Psalm 21 – Geistiger KampfDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Eine "kanonische Lektüre" von Psalm 21 kann den Weg zu einem tieferen, spirituellen Verstehen jenseits einer bloßen historisch-kritischen, "königstheologischen" Rekonstruktion weisen. Eine solche christologische Deutung ist keine Erfindung der frühen Christen, sondern eine Fortschreibung und Vereindeutigung eines bereits im Alten Testament angelegten messianischen Verständnisses. (Teil 2)

Bibel
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Ein wenig vereinfachend gesprochen lassen sich bei der Auslegung der Psalmen zwei Modelle unterscheiden: das eine versteht die Psalmen aus ihrem ursprünglich historischen Kontext, das andere aus einer christologischen Relecture. Das streng historisch ausgerichtete Modell sieht sich bei einigen Psalmen vor die heikle Frage einer möglichen Applikation gestellt: Wie sollen wir mit Psalmen umgehen, die ein scheinbar recht unbekümmertes Verhältnis zur Anwendung von Gewalt haben, wie es uns zuletzt in Psalm 21 begegnet ist?

Bei einer streng historischen Auslegung, die nicht in den Fundamentalismus abgleiten will, findet sich an dieser Stelle gewöhnlich eine Warnung. So heißt es bei der von Erich Zenger zu verantwortenden Auslegung von Psalm 21 in der Kommentierten Studienausgabe der Einheitsübersetzung Stuttgarter Altes Testament (herausgegeben von Christoph Dohmen, Stuttgart 22016, Bd. 2, S. 1259): "Beide Abschnitte [von Psalm 21] sind stark von der altorientalischen Königstheologie geprägt (vgl. auch Ps 2; 18; 72; 89; 110), deren kriegstheologische Implikationen in ihrem historischen Kontext verständlich, aber aus heutiger theologischer Sicht sehr problematisch sind." Also: historisch verständlich, theologisch sehr problematisch!

Kanonische Lektüre heißt: Wir lesen den Psalm nicht ausschließlich in seinem mutmaßlichen historisch-genetischen, sondern auch und vor allem in seinem kanonisch-literarischen Kontext.

Kanonische Lektüre der Psalmen

Bei unserer Auslegung konnten wir zeigen, dass der historische Sinn, kanonisch gelesen, nicht so problematisch ist, wie er gewöhnlich erscheint. Denn die von Gott dem König verliehene Macht ist an das Recht, konkret: an die Tora gebunden. Kanonische Lektüre heißt: Wir lesen den Psalm nicht ausschließlich in seinem mutmaßlichen historisch-genetischen, sondern auch und vor allem in seinem kanonisch-literarischen Kontext. In Bezug auf Psalm 21 heißt das: Im vorliegenden Kontext geht es nicht um irgendeinen judäischen oder israelitischen König aus dem 8. Jahrhundert, der aus persönlichem Machtinteresse heraus seine Feinde niederschlägt, sondern um jenen idealen König, der im Prozess der Lektüre, beginnend mit Psalm 1, vor unseren Augen entsteht: Im ersten Psalm wird uns eine königliche Gestalt vor Augen geführt, die Tag und Nacht die Tora meditiert und zur Gemeinde der Gerechten gehört. Dieser auf Zion von Gott eingesetzte König bekommt in Psalm 2 die Zusage, die gegen ihn rebellierenden Völker und Nationen "mit eisernem Stab zu zerschlagen".

Damit ist klar: Die Macht, die dem König in Psalm 21 verliehen wird, gilt dem idealen König der Gerechtigkeit. Es geht also nicht um eine imperiale Macht, die andere grundlos niedermacht, sondern um eine an das Recht gebundene Macht, die der Ausbreitung des Unrechts entgegentritt. In einem säkularen Kontext gelesen heißt das: Es geht um ein Wesensmerkmal des modernen Rechtsstaates, nämlich um die Monopolisierung der Gewalt und deren Bindung an das Recht. Dabei handelt es sich um eine große zivilisatorische Errungenschaft. Diese Ebene des Verstehens hatten wir als die politische Ebene bezeichnet. Sie hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Hier zeigt sich: Die Bibel muss nicht künstlich aktualisiert werden, sie ist aktuell, wenn sie in rechter Weise verstanden wird.

Das spirituelle Verständnis

Nun gibt es aber noch eine zweite Ebene des Verstehens, die spirituelle. Sie entsteht nicht dadurch, dass der Psalm in seinem Wortlaut verändert wird, oder dadurch, dass ihm fromme Gedanken hinzugefügt werden, die nicht in ihm enthalten sind, sondern dadurch, dass er in einem neuen Kontext gelesen wird. Und dieser neue Kontext entsteht, wenn wir das Alte Testament in der Verbindung mit dem Neuen lesen. Für Christen besteht die Bibel aus zwei Teilen: dem Alten und dem Neuen Testament. Von kleineren Unterschieden, die für unsere Fragestellung jetzt nicht von Bedeutung sind, einmal abgesehen, haben Juden und Christen mit dem sogenannten Alten Testament einen im Wortlaut gemeinsamen "heiligen Text"; der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass sie denselben Text unterschiedlich lesen. Wie ist das möglich?

