Psalm 17 – Eine gerechte SacheDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Der Beter unseres Psalms bittet nicht um Barmherzigkeit, sondern um Gerechtigkeit: "Höre, HERR, die gerechte Sache!" Sollte sich die Gerechtigkeit auf Dauer nicht durchsetzen, wäre der in der Bibel bezeugte Gott eine Chimäre. Auch Jesus war ein Gerechter (Lk 23,47), er verkündet den Gott der Gerechtigkeit und preist diejenigen selig, "die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit" (Mt 5,6).

Bibel
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Die drei Strophen unseres Psalms sind eng miteinander verbunden und lassen in ihrer Abfolge zugleich einen Gedankenfortschritt erkennen. Durchgehendes Thema ist die Gerechtigkeit, zu der sich der Beter bekennt. Das Stichwort steht am Anfang und am Ende des Psalms:

V. 1    Höre, HERR, die Gerechtigkeit (ṣädäq: gerechte Sache),
            achte auf mein Flehen,
          nimm zu Ohren mein Bittgebet von Lippen ohne Falsch!
V. 15  Ich will in Gerechtigkeit (ṣädäq) schauen dein Angesicht,
      mich sättigen, wenn ich erwache, an deiner Gestalt.

Die Unschuld des Beters

Eindringlich bittet der Beter JHWH um Anerkennung seiner Gerechtigkeit. Er ist bereit, sich einer strengen Prüfung zu unterziehen, und er ist sich sicher, diese Prüfung zu bestehen. Der Beter beteuert seine Unschuld. Darum geht es in der ersten Strophe (V. 1–5):

V. 1  Ein Bittgebet Davids.
        Höre, HERR, die Gerechtigkeit (ṣädäq: gerechte Sache),
achte auf mein Flehen,
nimm zu Ohren mein Bittgebet von Lippen ohne Falsch!
V. 2 Von Deinem Angesicht ergehe mein Urteil,
Deine Augen mögen schauen, was recht ist!
V. 3 Hast Du geprüft mein Herz, gemustert bei Nacht,
mich erprobt, Du wirst nichts finden!
Mein Denken wird nicht abweichen von meinem Mund.
V. 4 Bei den Machenschaften der Menschen
    achtete ich gemäß dem Wort Deiner Lippen
auf die Pfade des Gewalttäters.
V. 5 Meine Schritte blieben auf Deinen Gleisen,
nicht wankten meine Füße.

Bei Tag und bei Nacht steht unser Beter in kommunikativer Gemeinschaft mit Gott. Aus dem Hören auf das Wort, das von Gottes Lippen kommt (V. 4a), ist ihm eine hohe Sensibilität in der Wahrnehmung zuteil geworden. Er hat die subtilen Mechanismen der Gewalt ("Pfade des Gewalttäters") unter den Menschen erkannt (V. 4b) und sich davon nicht beeindrucken lassen; er hat den aufrechten Gang bewahrt, seine Füße wankten nicht (V. 5). Deshalb ist er bereit, sich einer umfassenden Überprüfung von Seiten Gottes zu unterziehen (V. 2), selbst in der Nacht, da die oft verdrängten Gedanken und Wünsche ans Licht kommen (V. 3a). Sein Denken stimmt mit seinem Reden überein (V. 3c). Er ist sich sicher: Gott wird nichts finden (V. 3b).

Das Agieren der Feinde

Daraus erwächst ihm der Mut, sein Anliegen noch entschiedener vorzutragen und keine falschen Rücksichten zu nehmen. So kommen in der zweiten Strophe (V. 6–12) die Feinde in den Blick:

V. 6 Ich rufe zu Dir, denn Du wirst mir antworten, Gott.
Neige Dein Ohr mir zu, höre meine Worte!
V. 7    In wunderbarer Weise erweise Deine Huld,
Du Retter derer, die Zuflucht suchen
   an Deiner Rechten vor denen, die sich erheben.
V. 8    Behüte mich wie den Augapfel, den Stern des Auges!
  Im Schatten Deine Flügel gewähre mir Schutz
V. 9 vor Frevlern, die mir Gewalt antun,
  (vor) meinen Feinden, die mich gierig umzingeln.
V. 10  Ihr verfettetes Herz haben sie verschlossen,
  mit ihrem Mund reden sie hochmütig.
V. 11  Sie schritten gegen mich, jetzt haben sie mich umzingelt,
   ihre Augen richten sie darauf, mich zu Boden zu strecken.
V. 12  Das gleicht einem Löwen, der darauf aus ist, zu reißen,
  einem Junglöwen, der lauert im Versteck.

Ein Bittgebet setzt Vertrauen voraus. Aufgrund dieses Vertrauens wendet sich unser Beter erneut an Gott (V. 6). Dieser möge sich als der erweisen, der er ist: ein Retter derer, die vor ihren Verfolgern Zuflucht suchen bei ihm ("an Deiner Rechten") (V. 7).

"Erhebe Dich, JHWH"!

Eintreten für des Beters Gerechtigkeit heißt auch: Einschreiten gegen seine Feinde. Alles andere wäre inkonsequent. Die Unterscheidung zwischen dem Gerechten und den Frevlern gehört zum Wesen des biblisch bezeugten Gottes. Nachdem der Beter in der zweiten Strophe den hinterhältigen Angriff der Frevler anschaulich beschrieben hat, fordert er nun in der dritten Strophe (V. 13–15) JHWH auf, ihnen entgegenzutreten und ihren Machenschaften ein Ende zu bereiten:

V. 13 Erhebe Dich, JHWH! Tritt ihm entgegen! Wirf ihn nieder!
    Rette mein Leben vor dem Frevler mit deinem Schwert,
V. 14  vor diesen Sterblichen mit Deiner Hand, JHWH,
    vor den Sterblichen dieser Weltzeit,
deren Anteil (nur) in diesem Leben ist!
    Mit Deinem Vorrat magst Du ihren Bauch füllen,
    mit Kindern mögen sie sich sättigen,
    und ihre Reste ihren Nachkommen überlassen.
V. 15  Doch ich will in Gerechtigkeit schauen dein Angesicht,
    mich sättigen, wenn ich erwache, an deiner Gestalt.

Gegen diejenigen, die sich gegen den Beter erheben (V. 7), möge JHWH sich erheben (V. 13). Der Beter fordert JHWH zu einem – im ursprünglichen Sinne des Wortes – aggressiven Verhalten auf (agredi heißt "angreifen"): Aufstehen, entgegentreten, niederwerfen! Dies ist jedoch weder Selbstzweck noch Rache, sondern Rettung des Gerechten "vor dem Frevler" – und, wenn es sein muss, "mit deinem Schwert".

Der im Hebräischen schwierige Vers 14 beschreibt wahrscheinlich die rein diesseitige Lebensorientierung der Frevler. Da mögen sie durchaus erfolgreich sein, wohlgenährt und reich an Nachkommen. Der Beter gönnt es ihnen. Doch sein Sehnen geht auf etwas anderes: Er will "in Gerechtigkeit" Gottes Angesicht schauen und beim Erwachen sich sättigen an seiner Gestalt.

Beten gegen die Feinde

Der Beter unseres Psalms betet nicht für, sondern gegen seine Feinde. Hat Jesus nicht ganz anders gesprochen, wenn er diejenigen, die ihm nachfolgen, dazu auffordert: "Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Mt 5,44)? Hat Jesus nicht doch einen anderen Gott verkündet als denjenigen des Alten Testaments – einen Gott der Liebe und nicht der Gewalt? Einige sehen das so und halten jede Anwendung von Gewalt für unvereinbar mit der Lehre Jesu. Demnach wäre unser Psalm vorchristlich und letztlich unchristlich. Doch die Kirche hat diese Sicht zurückgewiesen. Denn wenn das der Fall wäre, würde das für menschliches Zusammenleben grundlegende Prinzip der Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt. Dann hätte der große jüdische Gelehrte Joseph Klausner Recht, wenn er, nachdem er sich als Jude intensiv mit dem Leben und der Lehre Jesu befasst hat, zu dem Ergebnis kommt:

"Jesus verachtet also jede gerichtliche Tätigkeit, selbst wenn es sich um einen harmlosen zivilrechtlichen Fall handelt. So ignoriert er alles, was mit der Zivilisation zusammenhängt, und steht in diesem Sinne außerhalb der Zivilisation. […] Deshalb musste das Volk als Ganzes in Jesu sozialen Idealen eine sonderbare und sogar gefährliche Schwärmerei sehen, und seine Mehrheit […] konnte unter keinen Umständen seine Lehre annehmen" (Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Jerusalem 31952 521–523; Hervorhebung im Original; das Buch erschien erstmals im Jahre 1922 in Jerusalem auf Hebräisch; im Jahre 2021 wurde es, versehen mit einem Nachwort von Christian Wiese, im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin neu herausgegeben).

Der Vorwurf ist sehr ernst zu nehmen. Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. hat dies getan, indem er sich bei der Auslegung der Bergpredigt auf ein Gespräch mit dem jüdischen Gelehrten Jacob Neusner eingelassen hat. Ähnlich wie Joseph Klausner erhebt auch Neusner gegenüber der Lehre Jesu den Vorwurf, sie zerstöre jede konkrete soziale Ordnung. Gegen eine auch heute immer wieder anzutreffende Herauslösung Jesu aus dem Alten Testament hat Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. zu Recht daran erinnert: "Das rechte Ineinander von Altem und Neuem Testament war und ist für die Kirche konstitutiv. Gerade die Reden des Auferstandenen legen Wert darauf, dass Jesus nur im Kontext von ‚Gesetz und Propheten‘ zu verstehen ist und dass seine Gemeinschaft nur in diesem rechtverstandenen Kontext leben kann" (Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br. 2007, 154).

Sich sättigen an der Gerechtigkeit

Tatsächlich kann eine falsch verstandene Nachsichtigkeit das biblische Gottesbild verschatten. Unser Beter erwartet von Gott in Anerkennung seiner Gerechtigkeit die Durchsetzung des Rechts. Wenn die Gewalt im Dienste der Gerechtigkeit steht, indem sie das potentielle Opfer vor dem Angriff der Frevler schützt, ist sie nicht nur erlaubt, sondern geboten. Bereits die Kirchenväter haben klar gesehen: Das Beste, was den Frevlern passieren kann, ist, dass sie an der Ausübung ihrer bösen Taten gehindert werden. "Gott soll eingreifen und der Bosheit zuvorkommen, damit die Feinde ihre bösen Pläne nicht ausführen können. Sie sollen in ihren Plänen gehindert werden, damit sie nicht zum Ziel kommen. Das ist eine Bitte für die Feinde, sie wird zu ihrem Heil ausgesprochen, obwohl sie zunächst negativ klingt. Gott soll sie vor dem Schlimmsten, das wäre das Vollführen ihrer bösen Taten, bewahren. Es ist zugleich eine Bitte um Schutz vor der Ansteckung durch die Gottlosigkeit" (Theresia Heither, in: Theresia Heither / Christiana Reemts, Die Psalmen bei den Kirchenvätern. Psalm 1–30, Münster 2017, 151).

Genau besehen ist also das Gebet gegen die Feinde ein Gebet für die Feinde – ganz im Sinne Jesu. Die Unterscheidung zwischen der unrechtmäßigen Gewalt (vis) und der rechtmäßigen Gewalt (potestas) ist für die biblische Theologie und Anthropologie grundlegend. Daran hat Paulus die Gemeinde in Rom erinnert (Röm 13,1–7). Unser Beter hofft darauf, in Gerechtigkeit Gottes Angesichts zu schauen und sich an seiner Gestalt zu sättigen. Auch ihm gilt die Verheißung der Bergpredigt: "Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden" (Mt 5,6).

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