Psalm 19 – Die rechte Ordnung als LebensformDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

In Psalm 19 meditiert der Beter die Tora vom Anfang bis zum Ende. Er tut das, was wir heute als Lectio divina, als "göttliche", geistige Lesung bezeichnen. Und er bezeugt aus eigener Erfahrung: Sie erquickt die Seele, macht den Unkundigen weise, erfreut das Herz und erleuchtet die Augen.

Bibel
© Pixabay

Psalm 19 besteht nach der Überschrift aus zwei Teilen mit je zwei Strophen:

I. Teil: (1) 2–5a Gesetz für den Himmel (1x "Gott")
(2) 5b–7 Beispiel: Der Gehorsam der Sonne
II. Teil: (3) 8–11 Gesetz für Israel (6x "JHWH")
(4) 12–15 Beispiel: Der Gehorsam des Knechts (1x "JHWH")

Beide Teile entsprechen einander: Die erste Strophe beschreibt die vollkommene Ordnung der Schöpfung und die zweite zeigt, wie die Sonne dieser Ordnung in vollkommener Weise entspricht. Die dritte Strophe beschreibt – in Entsprechung zur ersten – die Vollkommenheit der Tora und die vierte zeigt – in Entsprechung zur zweiten –, wie der "Knecht", der Dichter des Psalms, dieser Weisung in vollkommener Weise gehorcht. Wie die Sonne in der zweiten Strophe als Bräutigam aus ihrem (seinem) Gemach herauskommt und freudig ihre (seine) Bahn läuft, so liebt der Knecht die Tora wie ein Bräutigam seine Braut und freut sich an ihr "bei Tag und bei Nacht" (Ps 1,2).

Die Schöpfungsordnung

Nicht zu überhören sind in der ersten Strophe (V. 2–5a) die Anklänge an den Beginn der Tora, die Erzählung von der Erschaffung von Himmel und Erde. Das Wort "Himmel" rahmt den ersten Teil des Gedichts (V. 2 und V. 7). Was den Dichter fasziniert, ist die vollkommene Ordnung der Schöpfung. Der Schlüsselbegriff dafür ist in Vers 5 das Wort qaw, das heißt: Schnur, Regel, Norm, nach Maß und Gesetz geregelte Ordnung (vgl. Weish 11,20: "Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet."). Diese Ordnung, und hier zeigt sich die poetische Genialität des Dichters, ist eine kommunikative Ordnung, das heißt: Die Werke der Schöpfung sind kommunikativ miteinander verbunden, sie rufen einander zu. Und genau dadurch läuft alles "wie am Schnürchen" (qaw), funktioniert die Schöpfung wie ein Wunderwerk und kündet von der Herrlichkeit Gottes, der ihr Urheber ist:

2 Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes,
und vom Tun seiner Hände kündet das Firmament.
3 Ein Tag sprudelt aus sich Rede hervor,
und eine Nacht teilt der Nacht Wissen mit.
4 Da ist keine Rede, da sind keine Worte,
deren Stimme nicht gehört würde.
5a Über die ganze Erde hin erstreckt sich ihre Ordnung (qaw),
und bis an das Ende des Erdkreises ihre Worte.

Nur die erste Strophe spricht von "Gott" (El); das Wort kommt im ganzen Gedicht nur einmal vor, es gibt nur einen Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat. Im zweiten Teil wird der Name dieses Gottes genannt: JHWH – sechsmal in der dritten Strophe, einmal in der siebten Strophe, macht zusammen: siebenmal – eine doppelte Vollkommenheit. Die Abfolge der Gottesbezeichnungen erinnert an die beiden Schöpfungserzählungen, in deren erster (Gen 1) die Gottesbezeichnung Elohim ("Gott"), in deren zweiter (Gen 2) die Bezeichnung JHWH–Elohim ("Herrgott" / "Gott, der HERR") begegnet. Für den Vorgang des Sprechens verwendet der erste Vers Partizipien und drückt damit eine gleichbleibende Dauer aus. Es wird nur gesagt, was die Himmel erzählen und das Firmament verkündet, nämlich die Herrlichkeit Gottes und das Tun seiner Hände; nicht gesagt wird, wem sie es verkünden.

Vers 3 nennt die Adressaten ihrer Rede. Überraschenderweise ist es nicht der Mensch, dem sie etwas mitteilen, sondern die von Gott geschaffenen Werke rufen einander zu und sorgen so für den regelmäßigen Ablauf von Tag und Nacht. Dieser Vorgang funktioniert tadellos. Die Werke gehorchen einander aufs Wort: "Da ist keine Rede, da sind keine Worte, deren Stimme nicht gehört würden" (V. 4). Diese Ordnung (qaw) erstreckt sich über die ganze Erde (V. 5).

