I.
Zu meinen Lieblingshelden in der Wirklichkeit gehören die Betreiber kleiner Verlage. Um Abenteurer des Geistes handelt es sich bei ihnen, ökonomisch nicht selten gratwandelnde Heber von Schatztruhen. Im Verbund von Künstlern der Sprache und des Zeichenstifts können diese dazu oft liebevoll ausgestattet sein. Einer, auf den das alles zutrifft, ist Kleinheinrich in Münster.
Selbst Jon Fosse findet sich unter seinen Autoren. Großflächige Radierungen sind der bis heute einzigen deutschen (genauer: zweisprachigen) Ausgabe der Lyrik des letztjährigen Nobelpreisträgers beigegeben. Ebenfalls bibliophil aufgemacht, folgte ihr ein Band mit Prosasplittern. Wagstücke beides, für welche bei den rechnenden Branchenführern kein Platz war.
II.
Auch Antonie Schneider hat hier ein Zuhause gefunden. Nicht zwar mit ihren Texten für junge Leser, die – von den Vereinigten Staaten quer durch Europa bis hin nach Fernost – weltweit verbreitet sind. Große Themen in den Horizont kleiner Menschen zu stellen, setzt eine hohe Könnerschaft voraus. Zwischen Phantasie und Realismus bewegen sie sich, sind lehrreich, ohne aufdringlich zu pädagogisieren, voller Worte, die sowohl präzise bezeichnen als auch Vorstellungsräume zu erschließen vermögen (denen also Flügel über die Erdenschwere hinaus wachsen).
Wenn auch sparsam, ist die 1954 im Allgäu geborene Prosa-Autorin zugleich eine Lyrikerin von schätzenswerten Graden. Das eben lässt sich bei Kleinheinrich besichtigen.
III.
Ihr jüngstes Werk dort, aus dem letzten Jahr, ist erneut schmal, doch eindringlich. Nüchtern hat sie es nach der Textsorte betitelt, an die sie anschließen möchte: Litaneien. Ein Zyklus von acht Gesängen unterschiedlicher Länge spannt den Bogen von Mariä Lichtmess über Aschermittwoch und Gründonnerstag bis hin zu Ostern. Wie zu den beiden vorangegangenen Gedichtreihen HILLEL lied der gärten (2016) – einem Lobpreis, der allein schon im Namen des rabbinischen Weisheitslehrers der Christuszeit beschlossen ist – und Albarella (2019), die poetische Inspektion eines Stücks "planetenleib", hat die Wiener Illustratorin Angelika Kaufmann Farbenprächtiges beigesteuert. Als Vertonung der jungen chinesischen Komponistin Cong Wei wurde eines der Langgedichte daraus vor wenigen Monaten in Lissabon zu Gehör gebracht.
IV.
Die Litanei ist eine gottesdienstliche Form des Gebets. Auf Anrufungen des Vorbeters repliziert die Gemeinde mit Bitten um Erbarmen oder Fürsprache. Die im Wechsel dauerhaft sich wiederholenden Bestandteile verleihen ihr bohrend meditativen Charakter. Antonie Schneider ändert jenen Gestus auf mancherlei Weise ab.
Ganz auf den individuellen Raum ausgerichtet sind ihre Versuche liturgisch inspirierten Schreibens. "Pneumatischer Fetzensprache" gleichsam bedienen sie sich, die aus höchst disparaten Einzelteilen auf eine gemeinsame Realität zielt. Der Ausdruck stammt von Friederike Mayröcker, die sich bisweilen selbst durch das Formmuster der Litanei inspirieren ließ. Mit ihr (wie auch mit Silja Walter, der Dichterin aus dem Kloster "am Rande der Stadt") stand die Autorin lange Jahre hindurch in Korrespondenz.
V.
Auf besonders faszinierende Weise zeigt dieses Stilprinzip sich im Eingangsgedicht. Von dem Ausgangstableau "Mariä Lichtmess" – wie das komplexe Fest der Darstellung des Herrn vor noch nicht allzu langer Zeit hieß –, werden einige Bilder direkt aufgegriffen: die Kerzenweihe, der letzte Tag, an dem Krippe und Weihnachtsbaum stehen. Schnell wechselnd lagern sich ihnen völlig andere Bezüge an, verstärken, erhellen und erweitern mit dem Datum verbundene Bedeutungen, brechen und verzweigen sie auch.
