Psalm 22 – "Er hat sein Angesicht nicht verborgen" (Teil 2)Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

Wenn der Ruf nach Gott aus tiefer Not vom Grunde der menschlichen Seele aufsteigt, dann, so bezeugt es Psalm 22, bleibt Gott nicht fern.

Bibel
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Der Beter von Psalm 22 leidet unter der Gottesferne, doch er ringt um die Gottesnähe. Am Ende des Klageliedes, das den ersten Teil des Psalms umfasst (V. 2–22), kommt es zu einer überraschenden Wende: "‛ănîtānî – Du hast mir geantwortet!" (V. 22b). Des Beters Klage und Bitte ("Rette mich vor dem Rachen des Löwen!") wurden erhört.

Aus dieser Erfahrung zieht der Beter im zweiten Teil (V. 23–32) umfassende Konsequenzen. Von der Gattung her gesehen, handelt es sich bei diesem Teil unseres Psalms um ein Danklied. Die zahlreichen Stichwortverbindungen zum ersten Teil zeigen allerdings, dass beide Teil zusammengehören, das Klagelied (V. 2–22) und das Danklied (V. 23–32).

Ich will erzählen

Wer etwas Außergewöhnliches erlebt hat, den drängt es gewöhnlich dazu, anderen davon zu erzählen. So geht es auch dem Beter unseres Psalms. Nicht aufgrund seiner Redseligkeit, sondern weil er in seiner Erfahrung einen universalen Geltungsanspruch vernommen hat, will und muss er anderen davon erzählen. Der Beter kann nicht schweigen von dem, was ihm widerfahren ist. Nicht nur die Angehörigen seines eigenen Volkes ("meine Brüder", "alle Nachkommen Jakobs", "alle Nachkommen Israels") sollen davon hören, sondern "alle Enden der Erde", und zwar nicht nur die jetzt Lebenden, sondern auch die zukünftigen Generationen, ja sogar die bereits Verstorbenen sind mit einbezogen:

23 Ich will erzählen von deinem Namen meinen Brüdern,
inmitten der Versammlung (qāhāl – ekklesía) dich loben:

  24 "Die ihr den HERRN fürchtet, lobt ihn!
Alle Nachkommen Jakobs, rühmt ihn!
Erschauert vor ihm, alle Nachkommen Israels!
25 Denn er hat nicht verachtet
und nicht verabscheut das Elend eines Armen,
und nicht verborgen sein Antlitz vor ihm,
und auf sein Schreien zu ihm hat er gehört."

26 Von dir (kommt) mein Lobgesang in zahlreicher Versammlung,
mein Gelübde will ich erfüllen vor denen, die ihn fürchten.
27 Essen sollen Elende und sich sättigen.
Loben sollen den HERRN, die ihn suchen.
Aufleben soll euer Herz für immer.

28 Gedenken sollen und sich hinkehren zum HERRN
alle Enden der Erde.
Niederfallen sollen vor deinem Angesicht
alle Geschlechter der Nationen.
29 Denn dem HERRN gehört das Königtum,
und er herrscht über die Nationen.
30 Haben gegessen und sind niedergefallen vor ihm
alle, die im Saft stehen auf Erden,
werden sich beugen alle, die in den Staub hinabsteigen,
und wer sein Leben nicht erhalten konnte.
31 Nachkommen werden ihm dienen.
Erzählen wird man vom Herrn einer (kommenden) Generation.
32 Kommen sollen sie und künden von seiner Gerechtigkeit
einem Volk, das noch geboren wird: Ja, er hat gehandelt!

