Psalm 12 – Die Macht des leeren GeredesDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Psalm 12 beklagt die Macht einer Rede, die nichts Wahres sagt, der es nur darum geht, Macht zu erlangen. Der Dichter bittet den HERRN, einzuschreiten und der verlogenen Rede ein Ende zu bereiten.

Bibel
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In der Mitte des Psalms steht eine Gottesrede.

Um sie herum lagern sich in konzentrischer Anordnung je zwei Strophen:

I. 2–3  An den HERRN gerichtete Bitte: "Rette, HERR!"

II. 4–5  "Abschneiden möge der HERR alle heuchlerischen Lippen!"

III. 6  Gottesrede: "Jetzt will ich aufstehen und Rettung bringen." 

IV. 7  Meditation über das reine Wort des HERRN

V. 8–9  An den HERRN gerichtete Bitte: "Du, HERR, wirst sie behüten."

Der Gottesname steht in jeder Strophe genau einmal, und zwar immer an zweiter Stelle im ersten Satz; nur in der mittleren Strophe steht er in der Mitte.

Die Rede der Mächtigen

In der ersten Strophe (V. 2–3) spricht der Dichter JHWH direkt an: "Rette, HERR!" Es folgt eine doppelte Begründung: "denn zu Ende ist es mit dem Frommen, denn verschwunden sind die Treuen unter den Menschen." Der folgende Vers sagt, was vor sich geht: "Falsches reden sie, ein jeder mit seinem Nächsten, mit heuchlerischer Lippe, mit doppeltem Herzen reden sie." Die Verbform drückt ein andauerndes Geschehen aus.

In der zweiten Strophe (V. 4–5) spricht der Beter von JHWH in 3. Person und äußert den Wunsch, dieser möge die Quelle des Übels beseitigen: "Abschneiden möge JHWH alle heuchlerischen Lippen, die Zunge, die groß daherredet." Was sagen denn die Großredner? "Durch unsere Zunge verschaffen wir uns Macht. Unsere Lippen sind mit uns. Wer ist Herr über uns?" Sie möchten keine Inhalte vermitteln, und schon gar nicht geht es ihnen darum, Wahres zu sagen. Ihre Rede ist "leer" und trügerisch (schaw). Wer den Gottesnamen "zum Trug" (schaw) ausspricht, den lässt JHWH nicht ungestraft, heißt es im zweiten Gebot des Dekalogs (Ex 20,7; Dtn 5,11). Das achte Gebot verbietet die Falschaussage "gegen deinen Nächsten" (Dtn 5,20). Den Großrednern geht es nur darum, sich mit ihrem Reden Macht zu verschaffen, um ihre Interessen durchzusetzen. Niemand kann sie daran hindern: "Wer ist Herr über uns?" "Für uns" ist ihr letztes Wort. "Die Welt der Lüge ist eine Welt des Kampfes um die Macht. Und der Wille zur Macht steckt nach den Worten des Psalms auch hinter der 'glatten Lippe' oder 'Zunge'" (Robert Spaemann, Meditationen eines Christen. Über die Psalmen 1–52, Stuttgart 2014, 95).

Gott spricht

In der dritten Strophe spricht JHWH (V. 6). Das Verbum "reden" (dabar) wird im Psalm nur mit den Großrednern verbunden, JHWH redet nicht, er spricht ('amar). Seine Worte stehen genau in der Mitte des Psalms. Sie bilden den denkbar schärfsten Kontrast zum Gerede der Mächtigen: "Wegen der Unterdrückung der Schwachen, wegen des Stöhnens der Armen stehe ich jetzt auf", spricht JHWH, "ich will Rettung bringen dem, der danach verlangt." Was JHWH zum Eingreifen bewegt, ist die Unterdrückung der Schwachen. Die Macht des leeren Geredes hat offensichtlich Opfer hervorgebracht. Diese sind verstummt, sie sind verschwunden (V. 2). Für sie schreitet JHWH jetzt ein.

In der vierten Strophe (V. 7) meditiert der Dichter über "die Worte des Herrn". Sie sind von allen Schlacken befreit, reines Silber: "Die Worte JHWHs sind lautere (reine) Worte, Silber, geschmolzen im Ofen, von Schlacken gereinigt siebenfach." "Gottes Wort glänzt und gleist nicht nur wie Silber, es ist pures Edelmetall. Nichts darin ist unecht. Genau darin ist es vollkommen verschieden vom rhetorischen Gerede der Menschen in V 1–5: Das glänzt nur und ist völlig wertlos" (Dieter Böhler, Psalmen 1–50, Freiburg 2021, 232).

Wie verhängnisvoll eine solche Entwicklung für eine Gesellschaft sein kann, zumal, wenn es der "redenden" Mehrheit nicht um die Wahrheit, sondern allein um die Macht geht, beschreibt der Dichter unseres Psalms. Er bekennt sich zu einem Gott, der die Spirale des Schweigens durchbricht, zu einem Gott, der spricht.

Gott handelt

In der letzten Strophe (V. 8–9) spricht der Beter wie in der ersten Strophe JHWH wieder direkt an, diesmal mit betont vorangestelltem "Du": "Du, JHWH, wirst sie behüten, wirst ihn bewahren vor diesem Geschlecht da, für immer – stolzieren auch ringsum Frevler einher, mag auch in Ansehen stehen die Gemeinheit bei den Menschen." Wen wird JHWH bewahren, wen wird er behüten? Vielleicht gibt es ja doch noch, entgegen der Aussage von Vers 2, den ein oder anderen Frommen und Treuen unter den Menschen; nur sind sie verstummt, sie sind unsichtbar geworden, weil die Frevler ringsum einherstolzieren und ihnen mit der Macht ihres Geredes die Stimme genommen haben. Doch JHWH sieht und hört sie.

