Der Psalm beginnt mit dem Gottesnamen JHWH und dem Ausdruck "deine Macht". Beide Worte werden im Schlussvers chiastisch wieder aufgenommen:
Vers 2: JHWH – deine Macht
Vers 14: deine Macht – JHWH
Der Psalm endet mit dem Wort: "deine Stärke". In der ersten Strophe geht es um Gottes Macht und Stärke (V. 3–7). Gott behält allerdings seine Macht nicht für sich, sondern verleiht sie dem König. Doch auch für ihn ist die Macht kein Selbstzweck. Sie dient dem Erhalt des Friedens. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Feinde des Friedens und diejenigen, die den König hassen, besiegt werden. Den Sieg über die Feinde wünscht das Volk dem König in der zweiten Strophe (V. 9–13). Die Feinde kann der König nicht aus eigener Kraft besiegen, sondern nur, weil er auf JHWH vertraut. Daran erinnert der Vers in der Mitte (V. 8). Er signalisiert den Umschwung von der Gottesanrede in der ersten Strophe zur Anrede des Königs in der zweiten Strophe. So gliedert sich der Psalm in zwei etwa gleichlange Strophen, die in der Mitte durch einen Scharniervers verbunden und durch zwei Rahmenverse umklammert werden:
2 Rahmenvers: "In deiner Macht, HERR, kann sich freuen der König."
3–7 Gottesanrede: "Du hast ihm den Wunsch seines Herzens erfüllt"
8 Scharniervers: "Denn der König vertraut auf den HERRN"
9–13 Königsanrede: "Finden soll deine Hand all deine Feinde"
14 Rahmenvers: "Erhebe dich, HERR, in deiner Macht!"
Der Psalm ist ein Lobpreis auf Gott, da er den König mit Macht, Glanz und Ehre ausgestattet hat, damit dieser seinen Amtsgeschäften erfolgreich nachkommen kann. Dazu gehört vor allem der Sieg über die Feinde:
1 Für den Musikmeister: ein Instrumentallied von David.
2 JHWH, an deiner Macht freut sich der König,
und über deine Hilfe, wie jubelt er sehr!
3 Den Wunsch seines Herzens hast du ihm erfüllt (gegeben),
und das Verlangen seiner Lippen hast du ihm nicht vorenthalten.
4 Denn du kommst ihm entgegen mit reichem Segen,
du setzt auf sein Haupt einen Reif aus feinem Gold.
5 Leben erbat er von dir, du hast es ihm gegeben,
Länge der Tage für immer und ewig.
6 Groß wird sein Ruhm sein dank deiner Hilfe,
Glanz und Ehre wird du auf ihn legen.
7 Denn du machst ihn zum Segen auf ewig,
du beglückst ihn mit Freude
durch die Zuwendung deines Angesichtes.
8 Denn der König vertraut auf JHWH,
und dank der Huld des Höchsten wird er nicht wanken.
9 Finden soll deine Hand all deine Feinde,
und deine Rechte soll finden deine Hasser.
10 Du sollst sie setzen wie einen Feuerofen
zur Zeit der Zuwendung deines Angesichtes.
JHWH, in seinem Zorn, verschlinge er sie,
und es verzehre sie das Feuer!
11 Ihre Frucht (Nachkommenschaft) –
aus dem Land sollst du sie vertreiben,
und ihren Samen aus der Menschheit!
12 Wenn sie dir haben zukommen lassen Böses,
sich ausgedacht haben Arglistiges – sie werden nichts bewirken.
13 Denn Du wirst sie packen an der Schulter,
mit deinen Stricken sie festbinden an ihren Gesichtern.
14 Erhebe dich, JHWH, in deiner Macht,
dass wir singen und spielen deiner Stärke!
Ein Gott der Gewalt?
Wenn friedensbewegte Christen des 21. Jahrhunderts einen solchen Text lesen, sind sie gewöhnlich erschrocken. Ein König, der seine Herrschaft religiös legitimiert und im Namen Gottes seine Feinde niederschlägt, deren Nachkommen aus dem Land zu vertreiben und aus der Menschheit auszurotten sucht, dem das Volk zu allem Überfluss auch noch zujubelt und Erfolg wünscht – eine größere Perversion von Religion können sich viele aufgeklärte Zeitgenossen kaum vorstellen. Exegeten versuchen gewöhnlich die verständliche Erregung mit der Methode der Historisierung zu beruhigen: Man müsse den Psalm aus seiner Zeit heraus verstehen, aus seiner ursprünglichen Kommunikationssituation. Gewarnt wird vor "Risiken und Nebenwirkungen", die mit einer ungebrochenen Applikation eines solchen Textes auf zeitgenössische Anliegen einhergehen könnten.