Erfahrung und Zeugnis

In Psalm 22 spiegeln sich Struktur und Genese des biblischen Glaubens: Dieser versteht sich nicht als eine geniale Erkenntnis kluger Menschen, sondern als eine Einsicht, die aus einer zuteilgewordenen Erfahrung erwachsen ist. Der biblische Glaube gründet in einer Erfahrung, in einer Gotteserfahrung: "‛ănîtānî – Du hast mir geantwortet!" (V. 22b). Nach Ansicht unseres Beters handelt es sich bei dieser Erfahrung nicht um eine kontingente Belanglosigkeit, sondern um die Offenbarung einer Wirklichkeit, die, wenn sie ernst genommen wird, eine weltweite Veränderung in Gang setzen wird: die Bekehrung der Heidenvölker zum Gott Israels. Deshalb fordert unser Beter "alle Enden der Erde und alle Geschlechter der Nationen" auf, sich diesem Gott zuzuwenden und vor ihm niederzufallen: "Gedenken sollen und sich hinkehren zu JHWH alle Enden der Erde. Niederfallen sollen vor dir alle Geschlechter der Nationen" (V. 28). In den folgenden Psalmen 23–31 wird diese Bewegung in Gestalt einer Wallfahrt der Völker zum Tempel in Jerusalem konkretisiert: "Dann werde ich heimkehren (und wohnen) im Hause des HERRN für die Länge der Tage" (Ps 23,6).

Lebenswende

Die Antwort, die dem Beter zuteil wurde, hat sein Leben von Grund auf verändert. War er zuvor ein abscheulicher (vgl. Lev 11,41f) "Wurm und kein Mensch, der Leute Spott und verachtet vom Volk" (V. 7), so kann er jetzt "inmitten der Gemeinde" seinen Brüdern, den "Nachkommen Jakobs" das Gotteslob verkünden und von seiner Rettung erzählen (V. 23–25). Befand er sich zuvor in Todesgefahr ("Rette mich vor dem Rachen des Löwen"), so ist diese nun überwunden. Allerdings hat der Beter einiges dafür getan: Er hat zu Gott gerufen bei Tag und bei Nacht – wie seine Väter es in früheren Zeiten getan haben. Sah es zunächst so aus, als sei sein Rufen vergeblich, trat plötzlich eine Wende ein: "Du hast mir geantwortet" (V. 22). Der Beter war also nicht passiv, er hat nicht abgewartet, sondern war in einem hohen Maße aktiv, und doch kam die Erlösung aus seiner lebensbedrohlichen Not nicht von ihm und seinem Tun, sondern von Gott.

Kontemplation

Wir begegnen in unserem Psalm einem Grundgesetz der Kontemplation: Man kann etwas tun und muss etwas tun. In der theologischen Fachsprache bezeichnen wir dieses Tun als Disposition, als ein Sich-Ausrichten auf Gott. Unser Beter tut dies mit allen Fasern seiner Existenz. Er nimmt seine eigene Nichtigkeit wahr: "Ein Wurm bin ich, kein Mensch" (V. 7). Die Gottverlassenheit wird nicht verdrängt, nicht durch fromme Gedanken überspielt, sondern erfahren und durchlitten: "Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du antwortest nicht, und bei Nacht, und ich bekomme doch keine Ruhe" (V. 3). Schmerzhaft erinnert sich der Beter daran, dass es seinen Vätern in früheren Zeiten anders erging: "Zu dir schrien sie und wurden befreit" (V. 6). Es gibt einen Bruch zwischen dem Glaubenszeugnis seiner Gemeinschaft und seiner persönlichen Erfahrung, zwischen dem "erzählten Gott" (V. 4–6) und dem "erfahrenen Gott" (V. 2–3. 7–9.13–19). Dieser Bruch wird nicht mit frommen Gedanken überspielt. Erste Ansätze einer Bewusstseinserweiterung deuten sich an, als er auf den Anfang seines Lebens zurückschaut, als Gott ihn herausgezogen hat aus dem Bauch seiner Mutter (V. 10). In diesem Vorgang erkennt der Beter die Grundstruktur seiner Existenz: "Auf dich bin ich geworfen vom Schoß an, vom Bauch meiner Mutter an bist du mein Gott" (V. 11). Doch damit ist die Ausgangsfrage: "Warum hast du mich verlassen" noch nicht gestillt.

