Wie Psalm 3 so lässt sich auch Psalm 4 vor dem Hintergrund des Abschalom-Aufstandes verstehen: Der Kronprinz Abschalom hat einen Aufstand gegen seinen Vater, König David, angezettelt, woraufhin dieser fluchtartig Jerusalem verlassen hat. Zwar hat Gott dem König auf der Flucht bereits Luft verschafft, doch gänzlich überwunden ist dessen Not noch nicht. Deshalb der eindringliche Ruf, Gott möge auch jetzt noch sein Bittgebet erhören: "Bei meinem Rufen antworte mir, Gott meiner Gerechtigkeit, der du mir bereits in meiner Not Weite verschaffen hast, sei mir gnädig und höre mein Flehen!" (Psalm 4,2).
Gott macht einen Unterschied
In der zweiten Strophe (Vers 3–6) wendet sich der Sprecher an einflussreiche Männer, "Herrenensöhne" – so ist hier der im Alten Testament nur noch dreimal belegte Ausdruck "Söhne eines Mannes" wohl zu verstehen. Diese "Männer von Gewicht" spricht der Beter direkt an. Sie scheinen hier die Rolle der Feinde einzunehmen, obwohl sie nicht so genannt werden. Sie lieben Nichtiges, suchen Lüge und schmähen die Ehre des Beters (Vers 3). Und vor allem wollen sie nicht wahrhaben, dass JHWH einen Unterschied macht bei dem, der ihm die Treue hält (Vers 4a). Hier wird das Verbum plh verwendet, das sonst nur noch an vier Stellen des Alten Testaments vorkommt. An all diesen Stellen geht es um einen Unterschied, den JHWH macht zwischen dem Land Goschen, in dem sich die Israeliten aufhalten, und Ägypten (Ex 8,18), zwischen dem Vieh Israels und dem Vieh der Ägypter (Ex 9,4), zwischen Ägypten und Israel (Ex 11,7). "Damit wird an die 'Aussonderung' (Sonderstellung) der Israeliten in Ägypten erinnert", so Christoph Dohmen (Exodus 1–18, HThK, Freiburg i. Br. 22001, 248). Der Sache nach geht es bei der Aussonderung um eine Auszeichnung. Sie ist Ausdruck einer besonderen Gottesnähe. Sie gilt nach Psalm 4,4a demjenigen, der sich JHWH gegenüber als treu erweist. Auf diese wechselseitige Treue beruft sich das sprechende Ich in Psalm 4. Darauf gründet seine Zuversicht: "JHWH wird hören, wenn ich zu ihm rufe" (Vers 4b). Seine Gegner, die "einflussreichen Männer" (Vers 3), wollen das offensichtlich nicht wahrhaben. Deshalb richtet er an sie die Aufforderung: "Erkennt, dass der HERR sich seinen Frommen erwählt hat" (Vers 4a).
Die engen Verbindungen zu Psalm 3 deuten darauf hin, dass die hier Angesprochenen dieselben Leute sind, die (früher) gesagt haben: "Es gibt keine Hilfe für ihn bei Gott" (Psalm 3,3). Die Gegner wollen offensichtlich nicht wahrhaben, dass Gott auf der Seite des Beters steht, ihm bereits "Weite geschaffen hat" und auch in der aktuellen Bedrängnis sein Flehen erhören wird.
Erwählung
Im Passiv kommt das Verb plh noch einmal in Ex 33,16 vor. Hier geht es um einen der zentralen theologischen Gedanken der Heiligen Schrift, dem der Erwählung. Die Aussonderung Israels ist die Außenseite der Erwählung, die darin besteht, dass sich Gott zu diesem Volk in ein besonderes Verhältnis gesetzt hat. In Ex 33,16 fragt Mose JHWH: "Woran soll man erkennen, dass ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, ich und dein Volk, wenn nicht daran, dass du mit uns gehst, so dass wir uns unterscheiden (unterschieden werden), ich und dein Volk, von allen Völkern auf der Erde?"
Mit dem biblischen Gedanken der Erwählung Israels tun sich viele Zeitgenossen schwer. Wir werden uns noch eingehend damit beschäftigen. Schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass Erwählung in der Bibel nichts mit einer partikularistischen Stammesreligion zu tun hat, sondern darauf ausgerichtet ist, alle Völker in die besondere Gottesnähe, das heißt: in das Volk Gottes aufzunehmen (vgl. Jes 56,7: "… denn mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden").
