Wie leider so manches an Christentum und Kirche befindet sich auch deren Gemeindegesang in der Krise. Plakative Nähe zur Verlautbarungssprache herrscht vor. Auf die Gegenwart zielend, weist eine Erzählung von Günter Grass den Weg des historischen Vergleichs. Wider alle Verzagtheit wäre hieraus tatsächlich manches an Inspiration zu beziehen.

I.

Mal etwas über das Kirchenlied an dieser Stelle. Seines "Gebrauchscharakters" ungeachtet sollte es ja durchaus eine künstlerische Gattung sein. Könnte es zumindest.

Aber wofür ist dieses Zwitterwesen aus Text und Musik überhaupt da? Zur Erhebung des Geistes? Um sich im Miteinander der Nähe Gottes zu vergewissern? Oder ein gemeinsames Bekenntnis zu bekunden? Glaubenswahrheiten? Befindlichkeiten? Gute Absichten? Sogenannte Werte?

II.

Wie leider so manches an Christentum und Kirche (einheimischer Prägung jedenfalls) steckt auch deren Lied in der Krise. Wer über seine Aktualität nachzudenken beginnt, im großen Bogen vom Gesangbuch bis zur Praise & Worship-Bewegung, endet kaum vergnügt. Müsse doch, so zuspitzend der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff, "jeder denkende Mensch" in den Boden versinken, wenn er im Gottesdienst Verse zu singen habe, die sprachlich wie gehaltlich oft auf Banalem surften.

"Weil Leben heißt: sich regen", werden wir beispielsweise belehrt, dass "nur die Liebe zählt", dass wir um "die nötigen Schritte" bitten oder gar "aneinander glauben und uns verstehn" sollten. Und nein, eine "gerechte" Verheutigung – "Gott will den Menschen Frieden bringen/ dafür wir alle IHR lobsingen" – hilft dem ebenso wenig ab wie versifizierte Reformentschlossenheit – "Ich träume von der Kirche,/ die ohne Macht besteht,/ die Jesu Botschaft kündet,/ dass Gott im Menschen lebt" –, oder Popsongs auf Englisch (bei denen sich vorteilhafterweise nicht jeder Rede Sinn erschließen mag): "With my Hands lifted High/ Oh God, the Battle belongs to You". Genug davon.

III.

Was vorherrscht, ist plakative Alltagsrede, nicht ohne Grenzberührungen zur Phrase und zum Kitsch. Belegmaterial für eine sklerotisch gewordene, die "blutleere Sprache der Kirche insgesamt", nicht nur in Verlautbarung, sondern christlichem Bewusstsein auf allen Ebenen.

IV.

Das Treffen in Telgte (1979). Die bekannte Erzählung von Günter Grass spiegelt deutsche Literaturmoderne im barocken Gewand. Wie selbstverständlich nimmt auch Paul Gerhardt am Kongress der Poeten teil. Für adressatenbezogenes Schaffen plädiert er dort und ordnet es seelsorgerischen Zielsetzungen zu. Der Glaube verlange "nach Liedern, die als Wehr gegen jegliche Anfechtung stünden. Solche Lieder seien dem einfachen Gemüte gewidmet, so dass die Kirchengemeinde sie ohne Mühe singen könne. Und zwar vielstrophig, damit der singende Christ von Strophe zu Strophe seiner Schwäche entkomme, Glaubensstärke gewinne und ihm Trost zuteil werde in schlimmer Zeit." Des "gewöhnlichen Mannes Nöte" habe die gottesunmittelbare Wortkunst besonders zu bedenken.

Das ist aus Vertrautheit mit der Literatur des 17. Jahrhunderts geschrieben und führt doch einen in die Gegenwart weisenden Diskurs über den Gemeindegesang. "Volksnähe" also bei zwar vorhandener, doch zurückgenommener Artistik. "Gelnhausen" freilich (d. h. Grimmelshausen), vom Verfasser als sein alter ego konzipiert, wahrt Distanz: "Bravgereimtes" für die Kirchenbank werde er nicht schreiben.

V.

Grass' Verfahren könnte Schule machen. Warum sollten wir uns nicht konkret anregen lassen, indem wir uns vergegenwärtigen, was vordem möglich war? Als Ansporn wenigstens für die mögliche Durchdringung von Gemeindegesang und Ästhetik? Ein ausgesucht herausforderndes Beispiel gäbe Philipp Nicolais Wie schön leuchtet der Morgenstern ab, entstanden vor den fiktiven Telgter Diskussionen, an der Schwelle zum Barock bereits. Auch inhaltlich gelangt dort etwas nach außen, worüber die Gegenwart eher schweigt.  

VI.

Seiner weitschweifigen Überschrift nach handelt es sich um den Typus des Rollenlieds. Voller Emphase äußert sich ein weibliches Ich, die "gläubige Seele". Angesprochen, mit besitzanzeigendem Fürwort, wird ein männliches "Du". Eine Liebesbeziehung der aufwühlendsten Art.

Eheliche Verbundenheit bildet ein Gottesverhältnis ab. Das Hohelied der jüdischen Bibel oder die Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments zumal stellen Stichworte für solche "Brautmystik" bereit. Zugleich begreift das Ich sich als Teil eines Ganzen: des corpus Christi mysticum, der Kirche.

VII.

