Psalm 23 – Gott, unser Hirte, unser GastgeberDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Vertrauen, Sicherheit und Ruhe: Generationen von Betern haben Trost in den Versen von Psalm 23 gefunden. Seine Auslegungs- und Interpretationsgeschichte ist beeindruckend.

Bibel
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Psalm 23 dürfte der bekannteste und beliebteste aller Psalmen sein. Wer ein Gebet zum Thema Vertrauen sucht, greift zu diesem Psalm: Der HERR ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Das Gottvertrauen, zu dem sich der Beter bekennt, weiß allerdings auch um die Gefahren, die es zu bestehen gilt, wenn das Bekenntnis nicht unglaubwürdig werden soll.

Die vier Strophen des Psalms sind kunstvoll aufeinander bezogen. In den beiden äußeren Strophen werden mit den Bildern einer lagernden Herde (V. 2) und dem Wohnen im Hause eines Gastgebers (V. 6) die Erfahrung von Ruhe, Erquickung und Sicherheit aufgerufen. Hier wird über JHWH in der 3. Person gesprochen. Die beiden mittleren Strophen weisen auf eventuell drohende Gefahren hin: das Wandern durch eine dunkle Schlucht (V. 4) und die Bedrohung durch Feinde (V. 5). Hier, wo Gefahren drohen, wird Gott in 2. Person Singular ("Du") angesprochen. Das Bild des Hirten bestimmt die ersten beiden Strophen, das Bild des königlichen Gastgebers die beiden letzten:

1a Überschrift

I. Bekenntnis und Vertrauen: Der Hirt nährt und leitet
1b Der HERR ist mein Hirte. Nichts wird mir fehlen. / 2 Auf grünen Weideplätzen lässt er mich lagern, zu Wassern der Ruhe führt er mich. / 3 Meine Lebenskraft bringt er zurück, er führt mich auf rechten Pfaden – treu seinem Namen.

II. Der Hirt führt und schützt
4 Muss ich auch gehen in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir. Dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.

III. Der Gastgeber gewährt Schutz und bereitet ein Mahl
5 Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Gesalbt mit Öl hast du mein Haupt, mein Becher ist übervoll.

IV. Wohnen im Hause des HERRN
6 Nur Glück und Güte werden mir folgen alle Tage meines Lebens, und ich werde heimkehren und wohnen im Hause des HERRN für die Länge der Tage.

Der gute Hirte (Pastor bonus)

Der Psalm beginnt mit einem Bekenntnis. Es ist denkbar kurz und besteht im Hebräisch aus nur zwei Wörtern eines Nominalsatzes: "JHWH ist mein Hirte". Betont wird das an erster Position stehende Subjekt: JHWH, niemand sonst, ist mein Hirte. Nur hier und im letzten Vers kommt der Gottesname vor.

Der Beruf des Hirten war im alten Orient allgemein bekannt. Nach Darstellung der Bibel geht er zurück bis in die früheste Geschichte der Menschheit (Gen 4,2). Der Übergang von der Lebensweise der Jäger und Sammler zu derjenigen der Hirten und Bauern fand in der Jungsteinzeit statt. Dahinter steht eine geniale Idee: Warum soll man den Tieren auf der Jagd auflauern und ihnen durch unwegsames Gelände folgen, um ihrer habhaft zu werden, wenn man das Gesetz des Handelns auch umkehren und sich die Tiere vertraut machen kann, sodass sie dem Menschen folgen? Das setzt allerdings voraus, dass sich das Verhalten des Menschen tiefgreifend ändert: Aus dem Jäger wird ein Hirte, der sich um die ihm anvertraute Herde kümmert und sie gegebenenfalls vor Feinden in Schutz nimmt.