Es besteht also kein Grund, den hebräischen Text in Psalm 4,4a zu ändern, insbesondere dann nicht, wenn der Beter von der Überschrift her gesehen David ist. Denn ihn hat der HERR gefunden und mit seinem heiligen Öl gesalbt (Ps 89,21; vgl. Ps 2,2), ihm hat er die Zusage gegeben, dass "kein ruchloser Mensch ihn bezwingen kann" (Ps 89,23), ihm gilt die Verheißung: "Meine Treue und meine Huld sind mit ihm" (Ps 89,25).
Werdet still!
Dieser dem HERRN in Treue verbundene Beter fordert seine Gegner auf, endlich Ruhe zu geben, in sich zu gehen, und ihr Tun zu überdenken. Dass sie sich erregen, sei ihnen zugestanden, doch mögen sie darauf achten, nicht Opfer ihrer Leidenschaften zu werden: "Erregt euch, aber sündigt nicht! Bedenkt es in eurem Herzen auf eurem Lager und werdet still! Bringt Opfer der Gerechtigkeit da und vertraut auf den HERRN!" (Vers 5–6). Wozu der Beter hier die "maßgeblichen Männern" auffordert, ist nichts anderes als eine vollständige Bekehrung: von der Ehrabschneidung und dem Lügengerede (V. 3) über die Einsicht, dass JHWH das Rufen des ihm treu Ergebenen erhört (Vers 4), über eine Phase des In-sich-Gehens und des Schweigens (Vers 5) bis hin zur Darbringung von Opfern der Gerechtigkeit und zum Vertrauen auf JHWH (Vers 6).
Die Wirkung des Gebetes lässt sich offensichtlich nicht argumentativ beweisen, sondern nur durch Verweis auf eine Erfahrung bezeugen.
In Hintergrund des Konflikts steht ein grundlegendes theologisches und spirituelles Problem: die Frage nach der Wirkung des Gebetes. Der Sprecher beruft sich auf eine Erfahrung: "Du hast mir weiten Raum geschaffen in meiner Bedrängnis" (Vers 2b). Diese Erfahrung ermutigt ihn, weiterhin auf Gott zu setzten: "Bei meinem Rufen antworte mir, Gott meiner Gerechtigkeit, (…), sei mir gnädig und höre mein Gebet!" (Vers 2a). Die Wirkung des Gebetes lässt sich offensichtlich nicht argumentativ beweisen, sondern nur durch Verweis auf eine Erfahrung bezeugen. Neben der Not, um deren Überwindung David im Gebet bittet, bedrängt ihn eine weitere Not, die offensichtlich noch schwerer wiegt: Das leere Gerede der "Herreensöhne" über die Unwirksamkeit des Gebetes.
In der dritten und letzten Strophe (Vers 7–9) spricht der Beter wieder zu Gott, der hier zweimal mit seinem Namen JHWH angesprochen wird. Die von ihm erlebte und beklagte Not scheint auch andere zu bedrängen, denn "viele sagen: 'Wer wird uns Gutes sehen lassen'" (Vers 7a). Der Beter steht mit seiner Not offensichtlich nicht allein; viele erleben die Zeit als eine Zeit der Bedrängnis und resignieren. In Anspielung an der aaronitischen Segen Num 6,25: "Der HERR lasse leuchten sein Angesicht und sei dir gnädig" bittet er für sich und die Gemeinschaft, zu der er sich rechnet: "Erhebe über uns das Licht deines Angesichtes, JHWH!" (Vers 7b).
Eine Freude, nicht von dieser Welt
Es folgt eine überraschende Auskunft. Erneut beruft sich der Sprecher auf eine Gebetserfahrung, die ihm zuteilwurde und ihn offensichtlich von den anderen abhebt: "Du gabst Freude in mein Herz – mehr als zu der Zeit, da sie Korn und Wein in Fülle haben" (Vers 8). Mit dem Vergleich spielt der Sprecher auf die Erntezeit an. Sie ist eine Zeit überströmender Freude: "Wenn dich der HERR, dein Gott, in allem gesegnet hat, in deiner Ernte und in der Arbeit deiner Hände, dann sollst du wirklich fröhlich sein" (Dtn 16,15). Das Erstaunliche: Es gibt offensichtlich eine Freude, die größer ist als die Freude bei der Ernte. Sie scheint selbst in einer Zeit der Bedrängnis möglich zu sein. Der Beter bezeugt eine solche Erfahrung. Sie bewirkt, dass er in Ruhe schlafen kann: "In Frieden werde ich mich niederlegen und einschlafen, denn Du, HERR, so einsam ich auch bin, lässt mich ruhen in Sicherheit" (Vers 9).
