Eine Grabinschrift
Mit Psalm 16 wird im Psalter erstmals ein Thema angesprochen, das bisher noch nicht ausdrücklich zur Sprache kam. Das deutet sich bereits in der Überschrift an: "Ein Miktam für David." Wahrscheinlich hat die griechische Übersetzung den Sinn dieses rätselhaften Wortes richtig erfasst, wenn sie mit: "Eine Steleninschrift für David" wiedergibt. Damit dürfte eine Grabinschrift gemeint sein, die David vor seinem Tod verfasst hat, wie Dieter Böhler mit guten Gründen annimmt (Dieter Böhler, Psalmen 1–50, Freiburg 2021, 271f). Den Zusammenhang mit Davids Grab lässt auch die Apostelgeschichte noch erkennen, wenn Petrus in seiner Pfingstpredigt bezüglich Psalm 16 auf das Grab Davids verweist: "Brüder, ich darf freimütig zu euch über den Patriarchen David reden: Er starb und wurde begraben und sein Grabmal ist bei uns erhalten bis auf den heutigen Tag" (Apg 2,29). Bis heute wird das Grab Davids in einem Gebäude unterhalb des Abendmahlssaales in unmittelbarer Nachbarschaft zur Benediktinerabtei Hagia Maria Sion (Dormition-Abbey) verehrt.
Der vorzeitige und der endgültige Tod
Der Psalm beginnt mit einer Bitte: "Bewahre mich, Gott (El), denn auf Dich vertraue ich". Mit diesen oder ähnlichen Worten beginnen gewöhnlich Klagepsalmen: "JHWH, mein Gott, auf dich vertraue ich. Rette mich vor all meinen Verfolgern und entreiß mich!" (Ps 7,2). Doch von Feinden und Krankheiten ist in Psalm 16 keine Rede. So fragt man sich, worin denn die Not des Beters besteht. Am Ende des Psalms wird deutlich: Es geht um den Tod am Ende eines erfüllten Lebens.
Mit Psalm 16 gelangen wir in eine theologie- und geistesgeschichtlich bedeutsame Zeit des Übergangs. In den Klagepsalmen geht es gewöhnlich um den plötzlichen und frühzeitigen Tod. Davor soll Gott den Beter bewahren. In Psalm 16 jedoch gelangt der Beter aus dem Rückblick auf sein bisheriges Leben, durch nächtliche Unterweisung belehrt, zu der Gewissheit, dass Gott ihn am Ende seines Lebens nicht der Unterwelt preisgeben wird.
"Auf Dich habe ich vertraut"
Die Eingangsbitte: "Bewahre mich, Gott" wird in der zweiten Strophe entfaltet (V. 7–11), die Begründung der Bitte: "denn auf Dich vertraue ich" in der ersten Strophe (V. 2–6). Die Begründung steht im Perfekt und kann auch mit "auf Dich habe ich vertraut / zu Dir habe ich mich geflüchtet" übersetzt werden. In der ersten Strophe erzählt David im Rückblick auf sein bisheriges Leben, wie er auf JHWH vertraut hat. Die biographische Erzählung beginnt mit einem Zitat:
V. 2 Ich sagte zu JHWH: "Mein Herr bist du! Mein Glück – und keiner außer Dir!"
Der Beter hatte sich vorbehaltlos JHWH anvertraut. Alles, was ein Leben lebenswert macht, "mein Glück" / "mein Gut", hatte er von JHWH erwartet und von niemandem sonst. In den folgenden Versen wird diese vertrauensvolle Hingabe an JHWH weiter entfaltet:
V. 3 Zu den Heiligen, die auf der Erde sind,
und den Herrlichen, an denen all mein Gefallen war (sagte ich):
V. 4 "Mehren sollen sich die Schmerzen derer,
die sich einem anderen anvertrauen.
Niemals werde ich ausgießen ihre Trankopfer von Blut!