In diesem Sinne verstanden sich auch die altorientalischen Könige als Hirten ihrer Völker. Ist der Hirte jedoch inkompetent oder denkt er nur an sich, geht die Herde zugrunde. Davon wissen die Propheten ein Lied zu singen: "Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! Müssen die Hirten nicht die Schafe weiden?" (Ez 34,2). Dramatisch wird es, wenn der Hirte selbst geschlagen wird. Dann zerstreut sich die Herde und fällt wilden Tieren zum Opfer (Ez 34,5f). Mit Jesu Tod tritt vorübergehend ein solcher Zustand ein: "Da verließen ihn alle Jünger und flohen" (Mt 26,56). Jesus hatte es kommen sehen, wenn er aus der Schrift das Gotteswort zitiert: "Ich werde den Hirten erschlagen, dann werden sich die Schafe der Herde zerstreuen" (Sach 14,7; Mt 26,31). Erst als Auferstandener wird er die zerstreute Herde erneut sammeln (Mt 26,32) und Petrus als ihren Hirten einsetzen, nachdem er sich zuvor dreimal vergewissert hat, ob dieser auch bereit ist, wie der gute Hirt seine Leben für die Schafe hinzugeben (Joh 21,15–19; 10,15): "Weide meine Schafe!"

Was heißt nun "JHWH ist mein Hirt"? Die erste Antwort darauf besteht wie das Bekenntnis ebenfalls aus nur zwei Wörtern: "Nichts wird mir fehlen." Im Folgenden wird dieses Bekenntnis entfaltet.

Der Weg

In der ersten und zweiten Strophe werden drei typische Szenen aus dem Leben eines Hirten gezeichnet: Grasen auf saftiger Weide (V. 2a), Lagern an ruhigen Wassern (V. 2b), Wandern durch ein Wadi (V. 4). Es gehört zu den vorzüglichen Aufgaben eines Hirten, in der trockenen Steppe frisches Gras und Wasserplätze ausfindig zu machen, damit die Herde genug zu fressen und zu trinken hat. Der Hirt muss wissen, wo sie zu finden sind. Führt der Weg durch ein tief eingeschnittenes Wadi, drohen Gefahren. Der Fluchtweg ist abgeschnitten, mit dem in diesen Breitengraden schnell einsetzenden Sonnenuntergang wird es unversehens dunkel. Der Text spricht wörtlich von der "Schlucht des Todesschattens" (V. 4). Stock und Stab sind zwei zu unterscheidende Werkzeuge des Hirten: Mit dem Stock (šebæṭ) ist der Schlagstock gemeint, die Keule, mit der feindliche Tiere abgewehrt werden. David, der ein Hirte war, sagt von sich: "Dein Knecht hat für seinen Vater die Schafe gehütet. Wenn ein Löwe oder ein Bär kam und ein Lamm aus der Herde wegschleppte, lief ich hinter ihm her, schlug auf ihn ein und riss das Tier aus seinem Maul. Und wenn er sich dann gegen mich aufrichtete, packte ich ihn an der Mähne und schlug ihn tot" (1 Sam 17,34f).

Der Stab (miš‘ænæt von š‘n "sich stützen") dagegen ist der lange Hirtenstab, auf den sich der Hirte stützt, wenn er steht, und der, wenn er auf steinigem Grund geht, einen rhythmischen Ton erzeugt, der den Schafen, die keinen guten Orientierungssinn haben, das beruhigende Wissen seiner kraftvollen Gegenwart gewährt. Mit dem Stab kann der Hirt die Schafe an steilen Hängen stützen und, wenn es sein muss, einzelne Schafe antreiben, die in Gefahr stehen, sich zu verirren (vgl. Mt 18,12–14; Lk 15,4–7) und den Anschluss an die Herde zu verlieren. Der Bischofsstab (baculus) stammt von diesem Stützstab ab, nicht vom Schlagstock (virga), auch wenn der Apostel Paulus in einem Moment emotionaler Erregung den Korinthern droht, mit dem Stock (virga) zu ihnen zu kommen (1 Kor 4,21).

Die Ankunft

In der dritten Strophe (V. 5) wechselt das Bild. Aus dem Hirten wird ein Gastgeber, das Gehen durch das Tal des Todesschattens gelangt an ein Ziel. Die Lebenswelt der Schafe wandelt sich in die der Menschen: Statt saftiger Weiden und Wasserstellen ein reich gedeckter Tisch und ein überfließender Becher! Die Feinde müssen draußen bleiben. Man gewinnt den Eindruck, als sei ein einsamer Wanderer in einem Zelt eingekehrt; ihm wird auf der Flucht vor Feinden Schutz gewährt und er wird äußerst zuvorkommend empfangen und bewirtet: Du salbst mein Haupt mit Öl (vgl. Mt 26,6–13; Mk 14,3–9; Lk 7,36–50).

