Psalm 6 – StimmungsumschwungDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

In Psalm 6 kommt es zu einem plötzlichen Stimmungsumschwung. Eine Projektion bricht in sich zusammen.

Bibel
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Psalm 6 gliedert sich nach der Überschrift in zwei Teile: Im ersten Teil wendet sich der Beter mit sieben Bitten und drei Imperativen an JHWH (V. 2–8): "HERR, nicht in deinem Zorn weise mich zurecht! Und nicht in deinem Grimm nimm mich in Zucht!" (V. 2). Im zweiten Teil spricht der Beter seine Gegner direkt an (V. 9–11): "Weicht von mir, alle Übeltäter!" (V. 9). Am Ende steht die Gewissheit: "Gehört hat der HERR die Stimme meines Weinens. […] Erstarren werden alle meine Feinde, sie müssen umkehren, sich schämen im Nu" (V. 11).

Woher der Stimmungsumschwung?

Wie kommt es zu diesem plötzlichen Stimmungsumschwung? Darüber hat die exegetische Forschung intensiv nachgedacht, und sie tut es immer noch. Lange Zeit rechnete man mit einem äußeren Ereignis, das zwischen der in Vers 8 beschriebenen Not ("Mein Auge ist getrübt vor Kummer") und der in Vers 9 beschriebenen plötzlichen Wende ("Der HERR hat mein lautes Weinen gehört") stattgefunden haben müsse. Zwar sagt der Text nichts davon, doch sei das anzunehmen, denn andernfalls lasse sich der Stimmungsumschwung nicht erklären. Das äußere Ereignis, so diese Richtung der Forschung, sei aber nur ein Wort, der Zuspruch eines Priesters oder eines anderweitig bevollmächtigten Kultdieners. Der Alttestamentler Hans Joachim Kraus beschreibt diesen postulierten Vorgang so: "Der Beter hat das ‚Fürchte dich nicht‘ vernommen. Ihm ist die Zusicherung gegeben worden, dass Jahwe ihn nicht verlassen wird. Jahwe wird bei ihm sein; er wird helfen und heilen. Ein derartiger Zuspruch vermittelt die Gewissheit der Erhörung. Er gibt Anlass zu Vertrauen und Hoffnung. Das Gebet ist von Jahwe angenommen worden" (Psalmen 1–59, BK AT XV/1, Neukirchen-Vluyn 61989, 187). In seiner Not, so diese Deutung, sei der Beter zum Tempel hinaufgezogen, habe in Bitten und Flehen JHWH sein Anliegen vorgetragen und sei durch den Zuspruch eines Gotteswortes von Seiten eines Priesters aus seiner Not erlöst worden: "Jahwe hat seinen Zorn von ihm abgewendet, er hat den Kranken geheilt. Hier ist offenbar an heiliger Stätte jener Gottesspruch eingetroffen, auf den die Beter der Psalmen warten" (Kraus, ebd. 187).

Sitz im Leben

Hinter dieser Erklärung steht die sogenannte form- und gattungsgeschichtliche Methode, die sich vor allem mit dem Namen des Alttestamentlers Herman Gunkel (1862–1932) verbindet. Sie fragt nach der typischen Form eines Psalms und dem Handlungskontext, dem sogenannten "Sitz im Leben", in den dieser eingebunden war. Für Gunkel waren das bei vielen Psalmen ritualisierte Kasualien. Freilich mussten diese – zum Teil mit Hilfe altorientalischer Parallelen – rekonstruiert werden, denn in den Psalmen selbst ist davon nichts zu finden. Bis in 1970er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die Auslegung der Psalmen maßgeblich von form- und gattungsgeschichtlichen Rekonstruktionen geprägt. Seit den 1980er Jahren trat eine gewisse Ernüchterung ein. Sie ging mit einer methodischen Neuorientierung einher. Rückblickend schreibt der Alttestamentler Hermann Spiekermann: "Die formgeschichtliche Auslegung der Psalmen ging davon aus, dass der Textebene der Psalmen eine erkennbare Geschehensebene zugrunde liegt oder diese zumindest aus den Psalmtexten rekonstruiert werden kann" (Psalmen. Bd. 1: 1–49, Göttingen 2023, 41).

Sitz in der Literatur

Die Neuausrichtung der Psalmenexegese seit den 1980er Jahren zeigt sich in einem Aufsatz von Norbert Lohfink SJ aus dem Jahre 1988. Zum Stimmungsumschwung zwischen Vers 8 und 9 innerhalb unseres Psalms schreibt der Alttestamentler: "Der Text hat keinen Bruch, an dem etwas Außertextliches postuliert werden müsste" (Was wird anders bei kanonischer Schriftauslegung? Beobachtungen am Beispiel von Psalm 6 [1988], wiederabgedruckt in: SBAB 16, 263–293, hier 277). In Grundzügen hat sich Dieter Böhler SJ dieser Auslegung angeschlossen (Psalmen 1–50, HThK AT, Freiburg i. Br. 2021, 134–145). Damit lässt sich der Stimmungsumschwung ohne Zusatzhypothesen aus der inneren Dynamik des Gebetsprozesses erklären. Dieser Ansatz ist für das Verständnis der Psalmen als Weg zur Kontemplation von grundlegender Bedeutung.

Wie erhört Gott Gebete?

Denn jetzt stellt sich die Frage nach der Wirkung des Gebetes neu. Viele Zeitgenossen haben Probleme mit dem Bittgebet. Greift Gott in das Geschehen der Welt ein, wenn Menschen ihn im Gebet darum bitten? In den Psalmen scheint das sehr häufig der Fall zu sein: "Gehört hat der HERR mein Flehen, der HERR nimmt mein Beten an" (Ps 6,10). Einem säkularen Bewusstsein kommen derart häufige Gebetserhörungen verdächtig vor. Handelt es sich vielleicht doch um Projektionen und fromme Wünsche eines unaufgeklärten Bewusstseins, die wir in dieser Form heute nicht mehr übernehmen können?

Ein Blick in die Spiritualitätsgeschichte und neuere empirische Forschungen zur Funktion des menschlichen Bewusstseins können uns zu neuen Einsichten verhelfen. Dabei müssen wir die Blickrichtung ändern. Wir müssen von außen nach innen schauen. Intensives Beten und Meditieren scheinen tatsächlich etwas zu bewirken, und zwar im Betenden und Meditierenden selbst. Dieses Phänomen lässt sich empirisch überprüfen. Philosophie und Psychologie interessieren sich seit einigen Jahren dafür.

Gottes Wirken in der Welt

Jetzt stellt sich die Frage, ob Gott Bittgebete erhört, ganz neu. Gott wirkt durch die Schöpfung an der Schöpfung. Das ideale Einfallstor für das Wirken Gottes in der Welt ist der menschliche Geist; allerdings nur jener Geist, der sich dem Wirken Gott gegenüber öffnet. Das Problem dabei liegt nicht auf Seiten Gottes, sondern auf Seiten des Menschen. Gott will zu uns kommen, doch er kann nicht, sagt Meister Eckhart; er kann nicht, weil wir verschlossen sind. Deshalb besteht die erste und grundlegende Herausforderung darin, aus der Verschlossenheit herauszufinden. Oft geschieht dies erst, wenn Menschen in Not geraten, wenn es kein Entkommen mehr gibt: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?", fragt der Beter, der schon zu lange wohnen muss im Lande der Fremde, "bei denen, die den Frieden hassen" (Ps 120,6; 121,1). So erging es auch David, dem Beter der Psalmen. Seine ersten Worte im Psalter haben wir bereits vernommen: "HERR, wie viele sind meine Bedränger, viele stehen gegen mich auf. Viele gibt es, die von mir sagen: Er findet keine Hilfe bei Gott" (Ps 3,2f).

Psalmen und Kontemplation

Damit begegnen wir einer ersten Gemeinsamkeit zwischen dem Beten der Psalmen und der Kontemplation: die vorbehaltlose Ausrichtung des Bewusstseins auf Gott. Ein Gebet, das aus einer situativen Not heraus spontan entsteht, das durch regelmäßige Übung zu einer guten Gewohnheit wird, das sich im Laufe der Zeit durch Meditation und Kontemplation vertieft, bleibt nicht ohne Wirkung: "Ich habe der HERRN beständig vor Augen, weil er zu meiner Rechten ist, wanke ich nicht" (Ps 16,8). Wer sich durch das (immerwährende) Gebet, wenn es nicht oberflächlich bleibt, ändert, ist zunächst der Beter selbst. Das wird nicht nur durch das Zeugnis vieler Kontemplativer bestätigt, sondern seit einigen Jahren auch durch empirische Forschung.

Wie die bei der Kontemplation auftretenden Hindernisse im Rahmen einer methodisch ausgerichteten Übung zu überwinden sind – darüber werden wir noch ausführlich zu einem späteren Zeitpunkt sprechen. Halten wir als Erstes mit Thomas Merton fest: "Das Geheimnis der Kontemplation besteht darin, uns selbst ganz Gott zu schenken. Das ist zugleich auch das Geheimnis des Psalters. Gott wird sich uns durch den Psalter schenken, wenn wir uns ihm bei unserem Rezitieren der Psalmen ohne Vorbehalt schenken" (Brot in der Wüste. Die Psalmen als Weg zur Kontemplation, München 2013, 79f).

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