"Brot in der Wüste" (Bread in the Wilderness) ist erstmals im Jahre 1953 erschienen und gehört zu den frühen Schriften Thomas Mertons (1915–1968). Im Jahre 2013 wurde es in einer neuen deutschen Übersetzung im Claudius-Verlag herausgegeben. Der Übersetzer, Bernardin Schellenberger, schreibt dazu in der Einführung: "Aus der Überzeugung heraus, dass dieses Buch über das kontemplative, ja mystische Verständnis der Psalmen tatsächlich immer noch, ja wieder aktuell ist, hat sich der Claudius Verlag entschlossen, es neu herauszugeben." In der neuen deutschen Übersetzung wird dem Titel des Buches der Untertitel: "Die Psalmen als Weg zur Kontemplation" hinzugefügt.
Das Problem
In der Tat ist das mystische Verständnis der Psalmen immer noch, ja wieder aktuell. Zwar hat sich in der Theologie und insbesondere in der Bibelwissenschaft seit den 1950-er Jahren enorm viel getan, doch die Frage nach dem Verhältnis von Psalmengebet und Kontemplation ist nach wie vor virulent. Thomas Merton nimmt in seinem Buch einen weiten Anlauf, um die Psalmen mit der Kontemplation zu verbinden; er tut sich schwer damit, obwohl er fest davon überzeugt ist, dass es möglich sein muss. Die Bibelwissenschaft hat seit dem II. Vatikanischen Konzil Wesentliches zu einem besseren Verständnis der Psalmen beigetragen; insbesondere im Kontext der kanonischen Exegese konnte gezeigt werden, dass der Psalter keine wahllose Zusammenstellung disparater Einzeltexte ist, sondern auch als ein Buch gelesen werden kann, das bei aller Vielfalt seiner Themen und literarischen Gattungen eine konsistente Theologie enthält. Doch die Fortschritte im Verständnis des Textes führen offensichtlich nicht von sich aus zu einem mystischen Verständnis der Psalmen im Rahmen der Kontemplation, das Thomas Merton anstrebt und das Bernardin Schellenberger als nach wie vor aktuell bezeichnet. Wo genau liegt das Problem?
Schauen
Es scheint darin zu liegen, dass es sich beim Verstehen von Texten und bei der kontemplativen Erfahrung um zwei unterschiedliche Aktivitäten des Bewusstseins handelt, zwischen denen es gewöhnlich keinen fließenden Übergang gibt. Die christliche Tradition weiß darum, da sie zwischen der Lektüre der Heiligen Schrift (lectio) und der Kontemplation (contemplatio) unterscheidet. Ein Blick auf die Biografie Mertons kann verdeutlichen, worin genau der Unterschied besteht.
Bereits vor seinem Eintritt in die Trappistenabtei Our Lady of Gethsemani in Kentucky im Jahre 1941 wurden Merton einige tiefe spirituelle Erfahrungen zuteil. Vor allem sie motivierten ihn, in einen kontemplativen Orden einzutreten. Er suchte nach einer Lebensform, die dem entsprach, was er geschaut hatte, um es tiefer zu verstehen. Doch was er dort fand, hatte – von Ausnahmen abgesehen – nicht viel mit dem zu tun, was ihm in seinen mystischen Erfahrungen an Erkenntnissen zuteil wurde. Im Kloster wurden viele Stunden am Tag die Psalmen gebetet, doch von Kontemplation konnte dabei keine Rede sein.