In der Tat kann eine historische Perspektive sehr viel zum Verständnis des Textes beitragen; in einem gewissen Sinn ist diese Methode, die gewöhnlich historisch-kritisch genannt wird, nicht nur hilfreich, sondern sogar notwendig. In der katholischen Kirche und Theologie wie in den meisten anderen christlichen Konfessionen hat ein historisch-kritischer Zugang zur Bibel volle Anerkennung gefunden. Wenn diese Methode jedoch in Form einer radikalen Historisierung durchgeführt wird, entsteht ein Problem: Denn dann hat der Text uns heute nichts mehr zu sagen. Er ginge wie andere altorientalische Dokumente ganz in der Zeit seiner Entstehung auf. Er mag historisch noch interessant sein, theologisch jedoch wäre er irrelevant. Er wäre zu vergleichen mit einem Automobil aus dem 19. Jahrhundert, das man ins Museum gestellt hat: für diejenigen, die an der Geschichte des Automobils interessiert sind, sehr aufschlussreich, für moderne Verkehrsteilnehmer jedoch nicht mehr zu gebrauchen!
Für viele Zeitgenossen ist das Alte Testament ein Buch der Vergangenheit. Biblische Texte, die den persönlichen Vorlieben nicht passen, werden ausgeblendet.
Im Geleitwort zum Dokument der Päpstlichen Bibelkommission "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" aus dem Jahre 1993 hat Joseph Kardinal Ratzinger vor dieser Gefahr gewarnt: "Die Suche nach dem Ursprünglichen kann dazu führen, dass das Wort ganz in die Vergangenheit zurückgestellt und nicht mehr in seiner Gegenwärtigkeit vernommen wird." Für viele Zeitgenossen ist das Alte Testament ein Buch der Vergangenheit. Biblische Texte, die den persönlichen Vorlieben nicht passen, werden ausgeblendet. Dem Gott der Bibel wird dann "mein Gott" entgegengestellt, der alles Mögliche tut oder nicht tut, nur das nicht, was in der Bibel von ihm erzählt wird.
Um dem im Psalm angesprochenen Thema gerecht zu werden, sind zwei Ebenen zu unterscheiden: eine politische und eine spirituelle. Sie sind zu unterscheiden, jedoch nicht zu trennen und, was leider oft geschieht, auch nicht zu vermischen.
Die Eingrenzung der Gewalt durch das Recht
Beginnen wir mit der politischen Ebene. Sie reicht tief in die Geschichte der Menschheit zurück. Jede Gesellschaft steht vor der Frage, wie sie mit der in ihr immer wieder ausbrechenden Gewalt umzugehen gedenkt. Eine Antwort darauf ist die Erfindung des Staates. Der ältesten Staaten der Menschheit sind im 4. Jahrtausend v. Chr. in Ägypten und in Mesopotamien entstanden. In der ägyptischen Kultur gibt der Mythos von Horus und Seth dieser zivilisatorischen Errungenschaft eine Deutung. Horus, dessen Symbol das Auge ist, verkörpert das Recht, Seth, dessen Symbol die Hoden sind, die Gewalt.
Mit der Entstehung des Staates wird die Gewalt nicht beseitigt, sondern in den Dienst des Rechts gestellt. Die Aufgabe der an das Recht gebundenen Gewalt besteht darin, die unrechtmäßige Gewalt in Schranken zu halten. So stellt sich die "Wende zum Staat" als eine "Wende von der Gewalt zum Recht" dar, schreibt der Ägyptologe Jan Assmann: "Der Mythos von Horus und Seth begründet die Genese des Staates durch die Überwindung der Gewalt" (Ägypten. Eine Sinngeschichte, Darmstadt 1996, 55).
"Jeder tat, was ihm gefiel"
Im Alten Testament findet sich eine ähnliche Begründung für die Entstehung des Staates, nicht in Form einer mythischen, sondern einer geschichtlichen Erzählung. Am Ende des Buches der Richter wird erzählt, wie in der vorstaatlichen Zeit die Gewalt überhandnahm: Kämpfe der Stämme untereinander, Plünderungen, Vergewaltigungen und Frauenraub. Der Erzähler kommentiert: "In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was in seinen eigenen Augen recht war" (Ri 17,6; 21,25). Jeder einzelne und jede Sippe nahm für sich in Anspruch, das, was sie für ihr Recht hielten, mit Gewalt durchzusetzen. Wenn die frei fluktuierende Gewalt nicht durch eine übergeordnete Instanz gebunden wird, droht die Gefahr der Selbstzerstörung. Dies war ein Grund für die Entstehung des Königtums in Israel.
