Mein wahres IchDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Mit dieser vorläufig letzten Folge zum Verständnis der Psalmen im Rahmen des kontemplativen Weges sollen noch einmal im Gespräch mit Thomas Merton, Johannes Tauler und Paulus der Unterschied zwischen Meditation und Kontemplation angesprochen und auf die sich daraus ergebenden anthropologischen und theologischen Konsequenzen hingewiesen werden.

Bibel
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Die Unterscheidung von Meditation und Kontemplation ist grundlegend für ein authentisches Verständnis des christlichen Glaubens. Zwar sind beide Formen spiritueller Praxis miteinander verbunden, doch sie dürfen nicht miteinander vermischt werden. Werden sie nicht unterschieden, geraten wir in ein Dilemma, insbesondere bei der Lektüre der Heiligen Schrift und beim Beten der Psalmen. Die Herausforderungen, vor die sich Thomas Merton nach seinem Eintritt in den Trappistenorden gestellt sah und die er in seinem frühen Werk "Bread in the Wilderness" ("Brot in der Wüste. Die Psalmen als Weg zur Kontemplation") durchdachte, legen ein beredtes Zeugnis davon ab.

"Die Meditation ist eine eifrige Tätigkeit des Verstandes (studiosa mentis actio)", so sagt es der Kartäuser Guigo II. in seiner Schrift "Scala Claustralium", "um mit Hilfe der eigenen Vernunft eine verborgene Wahrheit zu entdecken." Die Meditation geht auf natürliche Weise aus der lectio, dem Lesen der Heiligen Schrift, hervor und führt zur oratio, dem (Bitt-)Gebet. Wer jedoch hier stehen bleibt und aufgrund von Angst, Stolz oder falscher Bescheidenheit die in der Meditation und im Gebet angelegte Dynamik der Überschreitung nicht wahrnimmt oder abwürgt, gleicht einem Mann, der sein Haus auf Sand gebaut hat: "Als ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es ein und wurde völlig zerstört" (Mt 7,27).

Reines Gewahrsein

Wenn wir bei der Lektüre der Heiligen Schrift bei der Meditation verweilen und nicht in die Phase der Kontemplation eintreten, bleiben wir auf der Ebene des Verstandes und gelangen nicht auf jenen Grund, der allein Halt gibt und dem auch die Psalmen entspringen. Unser geistiges Leben bleibt unfruchtbar, weil das Samenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt. Die Tiefen des spirituellen Sinns der Heiligen Schrift können wir nur erfassen, wenn wir die Ebene unseres Verstandes übersteigen und in eine Form des Gewahrseins und der reinen Präsenz gelangen, die unserem Denken und unseren Ich-Aktivitäten voraus- und zugrunde liegt. Denn "hinter dem buchstäblichen Sinn" der Psalmen, so Thomas Merton,

"steckt nicht nur ein weiterer und verborgener Sinn, sondern auch eine völlig andere Wirklichkeit: das göttliche Leben selbst. Diesen 'Sinn' der Heiligen Schrift erfasst man nie, wenn man ihn bloß 'weiß'. Man muss ihn besitzen und leben. Man erkennt Gott nie voll und ganz, wenn man ihn nur mittels des Verstandes 'erkennt'. Wir erkennen ihn am besten dann, wenn er von unserem ganzen Sein Besitz ergreift und uns mit sich selbst vereint. Dann erkennen wir ihn nicht bloß gedanklich, sondern jenseits allen Denkens, in einem Kontakt der Liebe, in einer Erfahrung dessen, wer er ist, in einer Wahrnehmung, dass er und einzig er unser Leben ist und dass wir ohne ihn nichts sind. Es ist dann unsere Freude, nichts zu sein und zu wissen, dass er alles ist" (Brot in der Wüste, 193).

Nichts sein wollen

Genau das ist mit Kontemplation gemeint. Die größte Provokation dürfte in der letzten Aussage liegen: "Es ist dann unsere Freude, nichts zu sein." Wie kann das sein? Mehr noch: Widerspricht es nicht dem christlichen Glauben, nichts sein zu wollen? Erneut begegnen wir der grundlegenden Unterscheidung zwischen unserem empirischen Ich und unserem wahren Selbst. Der Dominikaner Johannes Tauler hat es so ausgedrückt:

"Wenn der Mensch in der Übung der inneren Einkehr steht,
hat das menschliche Ich für sich selbst nichts.
Das Ich hätte gerne etwas,
und es wüsste gerne etwas,
und es wollte gerne etwas.
Bis dieses dreifache Etwas in ihm stirbt,
kommt es den Menschen gar sauer an.
Das geht nicht an einem Tag und auch nicht in kurzer Zeit.
Man muss dabei aushalten,
dann wird es zuletzt leicht und lustvoll."

