Psalm 11 – Gottes Angesicht schauenDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Eine Grundregel in der Kontemplation lautet: Nicht davonlaufen! Auch wenn es schwierig wird. Stand halten und den Blick auf Gott hin ausrichten. Genau das tut unser Beter in Psalm 11 – auch wenn ihm andere raten, die Flucht anzutreten. Der Beter von Psalm 11 hat erkannt: Bei allen Gefahren gibt es im Letzten nur eine sinnvolle Flucht – die zu JHWH.

Bibel
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Zuflucht beim HERRN

Der Beter hat eine Grundsatzentscheidung getroffen. Im Hebräischen besteht sie aus nur zwei Worten: "Bei JHWH habe ich Zuflucht gefunden" (V. 1). Doch einige aus dem Umfeld des Beters, die es gut mit ihm meinen, raten ihm dringend, ins Gebirge zu fliehen, denn jederzeit ist mit heimtückischen Angriffen von Frevlern zu rechnen; diese haben schon den Bogen gespannt, "um aus dem Dunkeln auf die zu schießen, die redlichen Herzens sind" (V. 2). Angesichts der allseitigen Gewalt droht das gesellschaftliche Leben in sich zusammenzubrechen. Da kann auch der Gerechte nichts mehr machen. Deshalb der dringende Rat, ins Gebirge zu fliehen, dorthin, wo schon David Zuflucht gefunden hatte vor Saul, als dieser ihm nach dem Leben trachtete (1 Sam 24,1.23). Der Beter wundert sich über den Ratschlag und hält an seiner Grundsatzentscheidung fest. Das Vertrauen auf JHWH ist für ihn alternativlos. Die Rede der Ratgeber geht bis einschließlich Vers 3:

Beim HERRN habe ich Zuflucht gefunden.
Wie könnt ihr zu mir sagen:
"Flieh ins Gebirge, Vogel!
Denn siehe: Die Frevler spannen den Bogen,
legen ihren Pfeil auf die Sehne,
um aus dem Dunkeln zu schießen
auf die, die redlichen Herzens sind.
Wenn die Grundfesten eingerissen werden,
was kann da ein Gerechter noch tun?"

JHWH – im Himmel und auf Erden

In der zweiten Strophe begründet der Beter seine Einstellung. Er entwirft ein Gegenbild: Mag alles wanken – JHWHs Richterstuhl steht. Mögen Frevler aus dem Dunkeln schießen – JHWH sieht es trotzdem. Ein Gerechter kann nichts mehr tun? Stimmt, wenn man nur Menschen vor Augen hat. Doch es gibt noch einen Gerechten, der sehr wohl etwas tun kann: JHWH. Er sieht alles und hat sein Urteil bereits gefällt. Wer Gewalt liebt, den hasst er. Und vor allem: Er wird etwas tun:

Der HERR ist in seinem heiligen Tempel,
der HERR – im Himmel steht sein Thron.
Seine Augen schauen,
seine Blicke prüfen die Menschenkinder.
Der HERR ist gerecht, er prüft.
Einen Frevler und einen, der Gewalt liebt, hasst seine Seele.
Er wird herabregnen lassen auf Frevler Klappnetze,
Feuer, Schwefel und sengender Wind ist ihr Becheranteil.
Fürwahr, gerecht ist der HERR, gerechte Taten liebt er.
Redliche werden schauen sein Angesicht.

Blickverengung

Der Beter durchschaut die Falle einer anthropologischen Blickverengung. Wer nur auf Menschen schaut, dem bleibt angesichts des alltäglichen Chaos nur die Möglichkeit zur Flucht – ins unzugängliche Gebirge. Die Ratgeber sehen sehr klar, was sich auf der Erde abspielt. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Doch ihr Ratschlag beruht auf einer defizitären Wahrnehmung. Eine wesentliche Dimension der Wirklichkeit blenden sie aus, nehmen sie gar nicht wahr, haben sie nicht auf ihrer Rechnung: JHWH, der im Himmel thront. Von dort sieht er alles, auch die, die im Dunkeln agieren. Doch der HERR thront nicht nur im Himmel, er ist auch auf der Erde, "in seinem heiligen Tempel".

Lässt der Vater im Himmel regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45), so Klappnetze doch nur über die Frevler (Vers 6). Klappnetze werden benutzt, um Vögel zu fangen. Es handelt sich um Netze, die in einen doppelten Holzrahmen gespannt werden. Kommen Vögel, um die ausgestreuten Köder zu fressen, löst sich der Klappmechanismus aus und der Vogel ist gefangen im Netz. Der Weisheitslehrer warnt den jungen Mann, bei einer Frau einzukehren, deren Mann auf Reisen ist: "Er ist wie ein Ochse, den man zum Schlachten führt, […] wie ein Vogel, der ins Klappnetz fliegt und nicht merkt, dass es um sein Leben geht" (Spr 7,23). In unserem Psalm lässt der HERR Klappnetze vom Himmel regnen, so dass die Frevler keinen Ort mehr finden, an dem sie sicher auftreten können.

