Psalm 26 – Priesterliche Spiritualität für LaienDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

In Psalm 26 bittet der Beter JHWH um eine Überprüfung seines bisherigen Lebenswandels. Ein wenig salopp formuliert könnte man sagen: Er begibt sich zum JHWH-TÜV...

Bibel
© Pixabay

Wenn wir unser Auto zum Technischen Überwachungsverein bringen (müssen), hoffen wir, dass alles in Ordnung ist und keine kostspieligen Reparaturen anfallen. Wir sagen dem Überwachungsteam: "Eigentlich müsste alles in Ordnung sein" und hoffen, die entsprechende Bestätigung zu bekommen. Der Beter unseres Psalms macht es genauso. Er bittet JHWH, seinen bisherigen Lebenswandel zu überprüfen. Er geht fest davon aus, dass mit ihm alles in Ordnung ist, dass er in Lauterkeit seinen Weg gegangen ist; und er versichert, es weiterhin tun zu wollen:

1 Von David
Beurteile mich, JHWH,
dass ich in meiner Lauterkeit gewandelt bin
und auf JHWH vertraute,
so dass ich nicht wanken werde.
2 Prüfe mich, JHWH,
und erprobe mich,
schmilz meine Nieren und mein Herz,
3 dass deine Huld mir vor Augen ist,
und ich einherwandle in deiner Wahrheit.

Auf Herz und Nieren überprüfen

Der Beter bittet um eine ehrliche und umfassende Diagnose. Mir vier Verben kommt dies zum Ausdruck: Beurteile mich, prüfe mich, erprobe mich, schmilz meine Nieren und mein Herz. Eine ärztliche Diagnose ist bisweilen mit Schmerzen verbunden; um verborgene Krankheitsherde ausfindig zu machen, dürften derartige Prozeduren wohl kaum zu vermeiden sein. Besonders der letzte Ausdruck: "Schmilz meine Nieren und mein Herz" zeigt, dass der Beter nichts verheimlichen will. Das Bild des Schmelzens (ṣrp) stammt aus der Metallgewinnung. Dabei wurde das aus Bergwerken gewonnene Rohmaterial (vgl. Ijob 28,1–10) in Schmelzöfen, die in die Erde eingelassen wurden und in denen mit Hilfe von Blasebälgen (vgl. Jer 6,29) ein starkes Holzkohlefeuer entfacht wurde, verflüssigt und unter Anwendung verschiedener Gusstechniken in Formen gegossen (vgl. Hos 13,2), um reines Metall zu gewinnen.

Das Bild deutet an, dass bereits die Überprüfung, um die der Beter bittet, mit einer Reinigung verbunden ist. Unser Beter ist bereit, den Weg der Reinigung (via purgativa) zu gehen, wie die geistliche Tradition diese erste und grundlegende Phase des spirituellen Weges bezeichnet. Er will sich "auf Herz und Nieren" überprüfen lassen. Mit dem Herzen ist das Bewusstsein gemeint, jene Instanz im Inneren des Menschen, die über die Sinnesorgane äußere Eindrücke aufnimmt und verarbeitet – eine Tätigkeit, die wir heute mit dem Gehirn in Verbindung bringen, wofür das alttestamentliche Hebräisch keinen Begriff hat. Die Nieren weisen auf das Unterbewusstsein, auf die geheimen Wünsche und Strebungen, die besonders bei Nacht, wenn das Bewusstsein weitgehend ausgeschaltet ist, den Menschen "mahnen und unterweisen" (vgl. Ps 16,7).

Teilnahme am Gottesdienst

In der zweiten Strophe beteuert der Beter zunächst seine Unschuld (V. 4–5): Er hat die Gemeinschaft mit nichtigen Typen, mit lichtscheuen Gestalten, mit Übeltätern und Frevlern gemieden. Er gleicht damit dem Gerechten von Psalm 1. Deshalb darf er sich Gott nähern und am Gottesdienst teilnehmen (V. 6–7):

4 Ich habe nicht zusammengesessen mit nichtigen Typen,
mit lichtscheuen Gestalten werde ich nicht gehen.
5 Gehasst habe ich die Versammlung der Übeltäter,
und mit Frevlern werde ich mich nicht zusammensetzen.
6 Ich kann waschen in Unschuld meine Hände
und will umkreisen deinen Altar, JHWH,
7 um hören zu lassen die Stimme des Dankes
und zu erzählen all deine Wunder.

"Im Fokus stehen … nicht die Vergehen selbst, sondern die Tatsache, dass der Beter sich nicht falscher Vergemeinschaftung schuldig gemacht hat und deswegen der gottesdienstlichen Gemeinschaft mit Gott würdig ist. Denn die wichtigste Voraussetzung für die Gemeinschaftsfähigkeit mit Gott ist das strikte Auseinanderhalten von nicht Zusammengehörigem: 'Ihr sollt zwischen heilig und profan, zwischen unrein und rein unterscheiden' (Lev 10,10) – das ist die wichtigste Aufgabe eines Priesters. Gottesgemeinschaft schließt bestimmte andere Vergemeinschaftungen aus. Daran hat sich der Beter gehalten und wird er sich halten und daraus folgt seine Gottesdienstfähigkeit in V 6–7" (Böhler, Psalmen 1–50, Freiburg 2021, 483).

