Gerahmt durch Aufgesang und Abgesang gliedert sich jener Psalm, den wir heute betrachten wollen, in drei etwa gleichlange Teile:
V. 1–4 Aufgesang: "Ich will Dich lieben, meine Stärke."
V. 5–20 Rettungserzählung: "Er entriss mich meinem grimmigen
Feind."
V. 21–30 Reflexion über das Motiv der Rettung: "Der HERR
handelte an mir gemäß meiner Gerechtigkeit."
V. 31–49a Erzählung von siegreichem Kampf: "Er lehrte meine Hände
zu kämpfen."
V. 49b–51 Abgesang: "Darum will ich Dir danken, HERR, vor den Völkern."
Ich will Dich lieben, meine Stärke
Angelus Silesius, der großer Barockdichter, hat im Anschluss an die Vulgata den Aufgesang unseres Psalms durchaus richtig übersetzt, wenn er das bekannte Christuslied mit den Worten: "Ich will dich lieben, meine Stärke" eröffnet (Gotteslob 358). Das hebräische Verb rḥm, dem das Nomen räḥäm "Mutterschoß" zugrunde liegt und das normalerweise "sich erbarmen" bedeutet, wird hier in einer singulären Form, dem sogenannten Grundstamm, verwendet. Septuaginta und Vulgata übersetzen richtig mit ἀγαπήσω und diligam: "Ich will Dich lieben". Singulär im gesamten Alten Testament ist auch die Gottesprädikation: "meine Stärke". Sie passt sehr gut zum folgenden Rettungs- (V. 5–20) und Siegeslied (V. 31–49a). Mit diesen außergewöhnlichen Prädikationen bekennt sich David zu einer einzigartigen Liebesgeschichte. Seine Liebe zu JHWH ist ausschließlich und sie hat sich – so lässt sich im Vorgriff auf den weiteren Verlauf des Textes sagen – im Kampf gegen die Feinde bewährt, so dass der Beter am Ende bekennt: "Darum will ich Dir danken unter den Völkern, HERR, und Deinem Namen spielen" (V 50). Die Abfolge von insgesamt acht Gottesepitheta: "meine Stärke, mein Fels, meine Zuflucht, mein Retter, meine Burg, mein Schild, Horn meiner Rettung, meine Fluchtburg" zeigt bereits im Aufgesang an: Mit diesem Gott "überspringe ich Mauern" (V. 30).
Rettung
Nach dem Aufgesang erzählt David im ersten Teil (V. 5–20) von seiner Rettung. Mit Bildern, die dem Mythos entnommen sind, schildert der Text eine Not, die den Beter an den Rand des Todes brachte. Die Mächte der Unterwelt drohten ihn zu verschlingen: "Mich umfingen die Fesseln der Unterwelt und die Fluten des Verderbens erschreckten mich. Da rief ich in meiner Not zu JHWH und schrie zu meinem Gott" (V. 5–7). Ausführlich schildert der Text, wie JHWH dem Beter zur Hilfe kam. Altorientalisch und biblisch belegte Motive der Theophanie prägen die Erzählung. Kosmische Erschütterungen begleiten das Kommen der Gottheit: "Da wankte und schwankte die Erde, die Grundfesten der Berge erbebten" (V. 8). Gott selbst bleibt unsichtbar: "Er machte Finsternis zu seinem Versteck, rings um sich zu seiner Hütte, dunkle Wasser, dichte Wolken" (V. 12) – ein Motiv, das uns auch aus der christlichen Mystik bekannt ist (vgl. Die Wolke des Nichtwissens).
Nach der recht ausführlichen Schilderung der Theophanie folgt die kürzer gehaltene Rettungserzählung: "Er griff aus der Höhe herab und fasste mich, zog mich heraus aus gewaltigen Wassern. Er entriss mich meinem mächtigen Feind und meinen Hassern, denn sie waren stärker als ich. … Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich." (V. 17–20a). Am Ende wird das Motiv göttlicher Rettung genannt: "Denn er hatte Gefallen an mir" (V. 20b). Daran schließt sich eine längere Reflexion an, die den zweiten Teil unseres Psalms umfasst (V. 21–30).
Das Handeln Gottes am Beter ist nicht etwas Äußerliches, sondern bringt zur Vollendung, was im Tun des Beters selbst angelegt ist. Wir begegnen hier einem fundamentalen Prinzip des biblischen Verständnisses von Gott, Welt und Mensch.