Es gibt offensichtlich eine Erfahrung im Inneren des Menschen, die sich kontrafaktisch zu dem verhält, was im äußeren Bereich der Wirklichkeit geschieht.
Wir berühren hier einen zentralen Gedanken biblischer Spiritualität. Es gibt offensichtlich eine Erfahrung im Inneren des Menschen, die sich kontrafaktisch zu dem verhält, was im äußeren Bereich der Wirklichkeit geschieht. Die Gegner, die den Beter bedrängen, sind noch da. Daran hat sich nichts geändert. Deshalb resignieren viele und sagen: "Wer wird uns Gutes sehen lassen?" (Vers 7). Doch der Beter scheint bereits einen Zugang zu einer Wirklichkeit gefunden zu haben, die er in seinem Inneren wahrnimmt und die von seinen Gegnern nicht erreicht werden kann: "Du gabst Freude in mein Herz" (Vers 8).
Auch dieser Vergleich kann vor dem Hintergrund des Abschalom-Aufstandes verstanden werden. Auf der Flucht kamen Freunde zu David, um ihn und seine Leute mit Lebensmitteln zu versorgen. Sie brachten "Matten und Decken, Gefäße aus Ton, Weizen, Gerste, Mehl und geröstetes Korn sowie Bohnen und Linsen (…). Denn sie sagten: Das Volk in der Steppe ist hungrig, erschöpft und durstig" (2 Sam 17,27–29). Davids Spion Huschai hatte zuvor Abschalom gezielt falsch beraten und auf diese Weise dem König auf der Flucht den Vorsprung einer Nacht verschafft (2 Sam 17,16.22), die kriegsentscheidend wurde. Darauf kann Davids Gebet in Psalm 4,2 bezogen werden: "Du hast mir weiten Raum geschaffen in meiner Bedrängnis (zu weiteren Entsprechungen vgl. Dieter Böhler, Psalmen, HThK, Freiburg i. Br. 2021, 115). Und doch ist die Not noch nicht überwunden: "Sei mir gnädig und hör auf mein Flehen!" (Vers 2b).
Vor den Augen meiner Feinde
Wenn Christen bekennen, Gott habe sie erlöst, Kritiker aber darauf hinweisen, dass die Bösen in der Welt nach wie vor ihr Unwesen treiben (vgl. Psalm 14,3), dann geht es um diese beiden Dimensionen der Wirklichkeit, die in Psalm 4 anklingen. Damit ist nicht gemeint, dass die äußere Seite der Wirklichkeit belanglos wäre. Leidenschaftlich ringt und betet der Sprecher darum, dass sich die Verhältnisse ändern. Und doch wurde ihm bereits eine Erfahrung zuteil, die ihm die innere Gewissheit gibt, "dass der HERR hört, wenn ich zu ihm rufe" (Vers 4b). Diese Erfahrung bewahrt ihn vor der Verzweiflung und dem Zynismus der vielen, die da sagen: "Wer wird uns Gutes sehen lassen?", und bewirkt, dass er – selbst auf der Flucht – in Ruhe schlafen kann (Vers 9). Auch der beliebte Psalm 23 zeichnet keine Idylle. Die Feinde sind und bleiben eine Realität in der Schöpfung. Doch wer JHWH als seinen Hirten annimmt, sich von ihm leiten und belehren lässt, der kann sagen: "Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde" (Psalm 23,4).
"Wenn Gott sich zeigt, wenn die Herrlichkeit, wenn der Glanz Gottes aufleuchtet, wenn die Dinge der Welt in diesem Glanz aufscheinen, dann erübrigt sich alles andere. Wenn der Sinn erfahren wird, verschwinden die Fragen. Niemand von uns lebt in der permanenten Erfahrung dieses Sinnes. Es genügt, wenn er einmal im Leben aufleuchtet" (Robert Spaemann, Meditationen eines Christen über die Psalmen 1–51, Stuttgart 2014, 42).