Die Jesus-Geschichte wird im Lichte der Schrift, dem später so genannten Alten Testament, gedeutet und verstanden, die Schrift wiederum wird im Lichte der Jesus-Geschichte (neu) gelesen und (tiefer) verstanden.

Literarische Texte haben gewöhnlich keine fest umrissene Bedeutung, sondern ein Bedeutungspotential, das in verschiedenen Kontexten unterschiedlich entfaltet werden kann. Durch die Lektüre der Psalmen im Lichte der frühen Jesus-Geschichte entfalteten diese ein Bedeutungspotenzial, das in ihnen von Anfang an angelegt war, das in ihrem ursprünglichen historischen Kontext jedoch noch nicht voll zur Entfaltung kommen konnte. Das ist gemeint, wenn der Auferstandene den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus den "Sinn der Schriften eröffnete" (Lk 24,32). Dieser in den Psalmen selbst angelegte Sinnüberschuss ist in Jesus Christus zur Erfüllung gekommen, so die christliche Sicht. Den in Jerusalem verbliebenen Jüngern sagte der Auferstandene: "Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht. Darauf öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften" (Lk 24,44f). Dabei handelt es sich um einen wechselseitigen Prozess: Die Jesus-Geschichte wird im Lichte der Schrift, dem später so genannten Alten Testament, gedeutet und verstanden, die Schrift wiederum wird im Lichte der Jesus-Geschichte (neu) gelesen und (tiefer) verstanden.

Neuer Kontext – neue Bedeutung

Der hier skizzierte Prozess der Neukontextualisierung beginnt allerdings bereits im Alten Testament. Bei der Auslegung von Psalm 2 hatten wir gesehen, dass die Psalmen, in denen von einem irdischen König gesprochen wird, in ihrer ursprünglichen Bedeutung wahrscheinlich auf jenen König verweisen, der aus dem Hause Davids stammte, in Jerusalem residierte und über das Südreich Juda herrschte. Dieser Staat existierte von etwa 1000 bis 586 v. Chr. Der erste König war David (ca. 1000–960), der letzte Zidkija (597–586). Im Jahre 586 fiel der Staat Juda der babylonischen Expansion zum Opfer: König Zidkija wurde auf der Flucht von den babylonischen Truppen gefasst, seine Söhne wurden vor seinen Augen getötet, er selbst geblendet und in die Gefangenschaft nach Babylon verschleppt, wo sich seine Spur verliert. Der Tempel, der Königspalast, die Stadtmauern und die Häuser der Wohlhabenden wurden verbrannt und ein großer Teil der Bevölkerung Judas nach Babylon deportiert. Damit fand die Geschichte des davidischen Königtums ein gewaltsames Ende.

Eine an den Staat gebundene Religion geht normalerweise zugrunde, wenn der Staat implodiert. So war es bei den altorientalischen Großmächten Ägypten, Assur und Babylon. Anders bei den Juden: Ihr Staat ging zugrunde, doch die Religion überlebte. Dies war möglich, weil der JHWH-Glaube bereits vor der Katastrophe von 586 v. Chr. Strategien entwickelt hatte, die ihn vom Staat unabhängig machten. So konnte die JHWH-Religion in der Krise des Exils eine geistige Transformation durchlaufen, aus der sie am Ende gestärkt hervorgehen sollte.

Das christologische Verständnis der Psalmen ist keine Erfindung der frühen Christen; vielmehr handelt es sich um eine Fortschreibung und Vereindeutigung eines bereits im Alten Testament angelegten messianischen Verständnisses. 

Transformation in der Krise

Dieser Prozess lässt sich auch bei den Königspsalmen beobachten. Mag ihr ursprünglicher Sitz im Leben die Institution des davidischen Königtums gewesen sein, so wurden sie mit dem Untergang desselben nicht aufgegeben, sondern neu gelesen und wahrscheinlich auch an der ein oder anderen Stelle ergänzt. Sie wurden nicht mehr im Hinblick auf ein real existierendes davidisches Königtum gelesen, sondern auf einen in Zukunft zu erwartenden idealen König aus dem Hause Davids, einen Gesalbten, der sich von den dunklen Seiten der historischen Könige Israels und Judas entschieden abhebt.

