Der Berg der sieben Stufen [1948], Zürich 1985, 233).

Psalmen verstehen

Es war die Zeit des Aufbruchs vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Neue Erkenntnisse der Bibelwissenschaft machten auch vor den Toren der Katholischen Kirche nicht Halt. Eine über zweitausendjährige Gebetstradition sah sich vor neue Herausforderungen gestellt. Thomas Merton war inzwischen in einen der strengsten Orden eingetreten, in die Abtei Our Lady of Gethsemani der Trappisten im US-Bundesstaat Kentucky.

Schon bald zum Novizenmeister seiner Ordensgemeinschaft aufgestiegen, bestand eine seiner Aufgabe darin, junge Novizen in das Beten der Psalmen einzuführen – keine leichte Sache für jemanden, dem bereits in jungen Jahren mystische Erfahrungen zuteil geworden waren, und der sich nun mit Texten herumzuschlagen hatte, die "wenig oder nichts mit der Kontemplation zu tun zu haben" schienen. "Was haben Og, der König von Baschan, und Sihon, der König der Amoriter, der kontemplativen Seele, der anima sitiens Deum [der nach Gott dürstenden Seele] zu bieten? In vielen der Psalmen scheinen wir nicht zum Durst auf Gott, sondern zum Durst auf das Blut unserer Feinde aufgefordert werden" (Brot in der Wüste. Die Psalmen als Weg zur Kontemplation, München 2013, 48). Hier lag für Merton ein Problem, und so wundert es nicht, dass das erste Kapitel seines Buches die Überschrift trägt: "Das Problem: Kontemplation in der Liturgie".

Im Horizont dieses Problembewusstseins wollen wir uns zum Start der Reihe mit den Psalmen beschäftigen. Die Auslegungen richten sich sowohl an diejenigen, die schon seit vielen Jahren die Psalmen beten und mit ihnen vertraut sind, als auch an diejenigen, die sich erstmals auf dieses Abenteuer einlassen wollen. Wir werden uns mit einigen ausgewählten Psalmen beschäftigen, zugleich aber auch immer wieder größere Zusammenhänge erschließen.

Martin Luther hat den Psalter als eine "kleine Biblia" bezeichnet; damit ist gemeint, dass der Psalter in gewisser Weise die ganze Bibel in sich enthält. Wer in die Welt der Psalmen eintritt, findet den Schlüssel, der das Tor zur Heiligen Schrift öffnet. Neben dem Buch Jesaja ist der Psalter das im Neuen Testament am häufigsten zitierte Buch.

Die frühen Christen haben die Jesus-Geschichte im Lichte der Psalmen gedeutet. Sie sahen in diesen alten und geheimnisvollen Liedern verborgene Spuren, die auf Jesus und sein Schicksal verweisen. Wer die Psalmen betet und meditiert, so die Auffassung der frühen Christen, der lernt Jesus kennen; dem geht ein Licht auf und er versteht, dass alles so kommen musste, wie es geschehen ist (vgl. Lk 24,25–27).

Langsam lesen

Zu Beginn unserer Erkundungen in der Welt der Psalmen seien einige praktische Hinweise gegeben: Es empfiehlt sich, parallel zu den jeweiligen Auslegungen die Psalmen zu lesen und zu meditieren. Es gibt inzwischen ein reichhaltiges Angebot an guten Bibelausgaben. In der Katholischen Kirche wird die sogenannte revidierte Einheitsübersetzung zugrunde gelegt, in der Evangelischen Kirche die revidierte Luther-Übersetzung, in den reformierten Gemeinden die Zürcher Bibel. Darüber hinaus gibt zahlreiche Übersetzungen in so gut wie alle Sprachen der Welt.

Wir werden noch eingehend über die Art und Weise sprechen, wie man die Bibel lesen sollte, um sie zu verstehen. Schon hier sei gesagt, dass eine der ersten Regeln lautet: Langsam lesen! Das langsame Lesen bewirkt eine Vertiefung der Wahrnehmung. Diesen Prozess kann man dadurch unterstützen, dass man die Bibel in einer anderen Sprache liest, auf Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch oder wie auch immer. Man sollte sich über einen gewissen Zeitraum mit einer Übersetzung vertraut machen.

Natürlich kann man die Bibel auch in ihrer Originalsprache lesen, in Hebräisch oder Griechisch oder in einer ihrer ältesten Übersetzung in Latein. Wer die Möglichkeit dazu hat und die Gunst der Stunde ergreifen möchte, eine der alten Sprachen zu lernen oder seine schon länger zurückliegenden Kenntnisse aufzufrischen – das Lesen der Bibel ist eine wunderbare Gelegenheit dazu. Nicht nur unsere Seele, auch unser Gehirn wird dadurch trainiert, "wie dem Adler wird dir die Jugend erneuert" (Ps 103,5). So lässt sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Beten und Meditieren

Der Psalter ist eine Sammlung von 150 Psalmen. Sie werden in fünf Bücher unterteilt. Das dürfte kein Zufall sein, sondern den fünf Büchern der Tora entsprechen (Genesis – Exodus – Levitikus – Numeri – Deuteronomium).

Die meisten der Psalmen sind Gebete, also Texte, in denen Gott direkt angesprochen wird. Bei einer Reihe von Psalmen handelt es sich allerdings um Meditationen, das heißt um Texte, die über Gott sprechen und über ihn nachdenken. In einigen Psalmen vermischen sich beide Formen. Darin zeigt sich eine wesentliche Eigenschaft der Heiligen Schrift: In ihr kommen Erfahrungen zur Sprache, die Menschen zuteilwurden, die ihnen zu denken gegeben und sie angesprochen haben.

Maria gilt in der christlichen Tradition als der Archetyp des kontemplativen Menschen. Nach diesem Modell können wir die Psalmen verstehen.

Wenn mich etwas oder jemand anspricht, kann ich darauf antworten, kann ich darüber nachdenken und der Frage nachgehen: Was hat das zu bedeuten? Wie ist das zu verstehen? Was sagt mir dieses Ereignis? Ich kann in einen inneren oder äußeren Dialog eintreten. Im Neuen Testament wird erzählt, wie Maria eine Stimme hörte, die sie ansprach: "Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir." Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruße zu bedeuten habe (Lk 1,28–29). Diese Haltung des Nachdenkens und der Nachdenklichkeit ist bereits eine Form der Meditation. Etwas Überraschendes ist geschehen – Maria erschrak – und es löste einen Prozess des Nachdenkens in ihr aus. Aus diesem Nachdenken heraus entwickelt sich ein Dialog zwischen Maria und dem Engel.

Maria gilt in der christlichen Tradition als der Archetyp des kontemplativen Menschen. Nach diesem Modell können wir die Psalmen verstehen. Etwas Überraschendes bricht in das Leben eines Menschen oder eines Volkes ein. Wie ist das zu verstehen? Psalmen sind Texte, die aus solchen Erfahrungen heraus entstanden sind, Erfahrungen, die eine Dimension der Wirklichkeit erschließen, die oft übersehen wird. Ihr gilt es nach-zugehen und nach-zudenken. "Im sicheren Glück dacht ich einst: Ich werde niemals wanken. Herr, in deiner Güte hattest du mich auf einen sicheren Berg gestellt. – Doch dann hast du dein Angesicht verborgen. Da bin ich erschrocken" (Ps 30,8).

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt testen