Gerechtigkeit
Gott handelt nicht willkürlich, sondern angemessen. Das zumindest ist die Erkenntnis, zu der unser Beter gelangt, wenn er darüber nachdenkt, warum Gott ihn gerettet hat. Das Verbum gml bezeichnet in Jes 18,5 das Reifen der Traube aus der Knospe. Das ist ein natürlicher Vorgang, der in der Knospe selbst angelegt ist. Mit diesem Verb bezeichnet Vers 21 das Handeln JHWHs am Beter: "JHWH handelt (gml) an mir gemäß meiner Gerechtigkeit, gemäß der Reinheit meiner Hände gibt er mir zurück." Das Handeln Gottes am Beter ist nicht etwas Äußerliches, sondern bringt zur Vollendung, was im Tun des Beters selbst angelegt ist. Wir begegnen hier einem fundamentalen Prinzip des biblischen Verständnisses von Gott, Welt und Mensch. Diese stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern in einer inneren Entsprechung. Diese Erkenntnis führt zu einem tiefen Vertrauen in Gott und seine Schöpfung. Würde Gott anders handeln, würde er sich selbst widersprechen. Mit den Worten unseres Psalms: "Gegenüber dem Treuen erweist Du Dich als treu, gegenüber dem Lauteren als lauter" (V. 26).
Die Entsprechung gründet in einer personalen Beziehung. Der Beter schaut auf Gott und Gott schaut auf ihn. Das Gesetz seines Handels hat sich der Beter nicht selbst gegeben, er hat es von Gott übernommen: "Ja, all seine Rechtsentscheide sind vor mir, seine Gesetze weise ich nicht von mir ab" (V. 23). Befreiung, Rettung und Erleuchtung (V. 29: "Du machst meine Finsternis hell") im biblischen Sinn, geschieht nicht dadurch, dass sich der Mensch von der Weisung Gottes abwendet, sondern dadurch, dass er sich an sie bindet und sie zum Gesetz seines Handelns macht. Alles andere wäre Hochmut (V. 28). David wird hier gemäß Dtn 17,19f als ein König gezeichnet, der die Tora ständig vor Augen hat und vom Gebot nicht abweicht. Das bleibt nicht folgenlos: "Ja, Du lässt meine Leuchte erstrahlen, Du machst meine Finsternis hell" (V. 29).
Siegreicher Kampf
Mit dem Bekenntnis zur Gerechtigkeit Gottes verschwindet nicht das Böse aus der Welt. Das wäre ein schwerwiegendes Missverständnis. Die Feinde des Gerechten bleiben eine Realität in der Schöpfung, doch sie können besiegt werden. Das allerdings geht nicht ohne Kampf. Davon handelt der dritte Teil unseres Psalms (V. 31–49a). Gott bekämpft das Böse, doch nicht ohne den Menschen. Sich im Kampf gegen das Böse in den Dienst Gottes zu stellen, ist die vorrangige Aufgabe des von ihm erwählten Königs – und aller, die in seiner Nachfolge stehen. Gott rüstet den König zum Kampf aus und lehrt ihn das Kämpfen: "Er lehrte meine Hände zu kämpfen, meine Arme, den ehernen Bogen zu spannen" (V. 35). Mit der Übergabe der Offensiv- ("Bogen") und Defensivwaffen (V. 36: "Schild") kann der Kampf beginnen. Der König verfolgt in rasender Geschwindigkeit seine Feinde und kehrt nicht um, "bis sie vernichtet sind. Ich schlage sie nieder, dass sie nicht mehr aufstehen können. Sie fallen unter meine Füße" (V. 38f). Am Ende steht deren totale Vernichtung: "Ich zermalme sie zu Staub vor dem Wind, schütte sie auf die Straße wie Unrat" (V. 43).
Zu den Feinden des Königs gehören nicht nur fremde Nationen (gōjim), sondern auch einige aus seinem eigenen Volk (‘am): "Du rettest mich vor Anfeindungen des Volkes, Du machst mich zum Haupt über Nationen. Ein Volk, das ich nicht kannte, muss mir dienen" (V. 44). Die erwiesene und ihm von Gott verliehene Macht führt am Ende dazu, dass der König gar keine Gewalt mehr anwenden muss. Allein auf sein Wort hin unterwerfen sich die Feinde: "Sobald ihr Ohr hört, sind sie mir gehorsam, mir schmeicheln die Söhne der Fremde" (V. 45). Die Androhung rechtmäßiger Gewalt verhindert den Ausbruch unrechtmäßiger Gewalt.