Sich bergen beim HERRN

"Sich bergen (ḥasah) beim HERRN" ist ein typischer Ausdruck der Psalmensprache. Von der 37 Belegen des Wortes ḥasah begegnen allein 25 im Psalter. Das Wort bezeichnet die Grundhaltung der Hinwendung zum HERRN, des Sich-Bergens bei JHWH. Gewöhnlich erfolgt dies angesichts einer Gefahr. Bereits in Ps 7,2 hatte sich der Beter erstmals zu dieser Haltung bekannt: "HERR, mein Gott, zu Dir bin ich geflohen. Rette mich vor all meinen Verfolgern und entreiß mich!" In der Grundbedeutung des Wortes geht es um das Aufsuchen eines geschützten Raumes. Oft ist das ein schwer erreichbarer Fels, eine Burg oder auch der Tempel. Deshalb wird JHWH im Psalter oft mit einem schützenden Fels und einer Burg verglichen: "HERR, du mein Fels und meine Burg und mein Retter, mein Gott, mein Fels, bei dem ich mich berge (ḥasah), mein Schild und Horn meines Heils, meine Zuflucht" (Ps 18,3). Die räumliche Vorstellung des Schutzes wird auf JHWH übertragen: Die äußere Flucht auf einen schützenden Fels wird zu einer inneren Hinwendung zum HERRN: "Behüte mich, Gott, denn bei Dir habe ich mich geborgen (ḥasah)" (Ps 16,1).

Kontemplation

Die aus der Mitte der eigenen Existenz vollzogene Hinwendung zu Gott ist der Grundvollzug und die Grundhaltung der Kontemplation. Die Geschichte der christlichen Spiritualität macht uns darauf aufmerksam, dass diese Haltung der Einübung bedarf. Der Klassiker über die christlichen Kontemplation, die im 14. Jahrhundert in England entstandene "Wolke des Nichtwissens", spricht von einer Übungspraxis und beschreibt sie so: "Richte dein Herz voll Vertrauen und Liebe auf Gott. Verlange nur nach ihm und nach keiner seiner Eigenschaften. […] Bemühe dich entschieden, alle von Gott geschaffenen Wesen und was zu ihnen gehört zu vergessen. […] Kein anderes Tun wird dich selbst so sehr reinigen und läutern wie dieses" (3. Kap.). Mit den Worten des Psalms: "Ich habe den HERRN beständig vor Augen, weil er zu meiner Rechten ist, wanke ich nicht" (Ps 16,8).

Eine Grundregel in der Kontemplation lautet: Nicht davonlaufen! Auch wenn es schwierig wird. Stand halten und den Blick auf Gott hin ausrichten. Genau das tut unser Beter, selbst wenn ihm andere raten: "Flieh in die Berge!" – mag der Rat auch zu anderen Zeiten berechtigt sein (vgl. Mk 13,14).

Der Beter unseres Psalms hat erkannt, dass es hier um etwas sehr Grundsätzliches geht: Bei allen Gefahren gibt es im Letzten nur eine sinnvolle Flucht – die zu JHWH. Die Psalmen wissen zu berichten, dass das vorbehaltlose Vertrauen auf Gott eine Wirkung in Gang setzt: Ängste treten in den Hintergrund, Ruhe und Gelassenheit stellen sich ein: "Bei Gott allein wird ruhig meine Seele, von ihm kommt mir Rettung. Er allein ist mein Fels und meine Rettung, meine Burg, ich werde niemals wanken" (Ps 62,2f).

Gottes Angesicht schauen

Der Beter unseres Psalms verspricht sich von der Haltung des Gottvertrauens noch etwas anderes. Zwischen dem ersten und letzten Vers liegt ein interessantes Wortspiel vor: Die Worte "Zuflucht nehmen (ḥasah) [zu JHWH]" in Vers 1 und "(sein Angesicht) schauen" (ḥazah) in Vers 7 klingen im Hebräischen gleich. Im letzten Vers unseres Psalms kommt der Ziel- und Höhepunkt der Kontemplation in den Blick: das Schauen des göttlichen Angesichts, freilich ein Schauen, das jenseits aller Bilder und Vorstellungen zu verorten ist; das ist mit Contemplatio Dei, "Schauen Gottes", gemeint, wie der Autor der "Wolke des Nichtwissens" schreibt: "Wenn du hoffst, Gott in diesem Leben schauen und erfahren zu können, wie er ist, so kann dies doch immer nur in jener Wolke und Dunkelheit geschehen. Wenn du jedoch – wie ich dir geraten habe – eifrig übst, bin ich sicher, dass Gott in seiner Güte dir die selige Schau seiner selbst gewährt." Genau das erhofft der Beter unseres Psalms für alle, die redlichen Herzens sind: "Redliche werden schauen sein Angesicht" (Vers 7).

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