Genau in der Mitte unseres Psalms bittet der Beter um die Vergebung seiner Schuld: "Um deines Namens willen, HERR, vergib meine Schuld, denn sie ist groß" (V. 11). Was genau sich der Beter hat zuschulden kommen lassen, wird nicht gesagt. Kurz zuvor hatte er von den Sünden seiner Jugend gesprochen: "Der Sünden meiner Jugend und meiner Verirrungen gedenke nicht! Nach deiner Gnade gedenke meiner, du, um deiner Güte willen, HERR" (V. 7). Die hebräischen Begriffe deuten auf schwere Verfehlungen. Der Beter bittet den HERRN darum, nicht mehr auf die Sünden seiner früheren Lebensphase ("Jugend") zu schauen, sondern auf die Person, die er jetzt ist ("gedenke meiner") und die sich mit ihrem ganzen Verlangen dem HERRN zuwendet (V. 1).
Liest man Psalm 25 im unmittelbaren Anschluss an Psalm 24, dann wird deutlich: Hier spricht der Konvertit aus den Völkern, der dem Götzendienst abgeschworen und sich mit Haut und Haaren JHWH verschrieben hat; der jetzt sagen kann: "Zu dir, JHWH, erhebe ich meine Seele [und nicht mehr zu einem Nichts, Ps 24,4]. Mein Gott, auf dich setze ich mein Vertrauen" (Ps 25,1f). Hier spricht jemand, der eine Bekehrung durchgemacht hat und der am Beginn eines neuen Lebens steht. Erst im Lichte seines Glaubens an den wahren Gott wird ihm das Ausmaß seiner früheren Verfehlungen bewusst. Er bittet den HERRN innigst, ihm die Sünde seiner Jugend zu vergeben, und er ist sich sicher, der HERR wird es tun, "um seines Namens willen".
Vertrauen
Mit seiner Konversion hat unser Beter alles auf eine Karte gesetzt. Sollte sich seine Entscheidung als falsch herausstellen, wäre er blamiert. Seine Feinde würden triumphieren. Deshalb bekräftigt er zu Beginn des Psalms seine Entscheidung und bittet JHWH, der jetzt sein Gott geworden ist, ihn nicht zu enttäuschen:
2 Mein Gott,
auf dich vertraue ich,
dass ich nicht beschämt werde,
dass nicht jubeln meine Feinde über mich!
3 Doch alle, die auf dich hoffen, werden nicht beschämt.
Beschämt werden, die sich am Nichtigen vergehen.
Lass mich deine Wege erkennen!
Mit der Bekehrung zum wahren Gott und dem Eintritt in eine neue Lebensphase steht der Beter vor großen, neuen Herausforderungen. Er braucht Orientierung; er sucht nach Unterweisung und Belehrung und erwarten sie von dem, der jetzt sein Gott geworden ist:
4 Deine Wege, JHWH, lass mich erkennen!
Deine Pfade lehre mich!
5 Führe mich den Weg in deiner Wahrheit und lehre mich!
Denn du bist der Gott meiner Rettung,
auf dich hoffe ich den ganzen Tag.
6 Gedenke deines Erbarmens, JHWH, und deiner Gnade,
denn sie bestehen seit Ewigkeit.
7 Der Sünden meiner Jugend und meiner Verirrungen gedenke nicht!
Nach deiner Gnade gedenke meiner, du, um deiner Güte willen, JHWH!
Oft geht es im Alten Testament um Unterweisung in der Tora (vgl. Ps 119); doch hier ist etwas anderes gemeint. Es geht um eine unmittelbare praktische Erkenntnis, um "Führung durch schwierige Lebenssituationen" (Böhler, Psalmen 1–50, Freiburg 2021, 465). Der Beter befindet sich in einer Krise. Er deutet sie als Folge seiner früheren Verirrungen. Mit der Konversion sind die negativen Folgen seine "Jugendsünden" noch nicht überwunden. Er fühlt sich einsam und elendig; er akzeptiert die gegenwärtige Krise als ein Gericht, das er als Folge seiner früheren Verirrungen durchläuft. Das erinnert an ein Wort aus dem Agamemnon des Aischylos (Ag. 176ff): "Durch Leiden lernen". Auch Meister Eckhart meint, das schnellste Tier zu Gott sei das Leid.