Um das Problem zu verstehen, empfiehlt es sich, die Struktur jener Erfahrungen genauer zu betrachten, die ihm vor seinem Eintritt ins Kloster zuteil wurden. Davon hat er in seiner berühmten Autobiographie "Der Berg der sieben Stufen", erschienen im Jahr 1948, Rechenschaft abgelegt. Einer der eindrücklichsten Berichte findet sich im letzten Teil seiner Autobiographie:
"Ich befand mich in der Franziskanerkirche in Havanna. Es war Sonntag […] Der Augenblick der Wandlung nahte. Der Priester erhob die Hostie, dann den Kelch. Als er den Kelch wieder auf den Altar gesetzt hatte, stand auf einmal ein Mönch im braunen Gewand mit dem weißen Strick vor den Kindern, und alle Kinderstimmen miteinander hoben an: 'Creo en Diós …' Da erwachte in meinem Innern ebenso plötzlich und bestimmt wie dieser Schrei, aber tausendmal lichtvoller, die Einsicht, die Erkenntnis, das Bewusstsein dessen, was eben auf dem Altare bei der Wandlung geschehen war: das Bewusstsein, dass Gott durch die Worte der Wandlung in einer Weise gegenwärtig war, in der Er auch mir angehörte. Irgendwie war diese Einsicht unwahrnehmbar. Und doch traf sie mich wie ein Donnerschlag. Ein so helles Licht erleuchtete mich, dass es mit keinem sichtbaren Licht verglichen werden konnte, und leuchtete so tief und zuinnerst in mich hinein, dass es jede geringere Erfahrung zunichte machte. Am stärksten aber packte mich dabei die Erkenntnis, dass dieses Licht in einem gewissen Sinne ein ‚gewöhnliches’ Licht war – ein Licht (und das benahm mir am meisten den Atem), das jedermann zugänglich war und nichts Außergewöhnliches an sich hatte. Es war das zur äußersten, plötzlichen Deutlichkeit vertiefte und vereinfachte Licht des Glaubens. Der Grund, warum mich dieses Licht so sehr blendete und überwältigte war, dass ihm keine Spur von Gefühl und Phantasie beigemischt war. Wenn ich es ein Licht nenne, so ist das eine Metapher, die ich erst lange nach dem Geschehnis verwende. Im Augenblick jedoch erdrückte mich jene Erkenntnis so sehr, dass sie alle Vergleiche und Metaphern entwaffnete und den ganzen Knoten der Bilder und Phantasmen, die wir naturgemäß zum Denken benötigen, durchschnitt. Sie drang über jede Erfahrung hinaus unvermittelt ins Herz der Wahrheit, als wäre eine plötzliche, unmittelbare Berührung zwischen meinem Verstand und der Wahrheit selbst, die sich wesenhaft vor mir auf dem Altar befand, hergestellt worden. Diese Berührung war keineswegs spekulativ und abstrakt; sie war konkret und erfahrungsbedingt und gehörte zur Ordnung der Erkenntnis, gewiss – aber noch weit mehr zur Ordnung der Liebe. [...] Es dauerte nur einen Augenblick; doch ließ es eine unaussprechliche Freude, einen reinen Frieden und ein stundenlanges Glück, das ich nie mehr ganz vergessen konnte, in mir zurück" (Der Berg der sieben Stufen. Autobiographie, Zürich u. a. 1985, 295–297).
Verstehen
Die Erfahrung, die Thomas Merton hier beschreibt, ist eine klassische Erleuchtungserfahrung. Das ist gemeint, wenn die (christliche) Tradition von Kontemplation spricht. Erfahrungen dieser Art durchziehen die Religionsgeschichte bis in die Gegenwart. Es gibt sie in allen Kulturen und Religionen. Aus den verschiedenen Deutungen dieser und ähnlicher Erfahrungen entstehen unterschiedliche Religionen. Die Art und Weise, wie Thomas Merton seine Erfahrung beschreibt, zeigt noch kein spezifisch christliches Profil. Die verwendeten Metaphern finden sich in der platonischen Tradition ebenso wie im Zen. Merton verstand sie im Kontext des christlichen Glaubens, was sich nicht zuletzt durch den situativen Kontext, die Wandlung während der Messe, nahelegte.
Auch seine bisherige Lebensgeschichte nach der Konversion zum christlichen Glauben wies in diese Richtung. Er hatte sich bereits mit christlicher Philosophie beschäftigt und wenige Jahre zuvor taufen lassen (1939). Ein Schlüsselwerk auf dem Weg zum christlichen Glauben war für ihn: Etienne Gilson, L’Esprit de la Philosophie médiévale. Aus diesem Buch gewann er die Erkenntnis, dass es eine übernatürliche Ordnung gibt. Später kam dann noch die entscheidende Einsicht hinzu, dass die übernatürliche Ordnung durch Erfahrung zugänglich ist. So war er vorbereitet, diese außergewöhnliche Erfahrung im Lichte des christlichen Glaubens zu deuten und den Weg, der sich ihm gezeigt hatte, weiterzugehen.