Gekommen, um zu bleiben

Ist in der ersten Strophe das Lagern auf grünen Weideplätzen eine vorübergehende Rast, führt der Weg in der zweiten Strophe durch ein finsteres Tal und wird der Wanderer in der dritten Strophe bei seiner Ankunft (in einem Zelt) äußerst zuvorkommend empfangen und bewirtet, so geht die vierte Strophe noch einen Schritt darüber hinaus. Jetzt ist ausdrücklich von einem Haus die Rede, in dem der Beter alle Tage seines Lebens, das heißt: für immer wohnen darf. Keine Feinde, sondern "nur Glück und Güte" verfolgen ihn (V. 6a). Der Verfasser spielt mit zwei Worten, die im Hebräischen gleich klingen, jedoch verschiedene Bedeutungen haben. Die Uneindeutigkeit spiegelt sich in vielen Übersetzungen wider. Die Einheitsübersetzung aus dem Jahre 1979 übersetzt: "Und im Haus des HERRN darf ich wohnen für lange Zeit." In der revidierten Einheitsübersetzung aus dem Jahre 2016 heißt es: "Und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN für lange Zeiten." Die masoretische Punktation der hebräischen Konsonanten wšbtj heißt übersetzt: "dann werde ich zurückkehren" – von Hebräisch šûb "zurückkehren, umkehren". Die Septuaginta liest jedoch einen suffigierten Infinitiv von jšb "wohnen" und übersetzt: "mein Wohnen wird sein", das heißt: "und ich werde wohnen" (Hieronymus: et inhabitabo); ähnlich wie in Ps 27,4: "Danach verlangt mich: mein Wohnen im Hause des HERRN alle Tage meines Lebens."

Für die Masoreten beschreibt der Psalm den Weg zum Hause des HERRN, das heißt: zum Tempel in Jerusalem. Entsprechend fragt der folgende Psalm 24: "Wer darf hinaufziehen zum Berg des HERRN, wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?" Der Psalm enthält zahlreiche Anspielungen sowohl an den ersten als auch an zweiten Exodus: Israels Zug durch die Wüste, das Lagern in Oasen, die wunderbare Ernährung und das Wasser aus dem Felsen (Ex 16–17), das Hineinführen in "die Ruhe", womit sowohl das Land als auch das Heiligtum gemeint sind: "Der HERR, euer Gott gewährt euch Ruhe und gibt euch dieses Land" (Jos 1,13; vgl. Ex 33,14; Dtn 12,9f; Ps 95,11; Jes 40,11).

Wie das Schaf im Übergang von der zweiten zur dritten Strophe menschliche Züge annimmt, so der Gastgeber im Übergang von der dritten zur vierten Strophe göttliche. In der letzten Strophe kommt der Dichter dort an, wo er angefangen hat: beim Namen JHWH. "JHWH ist mein Hirte … Er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen … Heimkehren und wohnen werde ich im Hause JHWHs alle Tage meines Lebens."

Eucharistie

Die Rezeptions- und Auslegungsgeschichte des Psalms ist beeindruckend. Begünstigt durch die griechische Übersetzung, wird der Psalm seit der frühen Kirche auf die Eucharistie hin gedeutet. Vers 3 "meine Lebenskraft bringt er zurück" wird im Sinne der Umkehr verstanden, der Ruheplatz am Wasser auf die Taufe bezogen, das Öl auf die Firmung, Tisch und Becher auf die Eucharistie. Auf dem Weg vom Baptisterium zur Eucharistie sangen die Neugetauften Psalm 23. Vers 5 hat in der Übersetzung der Vulgata (calix meus inebrians quam praeclarus est) Eingang in das erste Hochgebet gefunden, in dem es heißt: "Ebenso nahm er … diesen erhabenen Kelch (hunc praeclarum calicem) in seine heiligen und ehrwürdigen Hände"

Gemeinsam mit der jüdischen Tradition findet der Psalm seit frühester Zeit auch in der christlichen Begräbnisliturgie Verwendung. Der HERR, so bekennt unser Beter, lässt ihn auch auf dem Weg durch die Schlucht des Todesschattens nicht allein: "Muss ich auch gehen in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir."

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