Es gibt so etwas wie eine innere Belehrung und Wegweisung durch Gott. Für Augustinus hat der (äußere) Lehrer nur die Aufgabe, den Schüler so anzusprechen, dass er die Stimme des inneren Lehrers vernimmt; dieser, so Augustinus, ist Christus. Psalm 143,8 drückt es so aus: "Lass mich hören am Morgen deine Huld, denn auf dich vertraue ich! Lass mich erkennen den Weg, den ich gehen soll, denn zu dir habe ich meine Seele erhoben." So wie das Lernen der Tora der regelmäßigen Übung bedarf, so auch das Erkennen der Wege Gottes. Genau darum bittet unser Beter: "Deine Wege, JHWH, lass mich erkennen" (V. 4). Voraussetzung dafür ist die vorbehaltlose Ausrichtung auf Gott: "Zu dir, JHWH, erhebe ich meine Seele" (V. 1).
Die gegenwärtigen Bedrängnisse haben das Herz unseres Beters, das Organ der Erkenntnis, bereits geweitet und ihn zu tieferen Einsichten geführt. Dennoch bittet er darum, die Härte der Belehrung, die ihm jetzt erteilt wird, abzumildern:
16 Wende dich mir zu und sei mir gnädig,
denn einsam und elend bin ich.
17 Bedrängnisse haben mein Herz weit gemacht,
aus meinen Verengungen führe mich heraus!
18 Sieh mein Elend und meine Mühsal,
und nimm weg all meine Sünden!
Reflexion über Gott und sein Handeln
In der dritten Strophe (V. 8–10) denkt der Beter über Gott und sein Handeln nach. Ausgangspunkt seiner Reflexion ist das Bekenntnis: "Gut und redlich ist der HERR" (V. 8a). Worin zeigt sich seine Güte? Darin, dass er etwas tut: er unterweist, er führt, er lehrt. JHWHs Güte zeigt sich im Umgang mit denen, die vom rechten Weg abgekommen sind und unter den Folgen ihrer (früheren) Verirrungen leiden. Diese belehrt er über den rechten Weg. Eine solche Belehrung kann die Form eines Gerichtes annehmen. So lernt der Elende durch das Gericht. JHWHs Güte besteht nicht darin, dass er die Verirrten in ihrer Fehlhaltung stabilisiert, sondern darin, dass er ihnen eine Lektion erteilt, sie über den rechten Weg belehrt:
8 Gut und redlich ist JHWH,
darum unterweist er Sünder über den Weg.
9 Er führt Elende durch das Gericht,
um Elende zu lehren seinen Weg.
10 Alle Pfade JHWHs sind Gnade und Wahrheit,
für die, die seinen Bund und seine Zeugnisse bewahren.
Vergebung der Schuld
Mit dem Bekenntnis zu JHWH, der die Schuld vergibt, gelangen wir in das Zentrum unseres Psalms:
11 Um deines Namens willen, JHWH,
wirst du meine Schuld vergeben, denn sie ist groß.
Der Psalm enthält eine Reihe von Anspielungen an die schwere Verirrung Israels, als das Volk am Sinai unter maßgeblicher Beteiligung Aarons von JHWH abfiel und das goldene Kalb anbetete (Ex 32–34). "Um deines Namens willen" spielt an die daran anschließende Namensoffenbarung im Rahmen der Bundeserneuerung an. Nachdem Mose nach Israels Sündenfall in die Bresche gesprungen war und durch Fürbitte und Umkehr des Volkes ("sie legten ihren Schmuck ab") erreichen konnte, dass JHWH die Schuld vergibt und bereit ist, sein Volk weiterhin auf dem Weg durch die Wüste zu begleiten, "rief Mose den Namen JHWHs aus. JHW ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: JHWH, JHWH, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld (Gnade) und Treue (Wahrheit): Er bewahrt tausend Generationen die Huld, nimmt Schuld, Abtrünnigkeit und Sünde weg, aber er spricht nicht einfach frei" (Ex 34,6f). Alle drei Begriffe für Sünde finden sich auch in unserem Psalm (V. 7.8.11.18).