Der Lauf der Sonne

In der zweiten Strophe wird diese wunderbare Ordnung am Beispiel der Sonne veranschaulicht. Jetzt wird auch gesagt, wer sie auf ihre Umlaufbahn gesetzt hat: Er – nämlich Gott (V. 2):

5b Der Sonne setzte er ein Zelt an ihnen (den Himmeln).
6 Und sie zieht aus wie ein Bräutigam aus seinem Gemach,
freut sich wie ein Held, zu laufen die Bahn.
7 Vom einen Ende der Himmel ist ihr (sein) Auszug,
und sein Umlauf bis zu ihren (anderen) Enden,
und nichts ist verborgen ihrer (seiner) Glut.

Mit der Sonne verbindet sich im Alten Orient wie in der Bibel der Gedanke des Rechts und der Gerechtigkeit. Auf der berühmten Stele des babylonischen Königs Hammurapi überreicht Schamasch, der Sonnengott, dem König eine Sammlung von Rechtssprüchen, den sogenannten Codex Hammurapi. Die Sonne bringt alles ans Licht, "nichts bleibt ihrer Glut verborgen" (V. 7). Im Alten Testament ist die Sonne kein Gott, wenngleich es in der Geschichte Israels immer wieder Phasen gegeben hat, in denen einzelne oder Gruppen die Sonne (als Gott) angebetet und verehrt haben, was von den Propheten jedoch scharf kritisiert wurde (vgl. Ez 8,16). Um sich deutlich von der Vorstellung, die Gestirne seien göttlich, zu distanzieren, spricht die biblische Schöpfungserzählung geradezu despektierlich von der Sonne und dem Mond als den beiden "großen Leuchten, die große zur Herrschaft über den Tag und die kleine zur Herrschaft über die Nacht, und die Sterne" (Gen 1,16; vgl. Ijob 31,26f).

Besonders Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. hat die Liturgiewissenschaft daran erinnert, die kosmische Dimension der Liturgie nicht außer Acht zu lassen, eine Ermahnung, die sich die Kirche in der Zeit einer wiedererwachenden naturalistischen Spiritualität nur zu Herzen nehmen kann.

Die hebräischen Worte für "Sonne" und "Mond" werden in der Schöpfungserzählung Gen 1 gezielt vermieden. Israel hat die mit der Sonnengottheit verbundenen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit jedoch nicht verworfen, sondern in den JHWH-Glauben integriert. Die Sonne ist also nicht ein Gott der Gerechtigkeit neben JHWH, sondern JHWH selbst ist der Gott der Gerechtigkeit; zu seinem Wesen gehört die Gerechtigkeit. In der christlichen Tradition steht die Sonne für Christus, und der Mond für die Kirche, die ihr Licht von Christus empfängt. Das aus dem Buch des Propheten Maleachi bekannte Wort von der "Sonne der Gerechtigkeit" (Mal 3,20) wird auf Christus übertragen. Aus diesem Grunde sind die Kirchengebäude nach Osten, zum Orient, hin ausgerichtet, dort, wo die Sonne aufgeht. Sie sollen den Menschen Orientierung geben; das tun sie nur, wenn sie auf Christus hin ausgerichtet sind, die Sonne der Gerechtigkeit. Besonders Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. hat die Liturgiewissenschaft daran erinnert, die kosmische Dimension der Liturgie nicht außer Acht zu lassen, eine Ermahnung, die sich die Kirche in der Zeit einer wiedererwachenden naturalistischen Spiritualität nur zu Herzen nehmen kann.

Wenn der Sonne in Gen 1,14–18 die Herrschaft über den Tag anvertraut wird, dann ist damit implizit gesagt, dass die Schöpfung unter der Herrschaft der Gerechtigkeit steht. Wenn sich die Sonne am helllichten Tag verfinstert, wie bei der Kreuzigung Jesu "zur sechsten Stunde" (vgl. Mk 15,33), scheinen die Mächte der Finsternis die Herrschaft übernommen zu haben; wenn sie wieder aufgeht, wie am Morgen des dritten Tages (Mk 16,2), wird erneut klar: Die Gerechtigkeit trägt den Sieg über die Mächte des Bösen davon. Wenn die Sonne in unserem Psalm als Bräutigam bezeichnet wird, stellt sich, ähnlich wie bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–12), die Frage: Wo ist die Braut? Im zweiten Teil des Gedichts (V. 8–15) finden wir sie.