Und niemals werde ich nehmen ihre Namen auf meine Lippen!
V. 5 JHWH, meiner Speise Anteil und meines Bechers,
Du wirst werfen mein Los."
Unklar ist, was in diesem Zusammenhang mit Vers 3 gemeint sein soll. Wer sind "die Heiligen auf der Erde"? Sind es die JHWH-Frommen wie in Ps 34,10: "Fürchtet JHWH, ihr seine Heiligen!" Oder sind die Heiligen "Göttersöhne" wie in Ps 89,7–8? Am plausibelsten erscheint, wenn man die Redeeinleitung von V. 2 bis einschließlich V. 3 weiterlaufen lässt. Dann sind "die Heiligen und die Herrlichen" andere Götter und Geistwesen (vgl. Dan 4,15; Ijob 5,1; 15,15), an denen der Beter einst Gefallen gefunden, denen aber abgeschworen hat. Deren Namen nimmt er nicht einmal mehr auf seine Lippen.
Die Abschwörung wird im folgenden Vers 4 zitiert. Die Hingabe an JHWH geht in der Bibel immer mit der Abwendung von anderen Göttern einher. Ein Glaube, der allen Göttern gerecht werden will, ist im Alten Testament ein Widerspruch in sich, denn JHWH ist ein "eifersüchtiger Gott" (Ex 34,14), er duldet keine anderen Götter neben sich; in diesem Sinne ist er intolerant und exklusiv; er schließt aus, nicht ein. Unser Beter hat sich zum Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs bekannt und sich im Alltag daran gehalten; anderen Göttern hat er weder geopfert (V. 4b), noch hat er sie mit ihrem Namen (im Gebet) angerufen (V. 4c; vgl. Ex 34,13); denen, die das tun, hat er Böses ("Schmerzen") gewünscht (V. 4a). Auch noch in nachexilischer Zeit (5.– 2. Jh.) übte die altorientalische und antike Götterwelt auf nicht wenige Juden eine Faszination aus (vgl. Jes 65,1–7; Ijob 31,26f; 1 Makk 1,43), die auch unseren Beter nicht kalt ließ ("an denen all meine Gefallen war"), der er dann aber doch entschieden widerstanden hat. Mit seiner ausdrücklichen Hinwendung zu JHWH ("Ich sagte zu JHWH: Mein Herr bist Du!") scheint er eine Art von Konversion durchlaufen zu haben.
In Vers 5 spricht unser Beter JHWH wieder direkt an. Während man den anderen Göttern und ihren Helfern Gaben geben muss ("Trankopfer von Blut"), ist es bei JHWH umgekehrt: Wer sich ihm anvertraut, wird reich beschenkt mit Speis und Trank. Mehr noch: Wie einst bei der Landverteilung unter Josua (Jos 18,6) wirft JHWH sein Los, das heißt: teilt ihm bebaubares Land zu, so dass er sich von der eigenen Hände Arbeit selbst ernähren kann.
Vers 6 erzählt, was aus dem damaligen Treueschwur geworden ist: "Die Messtricke sind mir gefallen auf köstliche (Äcker). Ja, das Erbteil ist schön für mich!" Unseres Beters Hoffnungen haben sich mehr als erfüllt. JHWH, auf den er alles gesetzt hatte ("mein ganzes Glück allein"), hat ihn nicht enttäuscht. – Was folgt daraus für die Zukunft? Mit dieser Frage befasst sich die zweite Strophe des Psalms (V. 7–11).
"Bewahre mich, Gott!"