Schweigespirale

Der Psalm beklagt ein Phänomen, das von der Politikwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann als Schweigespirale bezeichnet wird. Die Theorie besagt, dass Menschen soziale Isolation fürchten und deshalb ständig das Meinungsklima ihrer Umgebung beobachten. Wenn sie wahrnehmen, dass ihre eigene Meinung von der Mehrheitsmeinung abweicht, neigen sie dazu, ihre Ansichten weniger offen zu äußern, um nicht sozial isoliert zu werden. Dies führt dazu, dass die Meinung, die als vorherrschend wahrgenommen wird, noch dominanter erscheint, da Gegenmeinungen weniger geäußert werden. Es entsteht eine Spirale des Schweigens. Wie verhängnisvoll eine solche Entwicklung für eine Gesellschaft sein kann, zumal, wenn es der "redenden" Mehrheit nicht um die Wahrheit, sondern allein um die Macht geht, beschreibt der Dichter unseres Psalms. Er bekennt sich zu einem Gott, der die Spirale des Schweigens durchbricht, zu einem Gott, der spricht.

Die Diskurshegemonie ist oft das Ergebnis formeller und informeller Machtstrukturen innerhalb einer Gesellschaft, mit deren Hilfe bestimmte Gruppen und Institutionen ihre Sichtweise als universell gültig durchsetzen. So wird durch Sprache Realität konstruiert. Der biblische Monotheismus ist eine "anarchische Kraft", die derartige totalisierende Tendenzen erkennt und immer wieder durchbricht.

Diskurshegemonie

Es gibt subtile Formen rhetorischer Machtausübung. Derartige hegemoniale Diskurse bestimmen, welche Art von Sprechen, Denken und Argumentieren in der Öffentlichkeit als legitim und welche Themen als wichtig anzuerkennen sind. Die Diskurshegemonie ist oft das Ergebnis formeller und informeller Machtstrukturen innerhalb einer Gesellschaft, mit deren Hilfe bestimmte Gruppen und Institutionen ihre Sichtweise als universell gültig durchsetzen. So wird durch Sprache Realität konstruiert. Der biblische Monotheismus ist eine "anarchische Kraft" (Eckhard Nordhofen), die derartige totalisierende Tendenzen erkennt und immer wieder durchbricht.

Die verführerische Macht derartiger Herrschaftsdiskurse beklagt der Beter in Ps 73: "Sie reißen ihr Maul bis zum Himmel auf und lassen auf Erden ihrer Zunge freien Lauf. Darum wendet sich das Volk ihnen zu, das Wasser ihrer Worte schlürfen sie gierig" (Ps 73,8f). Hier wird uns eine Form dominanter Rede vor Augen geführt, die bei der Mehrheit des Volkes auf "gierige" Zustimmung stößt. Der Beter, der das wahrnimmt und darunter leidet, hat die verführerische Logik dieser Großredner durchschaut. "Darum ist Hochmut ihr Halsschmuck, wie ein Gewand umhüllt sie Gewalttat" (Ps 73,6). Angesichts des Erfolgs der Frevler jedoch ist der Beter zunächst hilflos. Beinahe wäre er selbst zu Fall gekommen: "Ich aber – fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wären ausgeglitten meine Schritte. Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich das Wohlergehen der Frevler sah" (Ps 73,3). Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich dem Druck der Mehrheit angeschlossen. Doch das wäre Verrat gewesen: "Hätte ich gesagt: ‚Ich will reden wie sie‘, siehe, ich hätte das Geschlecht deiner Kinder verraten" (Ps 73,15).

Kontemplation

Der Beter denkt nach (Meditation), kommt aber auf dieser Ebene nicht weiter: "Ich dachte nach, um dies zu begreifen, Mühsal war es in meinen Augen […] Schmerz bohrte mir in den Nieren." Die Wende erfolgt mit dem Eintritt in eine Gegenwelt, "in Gottes Heiligtümer" – so die wörtliche Übersetzung des hebräischen Ausdrucks (Ps 73,17). Im Anschluss an Weisheit 2,22, wo von den "Mysterien Gottes" gesprochen wird, versteht der Alttestamentler Diethelm Michel den Vers als Ausdruck des Gedankens an "eine mystische Versenkung in Gott". Auch Erich Zenger hält diese Auslegung für sehr plausibel. Er spricht von einer Gotteserfahrung, die dem Beter zuteil wurde (Erich Zenger, Psalmen 51–100, Freiburg 2000, 346f).

Die Krise, in die der Beter angesichts der Wahrnehmung eines Geredes, bei dem es um Macht und nicht um Wahrheit geht, gerät, überwindet er dadurch, dass er "in die Heiligtümer Gottes eintritt" (Ps 73,17). Er gelangt auf eine tiefere Ebene der Erkenntnis, eine Ebene, die sich dem gesellschaftlichen Druck mit ihren subtilen Formen der Selbstbehauptung entzieht. War er zuvor "ein Rindvieh ohne Einsicht" (Ps 73,22), wie er im kritischen Rückblick auf seinen früheren (Bewusstseins-)Zustand drastisch beschreibt, so ist ihm jetzt ein Licht aufgegangen: Er hat erkannt, dass ein Leben in der Gegenwart Gottes ihm die Kraft gibt, sich dem Druck derer zu entziehen, die "Böses reden und deren Herz vor bösen Plänen überläuft" (Ps 73,7f); denn sie, so ist der Beter überzeugt, "werden dahingerafft, nehmen ein Ende mit Schrecken" (Ps 73,19): "Ich aber – Gott nahe zu sein, ist gut für mich, Gott, den Herrn, habe ich zu meiner Zuflucht gemacht" (Ps 73,28).

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