Unser Beter versteht seine Vergebungsbitte im Lichte der Bundeserneuerung. Israel war in den Götzendienst gefallen, Gott hatte gedroht, das Volk durch ein anderes zu ersetzten (Ex 32,9f). So wie das zu den Götzen abgefallene Israel nach Umkehr und Reue am Sinai wieder in den Bund aufgenommen wird, so deutet unser Beter seine Konversion als Aufnahme in den Bund, den Gott mit Abraham geschlossen hat (Gen 15; 17; Ex 32,13), der sich wie der Beter vom Götzendienst seiner Vorfahren abgewandt und dem wahren Gott zugewandt hat (Jos 24,2f.15; Jdt 5,7f). Das hebräische Verbum slḥ "vergeben" aus V. 11 begegnet wie das Verbum br’ "erschaffen" (vgl. Gen 1,1) in der Bibel nur mit Gott als Subjekt. Da haben die Schriftgelehrten schon recht, wenn sie sagen: "Wer kann Sünden vergeben außer dem einem Gott?" (Mk 2,7). Sündenvergebung kommt einer Neuschöpfung gleich: "Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! […] Erschaffe (br’) mir, Gott, ein reines Herz und einen festen Geist erneuere in meinem Inneren!" (Ps 51.3.12).
Rettende Erkenntnis
Nach der Reflexion über Gott, dem allein die Vollmacht zukommt, Sünden zu vergeben, denkt der Beter in der vierten Strophe (V. 12–15) über den Menschen nach, genauer: über den Menschen, der Gott fürchtet: "Wer ist der Mann (Mensch), der JHWH fürchtet"? Der Gottesfürchtige ist jemand, der sich von JHWH über den Weg, den er gehen soll, unterweisen lässt (V. 12b). Er kann in Ruhe schlafen und seine Nachkommenschaft wird das Land erben (V. 13). Er ist nicht allein, sondern gehört "zur Ratsversammlung JHWHs", zu "seinem Bund" (V. 14). Die Ratsversammlung JHWHs ist die Gruppe derer, die vertrauten Umgang mit dem Herrn pflegen. Die Erkenntnis, die JHWH verleiht, steht allen offen, die zu seiner "Versammlung" gehören. Es handelt sich um eine rettende Erkenntnis, eine Erkenntnis, "die die Füße aus dem Fangnetz befreit" (V. 15). Zu der Haltung, die zu dieser erlösenden Erkenntnis führt, bekennt sich unser Beter im letzten Vers der Strophe: "Meine Augen (schauen) stets auf JHWH, denn er wird herausführen aus dem Netz meine Füße."
Rettung vor den Feinden
In der letzten Strophe (V. 19–21) bittet der Beter erneut um Rettung vor seinen Feinden. War in seinem früheren Leben seine Schuld zahlreich (V. 11), so sind es nun seine Feinde. Die Gruppe, von deren krummen Wegen er sich abgewandt hat, reagiert mit abgrundtiefem Hass auf seine Entscheidung. Aus Freunden sind Feinde geworden (vgl. Ps 55,13–15). Vor ihnen muss JHWH seine Seele (sein Leben) bewachen. Der Beter hält trotz schwerer Anfeindungen daran fest, die richtige Entscheidung getroffen zu haben:
19 Sieh meine Feinde, denn sie sind zahlreich, und mit gewalttätigem Hass hassen sie mich.
20 Bewahre meine Seele und entreiß mich, dass ich nicht beschämt werde, denn ich habe mich geborgen bei dir.
21 Lauterkeit und Redlichkeit mögen mich schützen, denn auf dich hoffe ich.
Erlösung für Israel
Im Abgesang weitet unser Beter seinen Weg auf ganz Israel aus. Das Gottesvolk, zu dem er nun gehört, das sich abgesondert hat von den krummen Wegen der vielen, indem es den einen, wahren Gott verehrt, wird angefeindet und lebt in Bedrängnissen. Es hat seine ganze Hoffnung auf JHWH gesetzt. Mit und für Israel bittet unser Beter:
22 Erlöse, o Gott, Israel, aus all seinen Bedrängnissen!