Dass Gottes So-Sein diese Sprecherin buchstäblich außer sich bringt, zeigt die Erregtheit des Stils gleich vom emphatischen Ausruf zu Beginn an. Dem spektakulär am hellsten hervortretenden Gestirn gilt er, das den Sonnenaufgang noch während der Dunkelheit ankündigt. Mit ihm identifiziert Jesus sich in Offb 22, 16. Dieser Gestus nimmt weiter Fahrt auf. Wie die Gäste des hochzeitlichen Festmahls dabei unter Jubelrufen in die Hände klatschen, beginnen im Stakkato des Abgesangs jeder Strophe (der zwölfzeiligen Kanzone, einer hochkomplexen Form!) auch die Worte gleichsam ausgelassen zu tanzen. So unbegreiflich, unvergleichlich und unbeschreiblich ist die Liebe Gottes, dass sie teils zu stammeln, ja zu lallen beginnen und teils keinen gehörigen Reim mehr finden.

"Wie soll ich", schreibt der Dichter, an anderer Stelle, "von der Freude des ewigen Lebens vollkömmlich reden und schreiben / da ich sie nicht kann vollkömmlich verstehen / noch mit Gedanken vollkömmlich erreichen?"

VIII.

Sinnliche Erfahrbarkeit allenthalben: visuelle Reize, akustische Wahrnehmungen, mit der Umarmung ist auch Haptisches einbezogen, die gustatorische Apperzeption schließlich der Speisen im Überfluss, gipfelnd im wiederholten Begriff der "Süssigkeit", dem mystischen Topos der fruitio Dei, des "Genießens" Gottes. Zwar illustriert Nicolais Text keine Lehre, sondern stellt einen Zustand dar, doch sind seiner anschaulich-kühnen Bilderfülle dogmatische Aussagen teils korrekt einverwoben.

Mehr als nur eine Bedeutung hat fast jedes semantische Element. Gesteigert durch ihr Zusammenspiel wird ein dichtes Geflecht von Überlagerungen und Ineinander-Schichtungen hergestellt, das sich kaum sondern lässt. Seine Mitte findet der Beziehungsraum dieser Collage vielfältiger Schriftbezüge in der großen Verheißung des christlichen Glaubens, seiner noch ausstehenden Dimension, dessen Vor-Schein so angedeutet wird, die Heimkehr zu Gott.

IX.

Allein schon als findig arrangiertes Klang- und Rhythmus-Erlebnis ist das Textgebilde von hohem Reiz. Selbst eine versteckte Bauform der Strophen zeugt von artistischem Gestaltungswillen. Bei Anordnung um ihre Mittelachse werden sie zum (Abendmals-)Kelch und verweisen damit auf das zentrale Mysterium des christlichen Gottesdienstes. Was die Weiterführung der von Nicolai beigegebenen Melodie anbelangt, tut sich ein kleines Who is Who wichtiger Komponisten auf: Buxtehude, Pachelbel, Bach, Mendelssohn, Max Reger, Hugo Distler, Hans Werner Henze, bis hin zu Gloria Coates, Graham Waterhouse oder Naji Hakim – nur auswahlweise.

X.

Die Vision des Freudenfests ertsteht vor dem Hintergrund grausiger Wirklichkeit. In Unna, wo Nicolai Pfarrer war, wütete 1599 eine Pestepidemie. Gegen jegliche Zerstörung und Trauer aber stellt der grandiose Gesang eine Kontrast-Ansicht, das Prinzip Hoffnung samt deren weltüberwindender Widerstandskraft. Was im Jetzt gilt, bleibt nicht definitiv. Leid und Vergänglichkeit behalten das letzte Wort keineswegs. Einem anderen Bewusstsein wird aufgeholfen. "Alles ist noch nicht es selbst" (um einen Vers aus Rilkes vierter Duineser Elegie abzuwandeln).

Für das Christentum wäre diese Weiterung der Perspektive nur bei Strafe seiner Selbstauflösung verzichtbar. Ästhetisch kalkuliert trägt Nicolai sie vor, bei allem Überschwang damit auch gebändigt. Ihre Leidenschaft aber überträgt sich. Wie um uns aus unserer Lethargie aufzuscheuchen.

XI.

Dass Nicolais Lied gegenwärtiger Glaubenspraxis nur schwer zugänglich sein mag, hat expressive Gründe wie solche, die dem Inhalt geschuldet sind. Gerade in aufgeklärt-bürgerlichen Zeiten haben beider Wucht und Inbrunst wiederholt Anpassungen an eine vermeintlich zeitgemäße Nachvollziehbarkeit veranlasst (nebst erläuternde Bemerkungen sicherheitshalber). Die Sprache des Begehrens zumal, wurde – so noch in den aktuellen Einheitsgesangbüchern – gern ins Moralische ausquartiert. Darüber, bei welchen Anlässen es gesungen werden kann, herrscht bis heute Dissens.

XII.

Nein, imitieren soll man gar nichts. Doch dieser Morgenstern: mit Blick auf die Gegenwart vermöchte er eine Quelle grundsätzlicher Inspiration und Produktivität sein. Wie viel an künstlerischem, und das heißt immer auch: komplex erkenntnisstiftendem Leuchten lässt das Kirchenlied zu? Damit zusammenhängend, einer schmalbrüstig-anämisch gewordenen Sprache und Vorstellungswelt gegenüber: wie viel an Intensität verträgt es, an Emphase, an gemeinsamem In-den-Bann-gezogen-Werden, ja der Überwältigung? An realutopisch Ver-rücktem (als Überschuss des Glaubens) zwischen individueller Andacht und Party.

Hätte all das in unserem Gottesdienst noch Platz, als Einsprengsel wenigstens?

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen