Psalmen sind literarische Kunstwerke. Wenn wir uns mit ihrem Aufbau vertraut machen, geht es nicht um exegetische Quisquilien, sondern darum, den Text in seiner Gestalt und seinem Gehalt wirklich ernst zu nehmen. Das ist auch für die geistliche Schriftlesung von Bedeutung. Michael Casey hat es in seinem lesenswerten Buch über die Lectio divina. Die Kunst der geistlichen Lesung (Sankt Ottilien, 22010, 18) so ausgedrückt:
"Wir müssen das Risiko eingehen, wirklich zu lesen, was wir vor uns haben, und dem Werk erlauben, zu Herz und Gewissen zu sprechen und unseren Blick in eine Richtung zu lenken, die wir zuvor nicht wahrgenommen haben. […] Wenn wir die lectio auf das beschränken, was wir von früher ohnehin schon kennen, bewegen wir uns in eingefahrenen Spuren und Gottes Wort kann uns nur schwer von subjektiven und vorgefassten Meinungen lösen."
Der Kirchenhistoriker und Patrologe Hermann Josef Sieben SJ hat uns daran erinnert, dass nach der Überzeugung der Alten Kirche dem Psalter eine einzigartige Bedeutung zukommt: Unter allen Büchern der Heiligen Schrift ist der Psalter "das meist gebrauchte und das am höchsten verehrte" (Schlüssel zum Psalter, Paderborn 2011, 9). Für Ambrosius von Mailand war die gesamte Christologie bereits im Psalter enthalten. Athanasius von Alexandrien sah im Psalter ein Kompendium der ganzen Heiligen Schrift und zudem einen Spiegel der menschlichen Seele. Die Reihe ließe sich fortführen. Der Psalter ist nicht nur ein spirituelles, sondern auch ein genuin theologisches Werk.
Jesus und die Psalmen
Die Jesus-Geschichte bleibt weitgehend unverständlich, wenn wir den Psalter, seinen Inhalt und seine Struktur, nicht kennen. Ein Studium der Psalmen mag manche liebgewordene Vorstellung über Bord werfen. Erinnern wir uns an die Eingangspsalmen. Nachdem der Beter das Doppelportal der ersten beiden Psalmen durchschritten hat, überfällt ihn der Schrecken: "HERR, wie zahlreich sind meine Bedränger, viele stehen gegen mich auf!" (Ps 3,2). Nicht wenige stellen sich den Psalter ganz anders vor: schöne und fromme Weisen, die die Seele erquicken.
Das ist der Psalter auch. Doch zunächst konfrontiert er uns mit den Feinden, mit der Welt des Bösen, die uns zu vernichten droht. Wer diese Wirklichkeit aus seiner Wahrnehmung verdrängt, bekommt einen verzerrten Eindruck vom christlichen Glauben und wird aller Wahrscheinlichkeit nach über kurz oder lang eine böse Überraschung erleben. Beim ersten öffentlichen Auftritt Jesu in der Synagoge zu Kafarnaum war es nicht anders: Die unreinen Geister fangen an zu schreien: "Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen? (Mk 1,24). Mit dem Kommen Jesu werden die Mächte des Bösen auf den Plan gerufen. Wer den Psalter kennt, wundert sich nicht darüber. Im Kampf gegen das Böse in jedweder Gestalt bedient sich Gott eines von ihm erwählten Königs: Davids (Ps 2) und seines Sohnes nach ihm (Ps 20; 21; 72). Führt man sich die enorme Bedeutung des Psalters für die Christologie vor Augen, wundert man sich, wie wenig der Psalter in aktuellen Christologien eine Rolle spielt. So bleibt oft völlig unverständlich, warum Gott seinen Sohn in die Welt geschickt hat und was Erlösung heißt.
Wer die Psalmen kennt, versteht es, so wie der Priester Zacharias es verstanden hat, nachdem der Heilige Geist über ihn gekommen war. Mit seinen Worten beten wir im Morgengebet der Kirche:
"Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels!
Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.
Er hat uns einen starken Retter erweckt
im Hause seines Knechtes David.
So hat er verheißen von alters her
durch den Mund seiner heiligen Propheten.
Er hat uns errettet vor unseren Feinden
und aus der Hand aller, die uns hassen.
Er hat das Erbarmen mit den Vätern an uns vollendet
und an seinen heiligen Bund gedacht,
an den Eid, den er unserm Vater Abraham geschworen hat.
Er hat uns geschenkt, dass wir, aus Feindeshand befreit,
ihm furchtlos dienen
in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinem Angesicht all unsere Tage.
Und du, Kind, wirst Prophet des Höchsten heißen;
denn du wirst dem Herrn vorangehen und ihm den Weg bereiten.
Du wirst sein Volk mit der Erfahrung des Heils beschenken
in der Vergebung der Sünden.
Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes
wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe,
um allen zu leuchten,
die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes,
und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens" (Lk 1,68–79).
Die rechte Haltung
Wer die Psalmen liest, meditiert und betet, dem geht ein Licht auf, wenn er sich öffnet und bereit ist, sich ansprechen zu lassen. Es bedarf einer Haltung, die Michael Casey so beschrieben hat (ebd. 20):
"Als erstes brauchen wir Geduld. Wir müssen unseren intellektuellen Stoffwechsel verlangsamen und dürfen für unsere Lebensprobleme nicht schnelle und einfache Lösungen suchen. Indem wir den oberflächlichen Enthusiasmus dämpfen, schaffen wir die Umgebung, die es uns ermöglicht, Geistliches intensiver wahrzunehmen. Wir betreten eine Höhle und müssen unseren Augen Zeit geben, sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Ebenso müssen wir – von den mannigfaltigen alltäglichen Dingen absorbiert – unsere Suche nach oberflächlichen Reizen aufgeben und auf eine Ebene des Bewusstseins hinuntersteigen, die unserer Aufmerksamkeit gewöhnlich entgeht. Sofort alles an uns reißen zu wollen, ist der beste Weg zum Nicht-Verstehen. Unser Lebenstempo muss langsamer werden und allmählich einen anderen Bereich betreten."
Die rechte Methode
Ähnlich wie bei der Meditation und der Kontemplation, muss die rechte Haltung bei der geistigen Schriftlesung in eine konkrete Methode umgesetzt werden. Auch die lectio divina bedarf einer klaren Form, wenn sie Frucht bringen soll. Grundlegend ist das langsame, wiederholende Lesen. Michael Casey beschreibt es so (ebd. 44):
"Im Westen sind wir an eine lineare Logik gewöhnt. Wir beginnen bei Punkt A und gehen auf Punkt B zu. Wir eilen vorwärts, ohne zurückzublicken. Die Kunst der Geistlichen Lesung folgt nicht dieser Logik. Sie beginnt zwar an einem bestimmten Punkt und geht bis zum Ende, der Weg dazwischen aber ist ein Hin und Her. Wiederholung ist die Seele der richtigen lectio. Dabei ist die rechte Hirnhälfte am Werk; wir erfassen den Inhalt nicht direkt, sondern wie im Kreise. Lesend schreiten wir voran, gehen zurück und lesen nochmals. Mit jeder Wiederholung kann uns Neues aufgehen. […] Wir rasen nicht wie in einem Schnellboot los; der Fortschritt gleicht mehr einem Minensucher; im Vorwärtsgehen bewegen wir uns mehrere Male über die gleiche Stelle. Dies braucht es, um mit der Eigenart eines Werkes vertraut zu werden; je langsamer wir lesen, umso wahrscheinlicher stoßen wir auf Unerwartetes."
Christliche Meditation
Was Michael Casey hier beschreibt, gilt in besonderer Weise für die Psalmen. Niemand versteht alles, jeder versteht etwas, wenn er sich redlich darum bemüht. Die hier beschriebene Kultur des Lesens ist die Grundlage christlicher Meditation. Sie gilt es, in der Breite des christlichen Lebens, in der Kirche ebenso wie in der Theologie, wiederzugewinnen. Sie ist zudem von eminent ökumenischer Relevanz. Ihr weitgehender Verlust ist Symptom einer schweren Krise:
"Manchmal haben wir das Gefühl, die Kirche werde von Wörtern überschwemmt. In unserer Gesellschaft wird viel geredet und viel gedruckt. Auch die Liturgie droht in Geschwätzigkeit zu ersticken. Die Lautstärke scheint wichtiger zu sein als der Inhalt einer Mitteilung. Es gilt als elitär, das Niveau eines Kindergartens zu übersteigen. Viele sind jedoch auf der Suche nach einem erwachseneren Glauben und finden ihn im Rückzug in die Stille; sie ziehen eine ruhige, gegenstandslose Meditation der Unehrlichkeit, Banalität und der ideologischen Korrektheit vor, welche die einfachste Botschaft zu überwuchern drohen. Wollen wir dieser Anfechtung begegnen, müssen wir zuerst ihre Berechtigung zugeben. Wenn wir das Problem beheben wollen, müssen wir uns bewusst sein, dass die authentische lectio etwas anderes ist, als sich noch mehr Worten auszusetzen; sie hilft vielmehr, vom Äußeren zum Herzen der Wirklichkeit vorzudringen. Wir müssen das einzigartige Wort Gottes suchen, dieses liegt aber unterhalb und jenseits der vielen menschlichen Worte" (M. Casey, ebd. 34).
Brot in der Wüste
Unsere Reihe "Brot in der Wüste. Die Bibel ausgelegt" will eine Hilfe sein, die Heilige Schrift zu verstehen, mit dem Verstand und mit dem Herzen. Sie will darüber hinaus ermutigen, den Schritt von der Meditation zur Kontemplation zu wagen, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist. In jedem Fall gilt: "Lectio divina ist ein Langzeit-Projekt, ohne Ausdauer bringt sie uns wenig. Es ist nicht getan mit hektischen, momentanen Ausbrüchen. Das heißt, wir brauchen Hingabe und Einsatz, aber auch praktischen Verstand" (M. Casey, ebd. 45). Wer dabei durchhält und bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet werden (Mt 24,13).