Vertrauen
Die erste Strophe (V. 1–3) beginnt mit dem Gottesnamen JHWH und endet mit dem Wort "vertrauen". Eröffnet wird sie mit einem Vertrauensbekenntnis in Form zweier parallel gebauter rhetorischer Fragen:
1 JHWH ist mein Licht und mein Heil,
vor wem sollte ich mich fürchten?
JHWH ist die Zuflucht meines Lebens,
vor wem sollte ich erschrecken?
Der folgende Vers 2 schaut zurück in die Vergangenheit: Es gab eine Situation, da der Beter von bösen Menschen angegriffen wurde, doch diese sind gescheitert:
2 Als heranrückten gegen mich Übeltäter,
um zu fressen mein Fleisch,
meine Bedränger und meine Feinde gegen mich,
da sind sie gestrauchelt und gefallen.
Der Ausdruck "um zu fressen mein Fleisch" ist im Alten Testament nie wörtlich im Sinne des Kannibalismus, sondern immer im übertragenen Sinn zu verstehen: Es handelt sich um Menschen, die den Beter "fertig machen wollen". Doch sie sind mit ihrem Vorhaben gescheitert. Diese Erfahrung lässt den Beter zuversichtlich in die Zukunft blicken:
3 Wenn sich lagern sollte gegen mich ein (Heer-)Lager,
dann wird sich nicht fürchten mein Herz.
Wenn sich erheben sollte gegen mich ein Kampf,
dann habe ich dennoch Vertrauen.
Wie in Vers 2, so dürften auch hier die dem Krieg entnommenen Bilder auf persönliche Feinde deuten, nicht auf einen kriegerischen Angriff im eigentlichen Sinn. Die Gegner bieten alles auf, um den Beter zu vernichten. Das in Vers 1 geäußerte Vertrauen in JHWH sowie seine bisherige Erfahrung (V. 2) können den Beter nicht in dem erschüttern, was er ist: ein Vertrauender – so wäre das Partizip mit betont vorangestelltem Subjekt am Ende der dritten Strophe zu übersetzen.
In den drei Sätzen begegnen wir der Struktur des biblischen Glaubens. Zugrunde liegt eine Erfahrung, eine Rettungserfahrung: "Als heranrückten gegen mich Übertäter …" Aus ihr heraus entsteht ein Bekenntnis, in gewisser Weise eine "dogmatische" Aussage über Gott: "JHWH ist mein Licht und mein Heil." Diese aufgrund von Erfahrung gewonnene Gotteserkenntnis hat gravierende Auswirkungen auf das weitere Leben: "Vor wem sollte ich mich fürchten?"
Ruhen in Gott
Die so gewonnene Grundhaltung des Vertrauens auf JHWH wird nun in der zweiten Strophe (V. 4–6) vertieft. Da JHWH die Zufluchtsstätte seines Lebens ist (V. 1), bittet der Beter nur um eines: Alle Tage seines Lebens im Hause JHWHs wohnen zu dürfen (V. 4). Vers 5 liefert die Begründung: Dort gibt es Sicherheit am Tag des Unheils. Daraus folgt in Vers 6, dass er sein Haupt erheben und am Gottesdienst teilnehmen kann:
4 Eines erbitte ich von JHWH,
danach verlangt mich:
zu wohnen im Hause JHWHs
alle Tage meines Lebens,
um zu schauen die Schönheit JHWHs
und zu betrachten in seinem Tempel.
5 Denn er birgt mich in seiner Hütte
am Tage des Unheils.
Er versteckt mich im Versteck seines Zeltes,
auf einen Felsen hebt er mich empor.
6 Dann hebt sich empor mein Haupt
gegen meine Feinde rings um mich herum,
und ich will opfern in seinem Zelt
Opfer des Jubels.
Ich will singen und spielen für JHWH.