Priesterliche Spiritualität

Die dritte Strophe beginnt mit einer Liebeserklärung an den Tempel: "JHWH, ich liebe die Stätte deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit." Unser Beter, der an den Versammlungen der Übeltäter nicht teilgenommen hat, der mit den Frevlern nicht zusammengesessen hat und es weiterhin nicht tun will (V. 11), will dort sein, wo Gott wohnt. Erneut begegnen wir einem grundlegenden Prinzip biblischer Spiritualität: der Abgrenzung. Wer die in unserem Psalm vorausgesetzte Unterscheidung von wahr und falsch (V. 3) grundsätzlich verwirft, löst den biblisch bezeugten Glauben von innen her auf. Es handelt sich dabei nicht um ein rein pädagogisches Mittel der Übertreibung, wie oft zu hören ist, sondern um ein Strukturprinzip des biblisch bezeugten Glaubens.

Wer eintreten will, wie unser Konvertit aus den Völkern, muss die falsche Lebensweise hinter sich lassen.

Dieser binäre Code konkretisiert sich in der Abgrenzung zweier Räume: dem Ort, wo Gott wohnt, und dem Versammlungsort der Übeltäter. Die beiden Räume stehen für zwei einander ausschließende Lebensformen. Vorbereitet wurde die Unterscheidung mit der Frage nach den Zulassungsbedingungen aus Psalm 24,3: "Wer darf hinaufziehen zum Berg des HERRN?" Der biblische Glaube ist nicht "all inclusive". Wer eintreten will, wie unser Konvertit aus den Völkern, muss die falsche Lebensweise hinter sich lassen. Unser Beter weiß aber auch, dass er wieder herausfallen kann. So bittet er JHWH, ihn zu überprüfen, um ihm jenes Schicksal zu ersparen, das den Sündern droht; er verspricht, auch in Zukunft den Weg der Wahrheit zu gehen; und zugleich weiß er, dass er dabei weiterhin der gnädigen Zuwendung Gottes und seiner Erlösung bedarf:

8 JHWH, ich liebe die Stätte deines Hauses
und den Wohnort deiner Herrlichkeit.
9 Raffe nicht hinweg meine Seele zusammen mit den Sündern,
und mein Leben zusammen mit Blutmenschen,
10 an deren Händen Schande klebt
und deren Rechte voll von Bestechung ist.
11 Ich aber, in Lauterkeit will ich wandeln.
Erlöse mich und sei mir gnädig!

Priesterliche Spiritualität für Laien

Am Ende des Psalms hat unser Beter festen Boden unter den Füßen gefunden: "Mein Fuß steht auf ebenem Grund" (V. 12a). Von hier aus kann er denen, die sich im Namen JHWHs versammelt haben, den Segen spenden: "Unter den Versammelten werde ich den Segen spenden, JHWH" (V. 12b). Bei dieser Übersetzung würde es sich bei unserem Beter um einen Priester handeln, der, wie es Aaron und seinen Söhnen aufgetragen ist, die Israeliten segnen soll: "Der HERR sprach zu Mose: Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: Der HERR segne dich und behüte dich …" (Num 6,22–27). Man kann Vers 12b aber auch übersetzen: "Unter den Versammelten will ich JHWH preisen." In diesem Fall wäre unser Beter ein Laie. In jedem Fall aber schließt die Versammlung, in der JHWH gepriesen wird und in dessen Namen der Segen gesprochen wird, die "Versammlung der Übeltäter" (V. 5) aus.

Die Doppeldeutigkeit des letzten Verses gehört zur Programmatik unseres Psalms. Er öffnet die priesterliche Spiritualität für die Welt der Laien, genauer: für die aus der Welt der Völker hinzugetretenen Laien. Psalm 24 nannte die Zutrittsbedingungen zum Gottesdienst Israels für Angehörige aus den Völkern: "Wer darf hinaufsteigen auf den Berg des HERRN?" Psalm 25 ist zu verstehen als das Gebet eines solchen Konvertiten: "Zu dir, JHWH, erhebe ich meine Seele [und nicht mehr zu einem Nichts, Ps 24,4]. Mein Gott, auf dich setze ich mein Vertrauen. […] Der Sünden meiner Jugend und meiner Verirrungen gedenke nicht!" Psalm 26, "der für sich gelesen einen Israeliten mit priesterlicher Spiritualität zum Sprecher hat", bekommt im Zusammenhang mit den beiden vorangehenden Psalmen gelesen nun auch noch den Sinn, "dass Hinzugetretene (Pros-elytai) aus den Völkern am Priestertum Israels Anteil erhalten" (Böhler, ebd. 486).

Die Händewaschung des Priesters vor der Opferhandlung bei der hl. Messe und das Umschreiten des Altares bei der Izensierung sind von Psalm 26,6 her zu verstehen: "Ich will waschen meine Hände in Unschuld und will umkreisen deinen Altar, HERR." Im Messbuch Papst Pius V., dem heutigen "usus extraordinarius", spricht der Priester bei der Händewaschung vor der Opferhandlung Ps 26,6–12: "Lavabo inter innocentes manus meas: et circumdabo altare tuum, Domine …"

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