Das Gesetz des HERRN

Hier spricht der Dichter von der Tora. Mit sechs Synonyma wird die Tora umschrieben, mit dem Tetragramm JHWH näher bestimmt und mit je zwei Aussagen qualifiziert – das macht zusammen zwölf Eigenschaften der sechsfach genannten Tora:

8 Die Tora JHWHs ist vollkommen,
sie erquickt die Seele.
Das Zeugnis JHWHs ist wahr,
es macht weise den Unkundigen.
9 Die Anordnungen JHWHs sind richtig,
sie erfreuen das Herz.
Das Gebot JHWHs ist lauter,
es erleuchtet die Augen.
10 Die Furcht JHWHs ist rein,
sie besteht für immer.
Die Rechtssprüche JHWHs sind Wahrheit,
gerecht sind sie alle.
11 Begehrenswerter sind sie als Gold, als Feingold in Fülle
und süßer als Honig und Wabenseim.

Das regelmäßige Metrum imitiert die Rezitation der Tora. Die in ihr enthalte Ordnung formt den Meditierenden: Die Tora erquickt die Seele, macht weise, erfreut das Herz, erleuchtet die Augen.

Der Gehorsam des Knechts

Die vierte Strophe geht in die Du-Anrede über. Der Beter bezeichnet sich als "dein Knecht". Wie die Worte der Schöpfung von der Sonne beachtet werden, so die Weisungen der Tora vom Knecht:

12 Auch dein Knecht ist gewarnt durch sie,
in ihrer Beachtung liegt viel Lohn.
13 Versehentliche Fehler – wer bemerkt sie?
Von verborgenen (Sünden) sprich mich frei!
14 Auch von Vermessenheiten halte zurück deinen Knecht!
Sie sollen nicht über mich herrschen!
Dann werde ich vollkommen sein
und frei von schwerem Vergehen.
15 Mögen wohlgefällig sein die Reden meines Mundes
und das Murmeln meines Herzens vor deinem Angesicht,
JHWH, mein Fels und mein Erlöser!

Zwei Arten von Vergehen werden unterschieden: kleine Unachtsamkeiten, die kaum zu vermeiden sind und die gewöhnlich unbemerkt bleiben (V. 13), und schwere, willentliche Vergehen (V. 14). Die lässlichen Sünden möge JHWH vergeben, vor den schweren möge er seinen Knecht bewahren. Vers 14 spielt auf die Ursünde Kains an. Der HERR hatte ihn vor der Sünde, "die an der Tür lauert", gewarnt: "Du aber herrsche über sie" (Gen 4,7). Doch es kam anders: Die Sünde gewann die Herrschaft über Kain. Unser Beter bittet den HERRN, vor der Herrschaft der Sünde bewahrt zu bleiben. Wenn das gelingt, dann wird er recht, dann wird er vollkommen sein. Paulus wird später beklagen, dass alle, Juden wie Griechen unter der Herrschaft der Sünde stehen (Röm 3,9) und gesündigt haben (Röm 3,23), sowohl diejenigen, die unter dem Gesetz stehen, als auch diejenigen ohne Gesetz (Röm 3,12).

Geistige Schriftlesung

Der Psalm schließt in Vers 15 mit einer Widmung. Der Knecht bezeichnet sein Reden als "Murmeln meines Herzens vor Deinem Angesicht". Das Wort "murmeln" (hgh) begegnete uns bereits in Psalm 1: "Selig der Mann, […] der sein Gefallen hat an der Tora JHWHs, der in seiner Tora murmelt (hgh) bei Tag und bei Nacht." Unser Psalm spielt im ersten Vers an den Beginn der Tora ("Himmel, Tun seiner Hände, Firmament" → Gen 1) und im letzten Vers mit der Bezeichnung "JHWH, mein Fels und mein Erlöser," an das Ende der Tora, das Lied des Mose, an, in dem das JHWH-Epitheton "Fels" siebenmal verwendet und der Exodus als Erlösung aus der Knechtschaft Ägyptens besungen wird: "Der Fels, vollkommen ist sein Tun" (Dtn 32,4).

Das heißt: In unserem Psalm meditiert der Beter, wie in Psalm 1 angekündigt, die Tora vom Anfang bis zum Ende. Er tut das, was wir heute als Lectio divina, als "göttliche", geistige Lesung bezeichnen. Und er bezeugt aus eigener Erfahrung: Sie erquickt die Seele, macht den Unkundigen weise, erfreut das Herz und erleuchtet die Augen.

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt testen