Der Beter bittet um Geborgenheit. Er weiß, dass sie nur in JHWH zu finden ist. Was der Beter hier mit räumlichen Vorstellungen zum Ausdruck bringt, wurde in der Tradition auch in einem geistlichen Sinne verstanden: als ein "Ruhen in Gott, in dem man keinerlei Pläne macht, keine Entschlüsse fasst und erst recht nicht handelt, sondern alles Künftige dem göttlichen Willen anheimstellt, sich gänzlich 'dem Schicksal überlässt'" (Edith Stein).
Dein Antlitz will ich suchen
Nach den ersten beiden Strophen, in denen sich der Beter zum Vertrauen auf Gott bekennt, folgen zwei Strophen mit Bitten. Unerschütterliches Vertrauen auf JHWH und eindringliche Bitten um Rettung vor Feinden können in der biblischen Gebetsliteratur unmittelbar aufeinander folgen.
Wer mit der Psychologie des Gebetes und geistlichen Prozessen vertraut ist, weiß, dass Gottvertrauen, Bitte und Dank sehr wohl ineinander greifen und aufeinander folgen können.
In der Exegese hat man sich lange Zeit schwer damit getan, beides zusammenzudenken. Man ging davon aus, dass es sich bei dem Vertrauens- (V. 1–6) und Bitt-Teil (V. 7–13) um zwei ursprünglich eigenständige und getrennt voneinander entstandene und überlieferte Gebete handelt, die erst zu einem späteren Zeitpunkt zu einem einzigen Psalm zusammengestellt wurden. Grundsätzlich ist das möglich, doch die zahlreichen lexematischen Verknüpfungen sowie die kunstvolle Verteilung und Anzahl der insgesamt vierzehn Gottesbezeichnungen deuten darauf hin, dass es sich bei unserem Psalm um eine einheitliche Komposition handelt.
Wer mit der Psychologie des Gebetes und geistlichen Prozessen vertraut ist, weiß, dass Gottvertrauen, Bitte und Dank sehr wohl ineinander greifen und aufeinander folgen können. Unser Beter jedenfalls weiß, dass er trotz seines bisher nicht enttäuschten Vertrauens auf JHWH weiterhin auf dessen Hilfe angewiesen ist. Sich auch in Zukunft bei JHWH bergen zu dürfen, darum bittet er:
7 Höre, JHWH, meine Stimme,
da ich rufe,
sei mir gnädig und antworte mir!
8 Zu dir sagte mein Herz:
"Sucht mein Antlitz!"
Dein Antlitz, JHWH, will ich suchen.
9 Verbirg nicht dein Antlitz vor mir!
Weise nicht ab im Zorn deinen Knecht!
Meine Hilfe bist du gewesen,
verwirf mich nicht
und verlass mich nicht,
Gott meiner Rettung!
10 Denn mein Vater und meine Mutter haben mich verlassen,
doch JHWH wird mich aufnehmen.
Mitten in seiner Rede zitiert der Beter ohne nähere Einführung ein JHWH-Wort: "Sucht mein Antlitz!" Genau das will der Beter tun: "Dein Antlitz, JHWH, will ich suchen." Wenn das so ist, dann darf Gott sein Antlitz nicht verbergen und seinen Diener nicht abweisen (V. 9). Der Beter ringt mit unterschiedlichen Phasen der Gottesbegegnung. Er kann bezeugen, dass Gott in der Vergangenheit seine Hilfe war, aber eine Garantie dafür, dass er es auch in Zukunft sein wird, gibt es nicht, wenngleich er fest auf JHWH vertraut.
Selbst die intimsten und gewöhnlich als unerschütterlich geltenden innerweltlichen Sicherheiten können zerbrechen. Doch wer auf JHWH vertraut, wird – so hofft und bekennt unser Beter –, selbst wenn er es (vorübergehend) nicht mehr wahrnehmen kann, von JHWH nicht im Stich gelassen.
