Die vier Evangelisten berichten von insgesamt drei unterschiedlichen letzten Worten Jesu am Kreuz. Das sehr wahrscheinlich älteste Evangelium nach Markus zitiert die Klage aus Ps 22,2; dem schließt sich Matthäus an. Lukas akzentuiert anders und legt Jesus Ps 31,6 in den Mund. Johannes hat die Szene der Kreuzigung noch einmal anders gestaltet:
Mk 15,36: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Mt 27,46: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Lk 23,46: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.
Joh 19,30: Es ist vollbracht!
Verzweiflung oder vertrauensvolle Klage?
Kontrovers wird die Frage diskutiert, wie die Klage Jesu im Markus- und Matthäusevangelium zu verstehen ist. Im Wesentlichen stehen zwei Deutungen einander gegenüber: Die eine versteht den Psalmvers als eine in sich stehende Aussage und als Ausdruck von Verzweiflung und tiefer Gottverlassenheit; möglicherweise, so einige Vertreter dieser Richtung, sei Jesus am Ende seines Lebens zusammengebrochen und an Gott verzweifelt. Die andere Deutung liest den Klageschrei Jesu am Kreuz im Kontext des gesamten Psalms als den Beginn einer Klage, die über die Erfahrung der Rettung zum universalen Lobpreis Gottes führt. Mit anderen Worten: Die zuletzt genannte, traditionelle Deutung seit der frühen Kirche liest die Klage Jesu am Kreuz im Lichte von Ostern. Prominente Stimmen des 20. Jahrhunderts sehen darin eine dogmatisch motivierte Übermalung der Menschheit Jesus und eine Entschärfung der Theodizeefrage. So stehen bei der Deutung zwei Jesus-Bilder einander gegenüber: "der gottverlassene Jesus des 20. Jahrhunderts" (Ulrich Luz) und der von den Toten auferstandene Gottessohn des christlichen Glaubensbekenntnisses. Für beide Positionen gibt es bis in die Gegenwart prominente Stimmen.
Psalm 22 als Skript der Passionsgeschichte
Aus exegetischer Sicht könnte sich die Waage in eine der beiden Richtungen neigen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass Markus und Matthäus in der Passionsgeschichte nicht nur den ersten Vers von Psalm 22 einspielen. Für Markus läuft die gesamte Passionsgeschichte nach dem Skript von Psalm 22 ab, allerdings zitiert er nur aus dem ersten Teil, dem Klagelied. Matthäus geht einen wesentlichen Schritt darüber hinaus und spielt Verse aus dem gesamten Psalm, also auch aus dem Dankgebet des zweiten Teils, in die Erzählung von Passion und Auferstehung ein.
Zu beachten ist, dass die Evangelisten den Psalm nicht zitieren, sondern ihm mit dem Personal der Passions- und Ostererzählungen "inszenieren und von ihren Figuren tun und sprechen lassen" (Dieter Böhler, Psalmen 150, HThK AT, Freiburg 2021, 419). Wenn wir uns zunächst auf die Passionsgeschichte im engeren Sinne konzentrieren, fällt auf, dass die Evangelisten den Psalm von hinten nach vorne einspielen:
Ps 22,19: Verlosung der Kleider (Mk, Mt, Lk, Joh)
Ps 22,8f: Verspottung durch die Vorübergehenden: Er rette sich selbst (Mk, Mt, Lk)
Ps 22,2: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" (Mk, Mt)
Alle vier Evangelisten spielen auf die Verlosung der Kleider beim unmittelbar bevorstehenden Tod des Gerechten in Ps 22,19 an: "Sie verteilten meine Kleider unter sich, und über mein Gewand warfen sie ein Los." In Mt 27,35 heißt es: "Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider, indem sie ein Los warfen" (vgl. ähnlich Mk 15,24 und Lk 23,34). Johannes baut daraus eine kleine Szene (19,23f).
Der Spott der Leute: "Er soll ihn (sich) retten"
Markus und Matthäus spielen im Rahmen der Verspottung Jesu das Kopfschütteln der am Gekreuzigten Vorübergehenden ein: "Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe" (Mk 15,29; Mt 15,29). In der griechischen Septuaginta-Fassung von Ps 22,8 heißt es: "Alle, die mich anschauten, verlachten mich, redeten mit den Lippen, schüttelten den Kopf."
Alle drei Synoptiker verwenden auch das Motiv möglicher Rettung: "Auch die führenden Männer verlachten ihn und sagten: Andere hat er gerettet (ésōsen), nun soll er sich selbst retten (sōsátō), wenn er der Christus Gottes ist, der Erwählte" (Lk 23,35; vgl. Mk 15,30; Mt 27,41–43). Darin liegt eine Anspielung an Ps 22,9 vor: "Wälze ab auf JHWH! Er soll ihn retten (Septuaginta: sōsátō)! Er soll ihn entreißen, wenn er Gefallen an ihm hat!"
Im Hintergrund steht eine Frage, die Christen bis in unsere Zeit hinein Probleme bereitet: Wie kann Jesus, wenn er als Sohn Gottes an göttlicher Macht teilhat, einen derart schändlichen Tod erleiden? Die Evangelisten gehen davon aus, dass Jesus tatsächlich die Macht gehabt hat, dem Leiden auszuweichen und vom Kreuz herabzusteigen (vgl. Mt 26,53; Joh 18,6). Doch aus Gehorsam gegenüber Gott verzichtet er auf diese Möglichkeit (Mt 26,39.54). Gerade im Gehorsam bewährt sich seine Gottessohnschaft. Jesus lebt, was er sagt, bis in sein Sterben hinein. Im Anschluss an seine erste Leidensankündigung hatte er gesagt: "Denn wer sein Leben retten (sõsai) will, wird es verlieren; wer sein Leben aber um meinetwillen verliert, wird es retten (sôsei)" (Lk 9,24; vgl. Mt 16,25; Mk 8,35). Die Evangelien bezeugen, dass sich dieses Wort im Leben und Sterben Jesu bewahrheitet hat. Jesus ist nicht vom Kreuz herabgestiegen, er hat das Leid bis auf des Bechers Grund getrunken (Joh 18,11), und Gott hat seinen Sohn durch den Tod hindurch gerettet. Damit ist das Grundgesetz des christlichen Lebens benannt, das in der Kontemplation eingeübt wird: die vorbehaltlose Hingabe an den Willen Gottes: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer sein Leben liebt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben" (Joh 12,24f).
Matthäus: "Verkündet meinen Brüdern"
Mehr noch als Markus möchte Matthäus zeigen, dass der Weg Jesu in der Passion der Schrift entspricht (Mt 26,54–56). Entsprechend hat er die Bezüge zu Psalm 22 über die Passion hinaus auf die Begegnung mit dem Auferstandenen ausgeweitet. Matthäus greift also nicht nur den ersten Teil des Psalms, das Klagelied, auf, sondern auch den zweiten Teil, das Lob- und Dankgebet. Damit wird die Jesus-Geschichte in die gesamte Dynamik von Psalm 22 eingebunden: von der Not der Gottesferne über die Rettung aus dem Tod zur Verkündigung des Auferstandenen an die Brüder (Mt 28,10) und "alle Völker" (Mt 28,19) der Erde. Der evangelische Neutestamentler Matthias Konradt schreibt in seinem Kommentar, dass der Klageruf Jesu nicht isoliert zu verstehen ist, sondern "dass Matthäus der gesamte Psalm vor Augen stand. (…) Die Verlassenheit ist temporär und mitnichten das (fortan) bestimmende Moment der Beziehung zwischen Gott und dem Beter" (Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 445).
In 28,10 nennt Matthäus die Jünger zum ersten und einzigen Mal Brüder. Das dürfte kein Zufall sein. Nachdem die zwei Frauen vom Engel die Botschaft der Auferstehung vernommen hatten, trat der Auferstandene ihnen auf ihrem Weg zu den Jüngern entgegen und sagte zu ihnen: "Fürchtet euch nicht. Geht und verkündet meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa gehen, dort werden sie mich sehen." Sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um eine Anspielung an Ps 22,23, wo der vor (aus) dem Tod gerettete Gerechte sagt: "Ich will erzählen von deinem Namen meinen Brüdern, inmitten der Versammlung dich loben." Mit dem Missionsauftrag am Ende des Evangeliums: "Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe" (Mt 28,19) spielt Matthäus sehr wahrscheinlich auf die universale Ausweitung des Gotteslobes und die Hinwendung der Völker zum Gott Israels am Ende von Psalm 22 an: "Gedenken sollen und sich hinkehren zum Herrn alle Enden der Erde. Niederfallen sollen vor deinem Angesicht alle Geschlechter der Nationen" (Ps 22,28).
Markus: Das Bekenntnis des römischen Hauptmanns
Auch in der Passionserzählung des Markusevangeliums könnte noch der zweite Teil des Psalms, das Bekenntnis der Völker zum Gott Israels, anklingen, und zwar im Bekenntnis des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz: "Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn" (Mk 15,39). Diesem Bekenntnis kommt im Markusevangelium eine herausgehobene Bedeutung zu. Denn der römische heidnische Hauptmann ist der erste Mensch im Evangelium des Markus, der das vollgültige christologische Bekenntnis zu Jesus ausspricht – und zwar noch vor der Auferstehung und ohne dass ihm irgendein äußeres, außergewöhnliches Zeichen wie im Matthäusevangelium (Mt 27,54) einen Anlass dazu gegeben hätte. "Seine Äußerung hat als vollgültiger Ausdruck des christlichen Glaubens zu gelten" (Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/2, Zürich u. a. 1979, 325). Keiner von den Jüngern, keiner von denen, die Jesus in Galiläa und auf dem Weg nach Jerusalem gefolgt waren, kommt im Markusevangelium zu dieser Erkenntnis. Bisher hatte nur bei der Taufe Jesu und bei seiner Verklärung eine Stimme aus dem Himmel dieses Bekenntnis gesprochen (Mk 1,11; 9,7).
Damit wird eine verbreitete Ansicht infrage gestellt, die so aussieht: In tiefer Gottverlassenheit sei Jesus am Kreuz gestorben: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34). Die Hoffnungen, die seine Anhänger auf ihn gesetzt hatten, seien an der Realität dieses schändlichen Todes zerbrochen. Wer einen solchen Tod stirbt, sei ein von Gott Verfluchter und könne nicht der Messias oder gar der Sohn Gottes sein. Die große Wende komme erst durch Ostern. Erst im Lichte der Ostererfahrung werde klar, wer Jesus in Wahrheit war.
Dieser verbreiteten Ansicht steht das Zeugnis des römischen Hauptmanns im Markusevangelium entgegen. Ohne ein äußeres Zeichen – kein Erdbeben, keine sich öffnenden Gräber, keine Erscheinung des Auferstandenen – erkennt dieser Heide an der Art und Weise, wie Jesus stirbt, dass dieser der Sohn Gottes war. Im Matthäusevangelium gelangen die heidnischen Soldaten – allerdings nicht als erste (vgl. Mt 14,33; 16,16) und erst aufgrund äußerer Zeichen – zu dieser Einsicht: "Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Jesus bewachten, das Erdbeben bemerkten und sahen, was geschah, erschraken sie sehr und sagten: Wahrhaftig, Gottes Sohn war dieser" (Mt 27,54). Die im Matthäusevangelium geschilderten Ereignisse "sind Gottes Antwort auf das Geschehen" (Konradt, ebd. 446). Wie die Klage des Beters in Ps 22,22, so bleibt auch Jesu Gebet nicht unerhört. Wie das Bekenntnis der Soldaten, die Jesus kurz zuvor noch verspottet hatten (Mt 27,27–31), "Ausdruck von Reue und Umkehr" ist (Konradt, ebd. 448), so die in Aussicht gestellte Bekehrung der heidnischen Völker am Ende von Psalm 22: "Gedenken sollen und sich hinkehren zum HERRN alle Enden der Erde. […] Nachkommen werden ihm dienen. Erzählen wird man vom Herrn einer (kommenden) Generation. Kommen sollen sie und künden von seiner Gerechtigkeit einem Volk, das noch geboren wird: Ja, er hat gehandelt!" (Ps 22,31f).
Klage im Vertrauen auf Rettung, keine Verzweiflung
So schließen wir uns dem Urteil Gerhard Lohfinks an: "Jedenfalls widerspricht es dem Duktus alttestamentlichen Betens, wenn von manchen Autoren behauptet wird, der Ruf ‚Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen‘ bringe letzte, tiefste Verzweiflung zum Ausdruck. Nicht nur, dass der 22. Psalm durchsetzt ist mit Rufen des Vertrauens (‚vom Mutterschoß bist du mein Gott‘: Vers 11), nicht nur dass der Psalm am Ende vom Völkermahl in der Gottesherrschaft spricht (Verse 28–32) – auch schon der Anfang des Psalms ist kein Verzweiflungsschrei, sondern Klage, und das ist in den Psalmen etwas völlig anderes als Verzweiflung. Psalm 22 kennt jeweils beides: Dass Gott schweigt und das er dann doch antwortet; die schreckliche Verborgenheit Gottes und das Zeigen seines Angesichtes (Vers 25); die letzte Einsamkeit der Beters und die neu geschenkte Gemeinschaft" (Jesus von Nazareth – Was er wollte, wer er war, Freiburg i. Br. 32012, 403f).