In der vorbehaltlosen Ausrichtung unseres Beters auf Gott scheint zunächst alles nur noch schlimmer zu werden. Im zweiten Teil des Klageliedes findet sich eine der ausführlichsten Feindklagen innerhalb des Alten Testaments (V. 13–19). Auch diese Erfahrung spiegelt sich in aller Regel auf dem kontemplativen Weg, weshalb viele davor zurückschrecken. Johannes vom Kreuz spricht von der dunklen Nacht der Sinne und – darüber hinausgehend – von der dunklen Nacht des Geistes. Es handelt sich um einen tiefgreifenden Prozess der Reinigung.

Eine Verkündigung, die diesen Prozess nicht durchläuft, bleibt in der ein oder anderen Form verschattet. Das bekannte Gesetz "Lex orandi – lex credendi – Das Gesetz des Betens bestimmt das Gesetz des Glaubens" trifft in einem tieferen Sinne zu, als es gewöhnlich verstanden wird. Unser Beter macht keine frommen Sprüche, sondern spricht aus eigener Erfahrung; als jemand, der etwas durchgemacht hat, der "durch die Hölle" der wilden Tiere gegangen ist und dem eine Antwort gegeben wurde, die er sich nicht ausgedacht, die er auch nicht von den Vätern übernommen und nachgeplappert, sondern die er selbst vernommen hat: "‛ănîtānî – Du hast mir geantwortet!" Nach diesem Ereignis kann er sich wieder in die "große Erzählung" seiner Vorfahren einreihen und "inmitten der Versammlung" (V. 23) ihre Wahrheit bezeugen, weil er sie selbst erfahren und erkannt hat.

Eine Freude, die bleibt

Bei der dem Beter zuteilgewordenen Erfahrung geht es nicht um etwas Vorübergehendes: eine Freude, die kommt und wieder geht, sondern um eine Wirklichkeit, die bleibt. Diese Erfahrung möchte der Beter seinen Adressaten ans Herz legen: "Aufleben soll euer Herz für immer" (V. 27). Erst wenn das der Fall ist, kann in einem biblischen Sinn von authentischer Spiritualität die Rede sein. Ist sie noch an Emotionen gebunden, die kommen und wieder gehen, dann halten wir uns noch im Vorhof des Allerheiligsten auf. Auch Paulus wünscht den Hörern seiner Botschaft eine Freude, die nicht mehr vergeht: "Freut euch im Herrn allezeit! Noch einmal sage ich: Freut euch" (Phil 4,4). Auch hier wird der bleibende Grund der Freude genannt: "en kyrío – im Herrn". Außerhalb von ihm gibt es nur die vergängliche Freude der Welt. Für unseren Beter hat sich alles von Grund auf verändert, gleichwohl bleibt der Weg zum Haus des HERRN ein Weg, der durch das Tal des Todesschattens führt (Ps 23).

Da hilft nur noch Beten

Die dem Beter durch Erfahrung zuteilgewordene Erkenntnis Gottes (cognitio Dei experimentalis) ist von universaler Bedeutung. Sie soll allen bekannt gemacht werden, auch denen, die noch nicht geboren sind, den kommenden Generationen (V. 32). Der Gott, der allen verkündet werden soll, ist ein Gott, der gehandelt hat (V. 32) und es auch weiterhin tut. Gott handelt am Menschen, jedoch nicht ohne seine Beteiligung. Ähnlich wie im Buch Ijob steht im Hintergrund unseres Psalms die Frage: "Was kann ich tun, wenn nichts mehr zu machen ist?" Die Antwort lautet: Da hilft nur noch Beten. Und dieses Beten ist kein richtungsloses Jammern, sondern es beginnt mit einer an Gott gerichteten Klage: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (V. 2), und es endet mit der Einladung zum universalen Gotteslob: "Niederfallen sollen vor deinem Angesicht alle Geschlechter der Nationen" (V. 28).

Die Geschichte christlicher Spiritualität lehrt uns, dass diese Form des Betens geübt sein will. Wenn der Ruf nach Gott aus tiefer Not vom Grunde der menschlichen Seele aufsteigt, dann, so bezeugt unser Psalm, bleibt Gott nicht fern: "Denn er hat nicht verachtet und nicht verabscheut das Elend eines Armen, und nicht verborgen sein Antlitz vor ihm und auf sein Schreien zu ihm hat er gehört" (V. 25).

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