Kurzum: Die Königspsalmen wurden in der nachexilischen Zeit in zunehmendem Maße messianisch gelesen. In ihnen artikulierte sich nun die Hoffnung auf das Kommen eines Gesalbten, der aus reinem Herzen von sich sagen kann: "Ich hasse es, Unrecht zu tun, es soll nicht an mir haften. Falschheit sei meinem Herzen fern, ich will Böses nicht kennen" (Ps 101,3f). An die bereits in der alttestamentlichen Überlieferung einsetzende messianische Deutung konnten die frühen Christen anknüpfen und sagen: Dieser König, von dem die Psalmen sprechen, ist tatsächlich in Jesus Christus leibhaftig in seinem Volk erschienen. "Der Herr, der Gott Israels […] hat uns einen starken Retter erweckt im Hause seines Knechtes David. So hat er verheißen von alters her durch den Mund seiner heiligen Propheten. Er hat uns errettet vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen" (Lk 1,68–71; vgl. Mk 15,2.26.32 par.).

Das christologische Verständnis

Das christologische Verständnis der Psalmen ist also keine Erfindung der frühen Christen; vielmehr handelt es sich um eine Fortschreibung und Vereindeutigung eines bereits im Alten Testament angelegten messianischen Verständnisses. Daran konnten die Kirchenväter anknüpfen und es weiter entfalten. Die Methode, die sie dabei anwendeten, bezeichnen wir heute als Intertextualität. Dabei werden Texte aus der Heiligen Schrift, die zeitlich durchaus weit auseinanderliegen können, durch ein gemeinsames Stichwort so aufeinander bezogen, dass der eine Text den anderen erklärt. Dazu ein Beispiel: In Ps 21,14 heißt es: "Erhebe dich, JHWH, in deiner Macht (LXX: dynamis)!" Die Kirchenväter fragten sich: Wer oder was ist denn mit dem Ausdruck "in deiner Macht" gemeint? In 1 Kor 1,24 lasen sie, dass Paulus Christus als Gottes Macht (dynamis) und Gottes Weisheit bezeichnet. Also kann "in deiner Macht" in Psalm 21,14 verstanden werden als: "in Christus". Und schon sind wir bei einer christologischen Interpretation eines Psalmverses angekommen!

Wie eine solche christologische Lektüre auch heute noch intellektuell redlich praktiziert werden kann, hat jüngst die Theologin und Benediktinerin Christiana Reemts gezeigt: "Liest man die Kirchenväter, so fällt die Selbstverständlichkeit auf, mit der sie von der Wirklichkeit Gottes ausgehen. Gott handelt und spricht, und zwar in einer Weise, die jeder Mensch wahrnehmen kann, wenn er sich nicht verschließt. Die Bibel ist der bevorzugte Raum dieser Gottesbegegnung. […] Ihre exegetischen Methoden ermöglichen, gerade weil sie von anderen Fragen als die Moderne ausgehen, einen überraschend neuen Blick auf die Schrift. Die Beschäftigung mit ihrer Exegese zwingt uns, unsere eigenen Voraussetzungen wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. […] Sie eröffnen die Chance, die eigenen Vorurteile hinter sich zu lassen und sich außerdem nicht mit einer allzu vordergründigen Sicht zufriedenzugeben" ("Alles muss in Erfüllung gehen, was in den Psalmen über mich gesagt ist." Ein Gespräch, München 2023, 21f).

Mit dem christologischen Verständnis bekommen die Kämpfe, von denen in vielen Psalmen die Rede ist, neben einer politischen eine spirituelle Bedeutung. Es geht, in der Spur Jesu, um den geistigen Kampf gegen die Mächte des Bösen. 

Geistiger Kampf

Mit dem christologischen Verständnis bekommen die Kämpfe, von denen in vielen Psalmen die Rede ist, neben einer politischen eine spirituelle Bedeutung. Es geht, in der Spur Jesu, um den geistigen Kampf gegen die Mächte des Bösen. Die auch unter Christen verbreiteten Schwierigkeiten, diesen Kampf mit Jesus Christus in Verbindung zu bringen, hängen nach Auskunft von Christiana Reemts OSB damit zusammen, "dass unsere Christologie oft gar keine Christologie ist, sondern eine etwas überhöhte Jesulogie" (ebd. 16): "Über und hinter dem sichtbar-historischen Geschehen der Passion Christi spielte sich ein kosmischer Kampf ab, nämlich der Aufstand des Teufels und seiner Dämonen gegen Gott. In allem, was in der Welt an Bösem geschieht, steht dieser Aufstand der unsichtbaren Mächte im Hintergrund" (ebd. 65). Sie zu besiegen ist Jesus gekommen ("Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl", Mk 1,27), ihnen im Kampf entgegenzutreten, sind seine Jünger berufen: "Er gab ihnen Vollmacht (exousia) über die unreinen Geister" (Mk 6,7). "Siehe, ich habe euch die Vollmacht (exousia) gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und über die ganze Macht (dynamis) des Feindes. Nichts wird euch schaden können" (Lk 10,19; Ps 91,13).

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