Die maßgeblichen Lehrerinnen und Lehrer des geistlichen Lebens wie Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz haben intensiv darüber nachgedacht, weshalb Gott, nachdem er den Beter lange Zeit mit "Wohlgefühlen" (gustos) umsorgt hat, plötzlich – wie der Geliebte des Hoheliedes – auf und davon ist und sein Antlitz verbirgt. Ihre Antwort lautet: Um die Seele durch die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes noch tiefer zu reinigen und sie freizumachen von Gefühlen religiöser Erfahrung und falscher Anhänglichkeit. Johannes vom Kreuz vergleicht diese Phase mit dem Abstillen eines kleinen Kindes. Das Kind hat das Gefühl, von der Mutter zurückgestoßen zu werden; in Wahrheit jedoch ist die (scheinbare) Zurückweisung ein Zeichen mütterlichen Liebe, da sie dem Kind hilft, frei zu werden.
Unser Beter scheint eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben, wenn er davon spricht, dass Vater und Mutter ihn verlassen haben. Damit wird ein Kerngedanke biblischen Glaubens ausgesprochen: Selbst die intimsten und gewöhnlich als unerschütterlich geltenden innerweltlichen Sicherheiten können zerbrechen. Doch wer auf JHWH vertraut, wird – so hofft und bekennt unser Beter –, selbst wenn er es (vorübergehend) nicht mehr wahrnehmen kann, von JHWH nicht im Stich gelassen.
Weise mir deinen Weg
In der vierten Strophe (V. 11–13) setzt sich die Bitte fort. Jetzt wird deutlich, dass die erbetene göttliche Hilfe der menschlichen Annahme bedarf. Der Weg, den JHWH weisen möge, muss auch gegangen werden. Wer nur den Reiseführer liest und auf dem Sofa liegenbleibt, wird den Gipfel nie erreichen. Die (katholische) Theologie sagt uns, dass wir mit der Gnade Gottes mitwirken müssen; andernfalls bleibt sie nur leeres Gerede. Die Hilfe Gottes wirklich anzunehmen, ist allerdings eine herausfordernde Angelegenheit, eine intensiv einzuübende Balance von aktiver Empfänglichkeit, die weder in die reine Passivität des Quietismus noch in den verbreiteten Aktivismus verfallen darf:
11 Weise mir, JHWH, deinen Weg
und geleite mich auf ebenem Pfad
wegen meiner Gegner!
12 Liefere mich nicht der Gier meiner Bedränger aus,
denn erhoben haben sich gegen mich Zeugen der Lüge,
ein Ankläger der Gewalt!
13 Wenn ich nicht glaubte,
zu sehen die Güte JHWHs
im Lande des Lebens!
Wie bereits in der ersten Strophe, so kommen auch hier erneut Gegner in den Blick. Sie bereiten eine falsche Anklage vor. Der Dekalog verbietet im 8. Gebot mit den gleichen Worten die Falschaussage vor Gericht: "Du sollst nicht aussagen gegen deinen Nächsten als Zeuge der Lüge" (Ex 20,16). Da Zeugen und Ankläger im altisraelitischen Gerichtsverfahren identisch waren, waren damalige Gerichtsprozesse anfällig für Missbrauch. Falsche Zeugenaussagen konnten tödliche Folgen nach sich ziehen. Deshalb warnen Propheten und das alttestamentliche Gesetz vor Bestechung, vor Verleumdung und Falschaussage vor Gericht. Trotz der drohenden Gefahr ist unser Beter voll Zuversicht, die Güte des HERRN (noch) in diesem Leben schauen zu dürfen. "Das Land des Lebens" meint im Alten Testament gewöhnlich das Land der hier und jetzt lebenden Menschen im Unterschied zur Totenwelt.
Sei stark!
Im letzten Vers ermutigt sich der Beter selbst. Zweimal begegnet das Wort "hoffen", zweimal der Gottesname:
14 Hoffe auf JHWH!
Sei stark, dass fest sei dein Herz,
und hoffe auf JHWH!
Mit ähnlichen Worten spricht Mose den Israeliten im bevorstehenden Kampf bei der Landnahme Mut zu: "Seid stark und fest und fürchtet euch nicht und erschreckt nicht vor ihnen" (Dtn 31,6). Mit den gleichen Worten ermutigt der HERR Josua unmittelbar vor dem Einzug ins verheißene Land: "Sei stark und fest!" (Jos 1,7; vgl. 10,25).