Das Tempelopfer der Tauben etwa im Echo der Figur des "Aschenputtel", ihrerseits zugleich auf den bevorstehenden Beginn der Fastenzeit verweisend. die "Mägde" ferner, welche (mit dem traditionellen Ende des Dienstjahrs) nicht nur soziale, sondern auch heilsgeschichtliche Bezüge aufweisen und eine Überblendung auf die Bitte darstellen, dass alles noch gut ausgehen möge: "Mutter, erlöse die Welt. / Jungfrau ruckedigu –" So, auf die Mittlerin der Gnaden, auf den Heiligen Geist wie auf vergossenes Blut anspielend, der abgebrochene Schlussvers. Über eine durchschnittene "Nabelschnur" ist das Geburtsmotiv vorher bereits gegenwärtig. Verborgen wie Prinzessin "Allerleirauh" vielleicht, der zweiten erwähnten Magd aus dem Märchen (als Sehnsuchtsraum), könnte der Retter sein, in einem Säugling etwa.
Selbst atmosphärisch fehlt es nicht an Zeichen. Das "wallende" Schneetreiben bewegt sich doppelsinnig im Modus einer Prozession. Und gegen jeden Anschein des trüben Ist-Zustandes gibt es Winke zur Hoffnung, hier auf den Frühling, mag der Mond (der ebenso wirklich wie Bestandteil einer Seelenlandschaft erscheint) auch verzagt fragen, "WOHER" die Wende denn kommen sollte, "das Licht".
VI.
Durchwirkt von solch katakombischen Codes, weiträumigen Koppelungen und Reprisen sind alle Gesänge Antonie Schneiders, auch untereinander. Ein flirrendes Netz entsteht, das eine Mitte umhüllt, die in ihrer Inkommensurabilität jede direkte Aussage übersteigt. Implizit darauf hindeutende Vorfindlichkeiten sind teils autobiographischen, teils biblischen Ursprungs, Literarischem verdanken sie sich, Kirchenliedern auch, und immer wieder einer aufmerksam registrierten Natur: "Die Buschwindröschen wissen, wo sie ihn hingeleget haben" (mit Worten Maria Magdalenas aus der Auferstehungshistoria von Heinrich Schütz).
Bereitschaft zur suchenden Lektüre erfordern diese Verse, ein Lesen, das mit der sich hier artikulierenden Stimme den ihr vielfältig sich kreuzenden Fährten nachgeht. Bis in die Syntax und Wortgestalt hinein bleibt Entscheidendes freilich uneindeutig und verrätselt. Doch "Rätsel" wollen gelöst, ihr "Schlüssel gefunden" werden. Worauf Metaphernwirbel und Gedankenbewegung konkret hinauslaufen könnten, bleibt ausgespart. Zum Definitiven rundet sich nichts – obschon alles danach drängt.
VII.
Versehrt und angefochten ist das Ich dieser Litaneien, in seinem Zustand de profundis ausharrend und beharrlich gleichwohl. Eine Verfassung, die als "taubes Sehnen" kenntlich wird. Doch wonach?
Um Bleibendes geht es, Bergendes. "Sein, lass mich sein, howe adonai", lautet eine Bitte. Wortgeschichtlich klingt in der gewählten Sprache der jüdischen Bibel hier die Bedeutung von Fundament an, von Schwelle, die alles trägt, auf der alles ruht, jenseits der Zeiten und der Zeit, "dem Alt neuen", wie es bei der Autorin heißt.
"So will ich leben", vor ihm, imaginiert sich ein Vorsatz – oder ist es nur/immerhin Wunsch? –: "schweigend wird das erste Buchenblatt / geboren: verdorrt, versponnen wie eine Raupe, klirrend gedreht". Wandlung fordert den anspruchsvollen Weg.
VIII.
Antonie Schneiders Lyrik bewegt sich im Echoraum von Frömmigkeitsformen und Glaubensinhalten. Als evozierbar bereit aber stehen diese zumal, weil es – (doppelsinnig auch derlei) "ein Kind rufend" –, Erinnerungen daran gibt, Erfahrungen damit. Sie erst sind es, die eine Fülle von Spiegelungen aufblitzen lassen, welche ihrerseits die Kraft der Hoffnung freisetzen: Ahnung von Heimat noch im Verstörenden.