Psalm 22 – "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

Dem Markus- und Matthäusevangelium zufolge starb Jesus mit der Eingangsklage von Ps 22,2 auf den Lippen: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Einige Exegeten schließen daraus, Jesus sei am Ende seines Lebens an Gott verzweifelt. Eine sorgfältige Lektüre des Psalms wird zeigen, dass diese Deutung dem anspruchsvollen Text nicht gerecht wird. (Teil 1)

Bibel
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Psalm 22 steht in der Mitte des ersten Davidpsalters (Ps 2–41). Den synoptischen Evangelien dient er als Vorlage für die Passionserzählung. Dem Markus- und Matthäusevangelium zufolge starb Jesus mit der Eingangsklage von Ps 22,2 auf den Lippen: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46; Mk 15,34). Einige Exegeten schließen daraus, Jesus sei am Ende seines Lebens an Gott verzweifelt. Eine sorgfältige Lektüre des Psalms im Kontext des Alten Testaments sowie in den Passionserzählungen der Evangelien wird zeigen, dass diese Deutung dem anspruchsvollen Text nicht gerecht wird. Die Rettung des leidenden Gerechten durch Gott, die eine Offenbarung vor den Augen aller Völker ist, hat die Christologie des Neuen Testaments wesentlich bestimmt.

Klage und Dank

Der mehrfache Wechsel zwischen abgrundtiefer Klage, Vertrauensbekenntnis und Lobpreis Gottes stellt ein Verständnis des Psalms vor große Herausforderungen. Ein Teil der Forschung versucht die Probleme so zu lösen, dass sie mit einem sukzessiven Wachstum des Textes rechnet. Sie versteht den Psalm als ein Mischgebilde heterogener Gattungselemente (Klage, Bitte, Lob und hymnische Lobwünsche mit Zukunftsansagen), das über einen längeren Zeitraum hin entstanden sei. Dieser Richtung der Forschung fällt es offensichtlich schwer, komplexe spirituelle Prozesse und die aus ihnen hervorgehenden theologischen Reflexionen zusammenzudenken. Wir werden sehen, dass der philologische Befund der These einer ursprünglichen Einheitlichkeit des Psalms nicht entgegensteht.

Der Psalm gliedert sich nach der Überschrift in zwei Teile, ein Klagelied (V. 2–22) und ein Danklied (V. 23–32). Es stellt sich die Frage, wie diese Teile miteinander zusammenhängen. Haben sie ursprünglich nichts miteinander zu tun? Oder spiegelt sich in ihrer Abfolge ein Prozess, der wesentlich zur inneren Dynamik des Klagegebetes gehört?

Etwas komplizierter wird die Sache noch dadurch, dass sich innerhalb des Klageliedes einige Male ein abrupter Wechsel zwischen Klage und Vertrauen vollzieht. Wie ist dieser Wechsel zu verstehen? Offen bleibt für einige Interpreten die Frage, ob die Klage des Beters von Gott erhört wurde. Wenn das der Fall sein sollte, dürfe das Rückwirkungen auf das Verständnis der Klage Jesu haben. Die Gliederung des Psalms, in der sich in gewisser Weise die Grundstruktur des biblischen Glaubens spiegelt, stellt sich wie folgt dar:

Überschrift

2–22 Klagelied
2–3 Anrufung und Klage:
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!"
4–6 Erinnerung an die Geschichte:
"Dir vertrauten unsere Väter und du hast sie gerettet!"
7–9 Klage über die Feinde:
"Ein Wurm bin ich, kein Mensch, verachtet vom Volk."
10–11 Persönliche Erfahrung:
"Vom Bauch meiner Mutter an bist du mein Gott!"
12 Bitte: "Halte dich nicht fern von mir!"

13–19 Massive Klage über die Feinde:
"Eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist."
20–22 Bitte und Umschwung:
"JHWH, halte dich nicht fern! … hast du mir geantwortet!

23–32 Danklied
12–27: Lob- und Dankgelübde
"vor meinen Brüdern, inmitten der Versammlung"
28–32: Ausweitung des Lobes auf alle Nationen,
die Toten und künftige Generationen

Die Gottesferne

Der Psalm beginnt mit einer doppelten Anrufung Gottes als "Eli", "mein El", das heißt: "mein Gott": "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, fern meiner Rettung sind die Worte meines Schreiens. Meine Gottheit, ich rufe bei Tag, aber du antwortest nicht, und bei Nacht, und ich bekomme doch keine Ruhe."