Die kämpfende Kirche (ecclesia militans)
Oft wird das Kampflied im dritten Teil des Psalms als Problem angesehen. Rettung und Erlösung, so eine verbreitete Ansicht, seien unvereinbar mit dem Kampf gegen die Feinde. Ein nüchterner Blick auf den Psalm und die Bibel als Ganze zeigt jedoch, dass das Gegenteil richtig ist: Zum Problem wird eine Theologie, die vergessen hat, dass das Leben derjenigen, die dem Sohn Davids (Mt 1,1) nachfolgen wollen, ohne Kampf gegen die Feinde nicht zu bestehen ist. Das Motiv der kämpfenden Kirche (ecclesia militans) kann aus der Bibel nicht entsorgt werden; andernfalls werden beide zu einem Torso. Damit steht die Frage im Raum, wo denn der wahre Feind zu finden und wie er zu bekämpfen ist. Klar ist in jedem Fall: Ohne die Hilfe Gottes kann er nicht besiegt werden: "Gott hat mich mit Kraft umgürtet […] Er lehrte meine Hände zu kämpfen, meine Arme, den ehernen Bogen zu spannen. […] Ich verfolge meine Feinde und hole sie ein, ich kehre nicht um, bis sie vernichtet sind."
Die martialische Sprache unseres Psalms darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der Sache nach um ein zivilisatorisches Projekt geht, das nichts von seiner Aktualität verloren hat. Es geht um die Monopolisierung der Gewalt und die Bindung der Gewalt an das Recht.
Die Wüstenväter, die angesichts einer schwächelnden Kirche den Kampf gegen die Mächte des Bösen auf sich genommen hatten, machten die Erfahrung, dass die tägliche Rezitation des Psalters – nicht zuletzt auch in der verdichteten Form des Jesus-Gebetes – gemäß dem Wort des Apostels Paulus: "Betet ohne Unterlass" (1 Thess 5,17) eine der besten Waffen ist, den lauernden und stets zum Angriff bereiten Feind (vgl. Gen 4,6f) in die Flucht zu schlagen. Sie setzten in die Tat um, was sich im Leben Davids bewährt hat: "Als des Lobes würdig will ich anrufen JHWH, dann werde ich vor meinen Feinden gerettet" (V. 4). In der Jesus-Geschichte, so das Zeugnis der Schrift, hat sich diese Verheißung: "Seinem König verleiht er große Hilfe, Huld erweist er seinem Gesalbten (Christus), David und seinem Stamm auf ewig" (Ps 16,51) erfüllt und vollendet: "Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Volk Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben" (Lk 1,32f).
Die Bindung der Gewalt an das Recht
Die martialische Sprache unseres Psalms darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der Sache nach um ein zivilisatorisches Projekt geht, das nichts von seiner Aktualität verloren hat. Will man das Thema auf einen säkularen Kontext herunterbrechen, so lässt sich sagen: Es geht um die Monopolisierung der Gewalt und die Bindung der Gewalt an das Recht. Würde der dritte Teil des Psalms (V. 31–49a) isoliert stehen, könnte man meinen, es ginge um pure Gewalt, um das Recht des Stärkeren. Da jedoch dem Siegeslied eine Reflexion über das Recht als Legitimation der Gewaltanwendung vorangestellt wird (V. 21–30), dürfte klar sein: Es geht nicht um willkürliche Gewalt, sondern um rechtmäßige Gewalt. David, mit dem das Projekt des Gottesvolkes als Staat seinen Anfang nahm, kann als Personifikation rechtmäßiger Gewalt verstanden werden: "Der HERR handelt an mir gemäß meiner Gerechtigkeit" (V. 25). Aufgabe des Königs ist es, im Inneren wie im Äußeren dem Recht Anerkennung zu verschaffen und den Machenschaften der Unterdrücker Grenzen zu setzten, kurzum: sein Volk in Gerechtigkeit zu regieren (vgl. Ps 72,2–4).
Der erste Teil unseres Psalms (V. 5–20) verleiht aufgrund konkreter Rettungserfahrung der Hoffnung Ausdruck, dass sich dieses im Gottesvolk entstandene Projekt weltweit durchsetzen wird. Nur so gelangen die Völker von der Dunkelheit ans Licht (V. 29). Folgerichtig zitiert Paulus im Brief an die Römer Ps 18,50: "Darum will ich Dich bekennen unter den Völkern und Deinen Namen lobsingen" (Röm 15,9). Klar ist aber auch: Wird Gott geleugnet, dann "gibt es keinen Retter" (V. 42), dann siegt der Hass (V. 41), dann ist niemand da, der in der Not Antwort gibt (V. 42).