Doch was geschieht, wenn er sich auf eine religiöse Praxis (in einem Orden) einlässt, die mit der Tradition dieser und ähnlicher Erfahrungen nicht mehr vertraut ist? Wo es keine Kompetenz mehr gibt, wie mit derartigen Phänomenen umzugehen ist? Das war die Situation, die Merton in der Katholischen Kirche und den Ordensgemeinschaften seiner Zeit vorfand. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass sich viele spirituell Suchende jenen religiösen Traditionen zuwenden, die auf dem Feld derartiger Erfahrungen und Bewusstseinsstrukturen Kompetenzen aufweisen, die dem christlichen Mainstream abhanden gekommen sind. Hier stößt auch eine hochentwickelte Bibelwissenschaft an ihre Grenzen. Es wundert nicht, dass sich Merton in seinen späten Jahren dem Zen zuwandte, ohne jedoch seinen Orden und die Katholische Kirche zu verlassen. Ihm wurde klar, dass die Art und Weise, wie der christliche Glaube im Westen verstanden und gelebt wurde, defizitär war. Kurioserweise hatte ihn bereits vor seiner Taufe der indische Hindu-Mönch Dr. Bramachari auf dieses Defizit hingewiesen:
"Gewöhnlich gab Bramachari keine Ratschläge. Einen Ratschlag, den er mir gab, werde ich jedoch kaum wieder vergessen: 'Die Christen haben viele schöne mystische Bücher geschrieben. Die 'Bekenntnisse' des heiligen Augustinus und die 'Nachfolge Christi' müssen Sie lesen.' Von beiden hatte ich schon gehört. Aber er sprach in einer Weise davon, als sei er überzeugt, dass die meisten Amerikaner keine Ahnung von solchen Büchern hätten. [...] Eigentlich ist es komisch, dass ich mich mit meiner mystischen Lektüre spontan dem Osten zugewandt hatte, als hätte die christliche Tradition nichts oder nur wenig zu bieten. [...] Nun wurde mir die Rückkehr zur christlichen Tradition, zu Augustinus nahegelegt – durch einen indischen Mönch!" (Merton, Berg der sieben Stufen, 207).
Praktizieren
Was Merton Zeit seines Lebens im Orden und in der Kirche bewegte, beschreibt Bernardin Schellenberger so:
"Der Trappistenmönch Thomas Merton war ein Katholik, der die Tradition seiner Kirche in einer derartigen Tiefe auslotete, dass er auf das allen Konfessionen und Denominationen gemeinsame Grundwasser stieß und daraus schöpfte. Alle christlichen Richtungen laufen ja Gefahr, nicht bis auf dieses tiefe Grundwasser vorzustoßen und aus ihm zu trinken. […] Bis an sein Lebensende blieb es eines seiner großen Anliegen – paradoxerweise ausgerechnet im kontemplativen Kloster –, der Kontemplation mehr Raum zu verschaffen. Weit darüber hinaus ermutigte und inspirierte er mit seinem insgesamt über sechzig Büchern in den USA und weltweit nicht nur Mönche und Nonnen, sondern zahllose mitten im Leben stehende Menschen zur kontemplativen Vertiefung ihres Glaubens."
Die Lösung der eingangs genannten Problematik besteht darin, dass die Heilige Schrift und die Kontemplation ein und derselben Quelle entstammen: "Das Geheimnis der Kontemplation besteht darin, uns selbst ganz Gott zu schenken. Das ist zugleich auch das Geheimnis des Psalters. Gott will sich uns durch den Psalter schenken, wenn wir uns ihm [Gott] bei unserem Rezitieren der Psalmen ohne Vorbehalt schenken" (Merton, Brot in der Wüste, 79f).
Joseph Ratzinger hat diesen Gedanken, ebenfalls bereits in den 1950-er Jahren, so ausgedrückt: "Die Schrift ist geboren aus einem mystischen Kontakt der Hagiographen mit Gott, sie kann daher richtig verstanden werden wiederum nur auf einer letzterdings 'mystisch' zu nennenden Ebene" (JRGS 2, 518). Auch er wusste um die Verengungen, die sich in den christlichen Glauben aufgrund von Rationalismus und einer oberflächlichen Form von Frömmigkeit eingeschlichen hatten, wenn er im Vorwort zur Neuausgabe seines Klassikers Einführung in das Christentum im Jahre 2000 schreibt: "Die mystische Dimension des Gottesbegriffs, die von den Religionen Asiens als Anruf auf uns zukommt, muss deutlich auch unser Denken und unser Glauben bestimmen" (JRGS 4, 49f).