Das Buch der Richter erzählt in paradigmatischer Auswahl von Ausbrüchen der Gewalt in der vorstaatlichen Zeit Israels und deutet die Vorkommnisse als Plädoyer für das Königtum, allerdings nicht für ein usurpatorisches Königtum à la Abimelech (Ri 9), das sich und die Bevölkerung in den Untergang reißt, sondern für das davidische Königtum, das sich an das Recht hält. Deshalb geht die Prophetie dem Königtum voraus. Entsprechend wird im Buch Samuel zunächst der Prophet Samuel geboren und von Gott berufen (1 Sam 1–3). Seine Aufgabe wird es sein, denjenigen zum König zu salben, den der HERR erwählt hat (1 Sam 16,13). Der König muss mit Macht ausgestattet werden, wenn er dem Recht Anerkennung verschaffen soll. Deshalb heißt es im Loblied der Hanna, der Mutter Samuels: "Der HERR hält Gericht bis an die Grenzen der Erde. Seinem König gebe er Macht (‘ōz) und erhöhe das Horn seines Gesalbten" (1 Sam 2,10). Hier findet sich die gleiche Struktur wie in Psalm 21. In beiden Liedern begegnet das Wort "Macht": Gott gibt dem König von seiner Macht, damit dieser mit der ihm verliehenen Macht dem Recht Anerkennung verschafft: "JHWH, an deiner Macht (‘ōz) freut sich der König, und über deine Hilfe, wie jubelt er sehr!" (Ps 21,1).
Psalm 21 richtet sich, wie Psalm 20, an Salomo, den Nachfolger Davids. Vers 3: "Den Wunsch seines Herzens hast du ihm erfüllt (gegeben), und das Verlangen seiner Lippen hast du ihm nicht vorenthalten" spielt auf den Wunsch an, den Salomo im nächtlichen Traum dem HERRN gegenüber geäußert hat: "Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht! Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?" (1 Kön 3,9).
Der Staat ist nach biblischer Sicht nicht vom Teufel, sondern eine von Gott gewollte zivilisatorische Errungenschaft, allerdings nur ein Staat, der sich an das Recht hält.
Der Staat ist nicht vom Teufel
Der Staat ist nach biblischer Sicht nicht vom Teufel, sondern eine von Gott gewollte zivilisatorische Errungenschaft, allerdings nur ein Staat, der sich an das Recht hält. Die Perspektive des Rechts wird, wie wir gesehen haben, gleich im ersten Psalm eingespielt, wenn gesagt wird, dass der glücklich zu preisende Mann die Tora meditiert "bei Tag und bei Nacht". Damit ist der ideale König nach Dtn 17 gemeint. Dieser orientiert sich an der Tora, am Recht.
Das Alte Testament ist also alles andere als überholt. Es liefert eine theologische Legitimation des Rechtsstaates, eine der großen zivilisatorischen Errungenschaften. Die Erfahrung zeigt, dass kein universaler Friede ausbricht, wenn Staaten zerfallen, wenn das staatliche Gewaltmonopol kollabiert; wenn die an das Recht gebundene Macht zerfällt, setzt sich das Recht des Stärkeren durch. Die Politikwissenschaft spricht von zerfallenden bzw. zerfallenen Staaten (failing / failed states): "Prekäre Staatlichkeit gehört zu den großen politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, und die Dramatik dieser Entwicklung erwächst daraus, dass keine Alternative zur Ordnung des Staates erkennbar ist. Unter diesen Umständen ist Staatszerfall identisch mit Ordnungsverlust. Von einem damit verbundenen Freiheitsgewinn, wie ihn manche Marxisten und vor allem die Anarchisten propagiert haben, kann keine Rede sein" (Herfried Münkler / Grit Straßenberger: Politische Ideengeschichte. Eine Einführung, München 2016, 74).
Jesus und Paulus
Die Ausübung rechtmäßiger Gewalt widerspricht nicht der Botschaft Jesu, wie einige irrigerweise meinen. Wenn also der König die Feinde "an der Schulter packen und sie an ihren Gesichtern festbinden soll" (V. 13), macht er sich nicht schuldig; im Gegenteil: Er tut, was ihm kraft seines Amtes aufgetragen ist. Wie dieses Amt konkret auszuüben ist, ist eine Frage des Ermessens. Die alttestamentlichen Begriffe bewegen sich – kanonisch gelesen – in einer großen Bandbreite von wörtlich bis metaphorisch.
Die dem König verliehene Macht zum Kampf gegen die Feinde hat neben der politischen eine spirituelle Dimension.
Die weltliche Macht in dem ihr zustehenden Bereich anzuerkennen, daran hat auch Paulus die Gemeinde in Rom erinnert. Dabei setzt er implizit voraus – und diese Voraussetzung ist entscheidend –, dass es sich um rechtmäßige Gewalt handelt. Wenn das nicht der Fall ist, liegen die Dinge anders. Ansonsten gilt auch für die Jesusanhänger in der Hauptstadt des römischen Reiches: "Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der stattlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, sodass du ihre Anerkennung findest! Denn sie steht im Dienst Gottes für dich zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht nämlich im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der das Böse tut" (Röm 13,2–4).
Die dem König verliehene Macht zum Kampf gegen die Feinde hat neben der politischen eine spirituelle Dimension. Schon bei einem der ersten Auftritte Jesu erkannten seine Zeitgenossen, dass ihm eine besondere Macht (ἐξουσία) verliehen war (Mk 1,27). Was es mit dieser Macht auf sich hat und wie die frühen Christen unseren Psalm im Lichte der Jesus-Geschichte lasen – davon soll in der folgenden Auslegung gesprochen werden.
(Fortsetzung folgt)