Nicht mehr ich lebe

Damit steht der Dominikaner und Lehrer des geistlichen Lebens in gut biblischer Tradition. Im Brief an die Galater rechtfertigt Paulus seine Theologie gegenüber den "unvernünftigen Galatern" (Gal 3,1) mit einem relativ ausführlichen Bericht über seine Erfahrung, die ihm auf seinem Weg nach Damaskus zuteil wurde: "Das Evangelium, das ich verkündet habe, stammt nicht von Menschen; ich habe es ja nicht von einem Menschen übernommen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi empfangen" (Gal 1,11f). Die Konsequenzen dieser Offenbarung hinsichtlich seiner eigenen Person beschreibt er im Anschluss an seinen Bericht so: "Ich bin mit Christus gekreuzigt worden. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,19f).

Die große Herausforderung, vor der der christliche Glaube heute ebenso wie zur Zeit des Apostels Paulus steht: Wie kann der Übergang von der Milch zur festen Speise gelingen? Wie kann der Glaube erwachsen werden? Viele Probleme, mit denen Paulus in seinen Gemeinden zu kämpfen hatte, hängen mit einem oberflächlichen, unreifen Verständnis des christlichen Glaubens zusammen. Im ersten Brief an die Korinther schreibt der Apostel: "Vor euch, Brüder und Schwestern, konnte ich aber nicht wie vor Geisterfüllten reden; ihr wart noch irdisch eingestellt, unmündige Kinder in Christus. Milch gab ich euch zu trinken statt fester Speise; denn diese konntet ihr noch nicht vertragen. Ihr könnt es aber auch jetzt noch nicht; denn ihr seid immer noch irdisch eingestellt" (1 Kor 3,1–3).

Das Erwachen des wahren Selbst

Thomas Merton, der seine Berufung darin sah, die verschütteten Tiefen des christlichen Glaubens in der Moderne wieder freizulegen, hat es so ausgedrückt:

"Die Kontemplation ist keine Funktion dieses äußeren Selbst und sie kann es nicht sein. Es gibt einen unaufhebbaren Gegensatz zwischen dem tiefen transzendenten Selbst, das nur in der Kontemplation erwacht, und dem oberflächlichen, äußerlichen Selbst, das wir gewöhnlich mit der ersten Person Einzahl bezeichnen. Wir müssen uns vor Augen halten, dass dieses oberflächliche ‚Ich‘ nicht unser wahres Selbst ist. Es ist vielmehr unser 'individuelles Sein' und unser 'empirisches Selbst', jedoch nicht die verborgene und geheimnisvolle Person, in der wir vor den Augen Gottes subsistieren. Das 'Ich', das in der Welt tätig ist, über sich selbst nachdenkt, seine eigenen Reaktionen beobachtet und von sich selbst redet, ist nicht das wahre 'Ich', das in Christus mit Gott vereint worden ist. Es ist bestenfalls die Umhüllung, die Maske, die Verkleidung dieses geheimnisvollen und unbekannten ‚Selbst‘, das die meisten von uns vor ihrem eigenen Tod überhaupt nie entdecken. Unser äußeres, oberflächliches Selbst ist nicht ewig, nicht spirituell. Es ist weit davon entfernt. Dieses Selbst ist dazu verurteilt, so vollständig wie der Rauch aus dem Kamin zu verschwinden. Es ist äußerst hinfällig und vergänglich. Kontemplation ist genau die Bewusstheit (awareness), dass dieses 'Ich' in Wirklichkeit 'nicht Ich' ist; sie ist das Erwachen des unbekannten 'Ichs', das jenseits aller Beobachtung und Reflexion liegt und nicht imstande ist, über sich selbst etwas auszusagen. Es kann nicht einmal mit der Gewissheit und unbedarften Selbstsicherheit des anderen Ichs 'Ich' sagen, denn es muss seiner innersten Natur nach in der Gesellschaft der Menschen, die von sich selbst und übereinander sprechen, verborgen, namenlos und unidentifiziert bleiben. In einer solchen Welt bleibt das wahre ‚Ich‘ sowohl unausgesprochen als auch unsichtbar, denn es hat zwar durchaus viel zu sagen – aber kein Wort davon handelt von ihm selbst" (Thomas Merton: Christliche Kontemplation. Ein radikaler Weg der Gottessuche, München: Claudius Verlag 2010, 31–32).

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