Als Bezeichnung für Gott begegnet im Alten Testament gewöhnlich das Wort Elohim, etwa 2.600 Mal. Häufiger noch kommt der Gottesname JHWH vor, etwa 6.838 Mal. Die Gottesbezeichnung El ist seltener anzutreffen, insgesamt etwa 238 Mal. Dass mit ihr ein besonderer Akzent gesetzt wird, scheint auch den Evangelisten Markus und Matthäus bewusst gewesen zu sein, denn der Text wird im griechisch geschriebenen Evangelium in seiner ursprünglichen hebräischen, genauer: aramäischen Fassung zitiert und anschließend übersetzt: Eli, Eli, lema sabachtani? – Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46; vgl. Mk 15,34).

Die Verwendung der Gottesbezeichnung El innerhalb des Alten Testaments weist in eine Richtung, die für das Verständnis unseres Psalms von Bedeutung ist. Auf der einen Seite betont El die Distanz zwischen Gott und Mensch sowie zwischen dem einen Gott Israels und den Göttern der Völker; so etwa in Hos 11,9: "Denn ich bin Gott (El), nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte" und in Num 23,19: "Gott (El) ist kein Mensch, der lügt, kein Menschenkind, das etwas bereut" (vgl. 1 Sam 15,29). Die Gottesbezeichnung El kommt gehäuft im Buch Ijob und bei Deuterojesaja vor. Hier wird die Unvergleichlichkeit Gottes betont: "Mit wem wollt ihr Gott (El) vergleichen und welches Bild ihm gegenüberstellen?" (Jes 40,18). Die Antwort kann nur lauten: Gott ist mit niemandem und mit nichts zu vergleichen. Er ist der schlechthin Andere. Dieser Aspekt tritt besonders in den Elihureden des Ijobbuches hervor: "Siehe, Gott (El) ist groß, wir begreifen ihn nicht, unerforschlich ist die Zahl seiner Jahre" (Ijob 34,26).

Auf der anderen Seite wird von El, insbesondere Eli, "mein Gott", gewöhnlich dann gesprochen, wenn der Gedanke der Rettung mit Gott in Verbindung gebracht wird. So beispielsweise im Siegeslied am Schilfmeer: "Meine Stärke und mein Lied ist der HERR, er ist mir zur Rettung geworden. Er ist mein Gott (Eli)" (Ex 15,2). Vor diesem Hintergrund heißt "mein El" heißt so viel wie "mein Retter-Gott", von dem ich Hilfe und Antwort erwarten darf. Distanz und überraschende Nähe verbinden sich in besonderer Weise mit der Gottesbezeichnung El. Sie wird gesteigert durch Hinzufügung des Pronomens: mein Gott. Genau diese Spannung durchzieht unseren Psalm: Er ist mein Gott und zugleich ist er mir fern (Verse 2, 12, 22). Warum ist das so?

Die Anrufung ist nicht mit einer Bitte, sondern mit einer Klage verbunden. Sie besagt: Es ist gleichsam gegen die Natur dieses Gottes, mich im Stich zu lassen. Trotz meines nicht unverständlichen Schreiens ("Worte meines Schreiens") bleibt eine nicht zu überbrückende Entfernung, eine räumliche ("fern") und zeitliche ("bei Tag und bei Nacht") Distanz. Thema des Psalms ist die Gottesferne. Nach Gründen dafür wird nicht gefragt. Nirgends wird gesagt, dass der Beter eine persönliche Schuld auf sich geladen habe. Diese Sicht wird, ähnlich wie im Buch Ijob, bis zum Schluss durchgehalten. Die Gottesferne scheint grundlos zu sein. Gott, der mir als "mein Gott" doch eigentlich nahe sein und auf mein Schreien hören müsste, ist mir fern und hört nicht. Wie kann das sein?