Unser Beter leidet keinerlei Not. Doch eine Frage treibt ihn um: Wie wird es weitergehen? Die zweite Strophe beginnt mit einer Selbstaufforderung zum Lobpreis JHWHs. Und sogleich wird der Grund dafür hinzugefügt: "Preisen will ich JHWH, dass er mich beraten hat (V. 7a). Der folgende Vers sagt nun, wie diese Beratung stattgefunden hat und worin sie bestand: "Fürwahr, in Nächten haben mich unterwiesen meine Nieren" (V. 7b). Die Nieren bezeichnen das Innerste des Menschen, was seinem Denken und Wollen ("Herz") voraus- und zugrundeliegt (vgl. Ps 139,13); ebenso verweisen die Nächte, in denen die Unterweisung stattgefunden hat, auf einen Bereich, der dem menschlichen (Tages-)Bewusstsein vorausliegt. Aus dieser Tiefe des Unterbewusstseins (vgl. Ijob 4,13: "wenn tiefer Schlaf die Menschen überfällt") ist unserem Beter aus seinen bisherigen Erfahrungen, von denen er in der ersten Strophe berichtet hat, eine erstaunliche Erkenntnis gekommen: "Ich habe hingestellt JHWH vor mich beständig, wenn er nun an meiner Rechten ist, werde ich nie wanken" (V. 8). Im Unterschied zum Frevler, der sein ganzes Vertrauen auf sich selbst gesetzt und gesagt hat: "Ich werde nie wanken!" (Ps 10,6), hat unser Beter ganz auf Gott gesetzt.
Diese Einsicht löst bei ihm eine tiefe Freude aus: "Darum freut sich mein Herz und jubelt meine Ehre. Fürwahr, mein Fleisch wird wohnen in Sicherheit" (V. 9). Da der Beter weder von Feinden noch von Krankheiten bedroht wird, sondern noch ganz in "der Ehre" seines Lebens steht, stellt sich die Frage, welche Sorge ihn umgetrieben hat. Im folgenden Vers spricht er es offen aus: "Denn Du wirst nicht preisgeben mein Leben der Unterwelt, Du wirst nicht zulassen, dass einer, der Dir vertraut (‚Dein Frommer‘), die Grube sieht" (V. 10). Unser Beter hat ganz und gar auf JHWH vertraut (V. 1). Dieser hat ihn in seinem bisherigen Leben reich beschenkt (V. 2–6). Jetzt lässt er ihn etwas für seine Zukunft erkennen: "Du lässt mich erkennen den Weg des Lebens, Sättigung an Freuden vor Deinem Angesicht, Köstlichkeiten in Deiner Rechten für immer" (V. 11). Der Vers zeichnet "die Vision, dass der Weg des Lebens nicht im Tod an sein Ende kommt, weil die mit Gott gelebte Gemeinschaft auch durch den Tod nicht zerstört werden kann" (Erich Zenger [Hossfeld], Die Psalmen [NEB], Würzburg 1993, 113).
Ewiges Sein bei Gott
Die Not, die unser Beter zur Sprache bringt, ist die Sterblichkeit seines blühenden Lebens. "Er hatte für sein (irdisches) Leben ganz und gar auf JHWH gesetzt und mit Erfolg (V. 2–6). Aus dieser innigen, 'mystischen' Gemeinschaft […] dämmert ihm langsam eine Erkenntnis. Aus vorbewussten Ahnungen (‚Nieren‘) steigt sie auf in sein Bewusstsein ('Herz'): Seine Gottesgemeinschaft wird auch durch den sicher kommenden Tod nicht zerstört" (Böhler, ebd. 280). Mit dieser Hoffnung auf ein ewiges Leben bei Gott gehört der Psalm sicherlich in die Spätzeit des Alten Testaments (vgl. Dan 12,2.13; Weish 3–5; 2 Makk 7).
In seiner Pfingstpredigt hebt Petrus darauf ab, dass David hier nicht von sich selbst gesprochen haben könne, da er ja im Grabe verwest sei (Apg 2,29–31). Vielmehr habe er als Prophet die Auferstehung Christi vorausgesagt. Dem Argument liegt die griechische Übersetzung von Vers 10 zugrunde: "Denn Du gibst meine Seele nicht der Unterwelt preis, noch lässt Du Deinen Frommen die Verwesung schauen."