Das Vertrauen der Väter

In den folgenden Versen 4–6 findet ein markanter Umbruch statt. Das Wort "ich" kommt nicht mehr vor; in den ersten beiden Versen 2–3 hatte der Beter siebenmal "ich" bzw. "mein" gesagt (im Hebräischen in Form von Suffixen). Jetzt wechselt er ins "wir". Sein Blick geht zurück in die Geschichte seines Volkes, wie "unsere Väter" in früheren Zeiten auf Gott vertraut und dabei "nicht zuschanden geworden waren". Dreimal kommt in zwei Versen das Wort "vertrauen" vor. Der Beter bezieht es noch nicht auf sich, doch er weiß sich einer Gemeinschaft zugehörig ("unsere Väter"), die in ihrer Geschichte auf Gott vertraut hat und dabei erhört wurde; daran erinnert er Gott und sich selbst:

4 Doch du bist heilig
und du thronst über den Lobgesängen Israels!
5 Auf dich vertrauten unsere Väter!
Sie vertrauten und du hast sie gerettet!
6 Zu dir riefen sie und wurden befreit,
auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden!

Die ersten beiden Abschnitte entwerfen einen denkbar großen Gegensatz: Früher existierte der Zusammenhang von "zu Gott rufen" und "befreit werden" (V. 4–6). Warum ist das jetzt nicht mehr so (V. 2–3)? Der Wechsel der Blickrichtung von sich weg hin zu "unseren Vätern", von der Gegenwart in die Vergangenheit, ist ein erster Schritt der Desidentifikation mit einem Ich-Konzept – ein zentrales Element der kontemplativen Übung. Ausgangspunkt ist die eigene Not der Gottesferne (V. 2–3). Sie wird nicht geleugnet, doch – und das ist entscheidend – die Wahrnehmung fixiert sich nicht darauf. Der Beter identifiziert sich nicht damit; seine Identität geht nicht darin auf. Vers 4 deutet an, dass die in Vers 2 beklagte Gottesferne ("fern meiner Rettung sind die Worte meines Schreiens") nicht unüberbrückbar zu sein scheint. Der Raum zwischen dem Beter auf Erden und Gott, der im Himmel thront (Koh 5,1), ist nicht leer, sondern er wird gefüllt von den "Lobgesängen Israels". Gott thront in unserem Psalm nicht über den Wolken, sondern "über den Lobgesängen Israels".

Ein Wurm bin ich

In den folgenden Versen 7–9 wechselt die Blickrichtung erneut abrupt, von ganz oben, dem "Thronen Gottes über den Lobgesängen Israels", nach ganz unten, zum Wurm, der auf der Erde kriecht, mit dem sich der Beter identifiziert, vom "du aber" (V. 4) zum "ich aber" (V. 7):

7 Ich aber – ein Wurm, kein Mensch,
der Spott der Leute, verachtet vom Volk.
8 Alle, die mich sehen, verhöhnen mich,
zischen mit den Lippen, schütteln den Kopf:
9 "Wälz ab auf JHWH!" "Er soll ihn retten!"
"Er soll ihn entreißen, wenn er Gefallen an ihm hat!"

Ausgeschlossen aus der menschlichen Gemeinschaft, nimmt der Beter deren Verachtung wahr und lässt sie in Form von Zitaten zu Wort kommen. Die Leute geben zu verstehen und sprechen aus, was der Beter offensichtlich selbst befürchtet: dass Gott kein Gefallen an ihm hat und ihn deshalb nicht rettet. In Psalm 18,20 hatte es geheißen: "Er [JHWH] riss mich heraus, denn er hatte Gefallen an mir." Jetzt reißt JHWH ihn nicht heraus – hat er also kein Gefallen an ihm? Spott, Verachtung und Hohn der Leute und des Volkes nähren den Selbstzweifel des Beters.

Aus dem Bauch der Mutter

Der folgende Abschnitt wechselt erneut vom "Ich aber" (v. 7) zum "Ja, du!" (V. 10). Jetzt erinnert sich der Beter daran, dass Gott ihn einst, zu Beginn seines Lebens, "herausgezogen" hat. Ging es in der kollektiven Rettungserinnerung der Verse 4–6 um die Väter, so jetzt in der persönlichen Rettungserinnerung um die Mutter, um den lebensgefährlichen Vorgang der Geburt, dem "Herausziehen aus dem Bauch (der Mutter)" (V. 10).

Wer schon einmal im Rahmen eines Selbsterfahrungskurses ein Rebirthing erlebt hat, wundert sich nicht, dass dem Beter in der dramatischen Krise, in der er sich befindet, die Erinnerung an eine erste, elementare Rettung in den Sinn kommt, an den Durchbruch, den er in der Geburt (unbewusst) erlebt hat. Auch Ijob kommt gleich in seiner ersten großen Rede auf seine Geburt zu sprechen (Ijob 3,3), und auch er fragt: "warum?" "Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich? Weshalb nur kamen Knie mir entgegen, wozu Brüste, dass ich daran trank?" Bei unserem Beter sind die Vorzeichen andere: Mit Geburt und frühester Kindheit wurde ein Grundvertrauen in ihm aufgebaut, in dem Gott selbst gegenwärtig war. Damals, bei der Geburt, war Gott dem Beter ganz nah; er zog ihn heraus aus dem Bauch seiner Mutter. Jetzt ist er ihm fern (V. 2). Steht ihm eine zweite Geburt bevor, eine Geburt "von oben" (Joh 3,1–15), eine Geburt aus Gott?

10 Ja, du bist der, der mich herauszog aus dem Bauch,
der mich vertrauen ließ an den Brüsten meiner Mutter.
11 Auf dich bin ich geworfen vom Schoß an,
vom Bauch meiner Mutter an bist du mein Gott (Eli).
12 Halte dich nicht fern von mir,
denn die Bedrängnis ist nahe,
denn sonst ist kein Helfer da!

Von den Hörnern der Wildstiere

"Die Bedrängnis ist nahe" – so endete der vorangehende Abschnitt. Diese den Beter bedrängende Not wird nun ausführlich dargestellt (V. 13–19). Bilder wilder Tiere und sich auflösende menschlicher Körperteile prägen die Szene. Die Du-Anrede an Gott wird – mit einer Ausnahme (V. 16c) – verlassen. Der damalige Schöpfungsvorgang "im Bauch meiner Mutter" wird rückgängig gemacht: Der Mensch löst sich auf in seine Bestandteile, aus denen er zusammengesetzt ist, "wie ausgeschüttetes Wasser" (V. 15). Die Bilder wilder Tiere sind Metaphern für die Feinde, die den Beter von allen Seiten umzingeln.

Wenn Gott mit seiner Hilfe fern bleibt, trägt dann nicht doch er die Letztverantwortung für den bevorstehenden Tod, wenn der Beter klagt: "Du legst mich in den Todesstaub" (V. 16)? Hier liegt eine Anspielung an die Geschichte vom Sündenfall vor, die oft übersehen wird. Der aus dem Staub vom Ackerboden geformte Mensch (Gen 2,7) kehrt im Tod zum Staub zurück, so wird es ihm von Gott in Aussicht gestellt, nachdem er von jenem Baum gegessen hat, von dem zu essen Gott ihm verboten hatte (Gen 3,19). Mit dem Verteilen der Kleider (V. 19) steht der Tod unmittelbar bevor:

13 Umringt haben mich zahlreiche Stiere,
Bullen von Baschan haben mich umzingelt.
14 Aufgerissen haben sie gegen mich ihren Rachen,
wie ein reißender, brüllender Löwe.
15 Ausgeschüttet bin ich wie Wasser,
gelöst haben sich all meine Knochen.
16 Vertrocknet wie eine Scherbe ist meine Kraft,
die Zunge klebt mir am Gaumen,
du legst mich in den Staub des Todes.
17 Ja, Hunde haben mich umringt,
eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist,
wie ein Löwe – meine Hände und meine Füße!
18 Zählen kann ich all meine Knochen,
doch sie gaffen und starren mich an.
19 Sie verteilen meine Kleider unter sich,
und über mein Gewand werfen sie das Los.
20 Du aber, JHWH, halte dich nicht fern!
Meine Stärke, eile mir zu Hilfe!
21 Entreiße dem Schwert mein Leben,
der Pranke des Hundes mein Einziges!
22 Rette mich vor dem Rachen des Löwen,
von den Hörnern von Wildstieren her – hast du mir geantwortet!

Der letzte Vers dieser außergewöhnlichen Feindklage gibt Rätsel auf. Der masoretische Text sagt eindeutig: "Du hast mir geantwortet." Das kommt für einige Exegeten derart unvermittelt, dass sie die masoretische Punktation ändern und eine Parallele zum vorangehenden Vers rekonstruieren, so dass mit Vers 22 die Not noch nicht behoben ist. Doch textkritisch gesehen gibt es keinen hinreichenden Grund, den Text zu ändern.

Zu denken geben die Hörner der Wildstiere. Spontan wird man sie – in Verbindung mit den übrigen wilden Tier (Stiere, Bullen, Löwe, Hunde) – als Agenten des Todes ansehen. Doch der Eindruck täuscht. Die Hörner der Wildstiere sind im Alten Testament ein Bild der Rettung. In Ps 92,11 heißt es: "Du machst mich stark wie einen Wildstier, mit frischem Öl bin ich überschüttet, mein Auge blickt herab auf meine Verfolger, auf jene, die sich gegen mich erheben." In Num 23,22 lesen wir: "Gott (El!) hat sie aus Ägypten herausgeführt, er hat Hörner wie ein Wildstier" (vgl. Num 24,8; Dtn 33,17). Gott selbst wird mit einem Wildstier verglichen, der mit seinen Hörnern die Feinde Israels niederstößt.

Die massiven Bilder des Todes kippen am Ende der Feindklage plötzlich in ein Bild der Rettung um. Vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod kommt die Rettung: "Rette mich vor dem Rachen des Löwen – von den Hörnern von Wildstieren hast du mir geantwortet!" Tatsächlich können Wildstiere mit ihren Hörnern den Angriff von Löwen abwehren, wie in der Natur zu beobachten ist.

"Ich will erzählen von Deinem Namen"

Mit unserem Beter ist offensichtlich etwas geschehen; ein plötzlicher Umschwung. Ausgesprochen wird es mit nur einem Wort: ‛ănîtānî – Du hast mir geantwortet! Für den idealen Leser der Bibel, der alle Text kennt, gibt es zusätzlich noch einen versteckten Hinweis, gleichsam ein intertextuelles Zeichen: die Hörner der Wildstiere (Ps 92,11; Num 23,22). Was genau geschehen ist, wird nicht näher beschrieben. Aus der Geschichte der Spiritualität kennen wir derartige Phänomene: ein plötzlicher Durchbruch in eine Dimension, die bisher nicht zugänglich war, die fern zu sein schien.

Dieser Vorgang kann plötzlich und unvermittelt geschehen. Wir sprechen von einer Erleuchtung. Von Paulus und Augustinus sind uns derartige Durchbrüche glaubhaft überliefert. Gewöhnlich sprechen die Betroffenen gar nicht darüber, weil sie spüren, dass es kaum in Worte zu fassen ist. Die Authentizität einer derartigen Erfahrung erkennt man in der Regel an den Wirkungen, die sie bei den Betroffenen auslösen – mit der Bergpredigt gesprochen: an den Früchten (Mt 7,17). Und die können gewaltig sein, auch wenn sie sich erst in der Zeit in einem langen Reifungsprozess und unter Mühen entfalten. Wenn sie darüber sprechen, dann oft nur verhalten, in Andeutungen, die nur von jenen verstanden werden, von denen Augustinus sagt: "Qui novit veritatem, novit eam – Wer die Wahrheit kennt, kennt es" (Bekenntnisse, VII, 10,16).

Ist die Erfahrung echt, dann löst sie einen gewaltigen Umbruch aus, vergleichbar einer Geburt; der Beginn eines neuen Lebens, die Neuausrichtung des Bewusstseins (metá-noia), nicht aus einem ethisch motivierten Entschluss, sondern aus einer zuteilgewordenen Erfahrung: ‛ănîtānî – Du hast mir geantwortet! Genau dieser Umbruch wird in unserem Psalm bezeugt. Hatte es am Anfang geheißen: "fern meiner Rettung – du antwortest nicht" (V. 2–3), so jetzt: "Rette mich – du hast mir geantwortet" (V. 22). Mit den beiden Schlussteilen (V. 23–27 und 28–32) hat sich die Situation unseres Beters vollständig geändert. Er kann nicht schweigen über das, was ihm widerfahren ist. Doch geht es ihm dabei nicht um die Erfahrung, nicht um sich und sein Erlebnis, sondern um den, der ihm geantwortet hat. Von dessen Namen, nicht von seinem eigenen, will er seinen Brüdern erzählen:

23 Ich will erzählen von deinem Namen meinen Brüdern,
inmitten der Versammlung dich loben.

Was es mit diesem Zeugnis auf sich hat, darüber soll in der folgenden Auslegung gesprochen werden.

Fortsetzung folgt.

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