Kierkegaards ParadoxAufkündigung als Akt der Treue

Das eigentliche Drama in Kierkegaards Leben ist die Aufkündigung seiner Verlobung. Er hatte einer jungen Frau versprochen, sie zu heiraten – und hat dieses Versprechen gebrochen. Nicht leichtfertig, sondern aus Treue zu einem inneren Auftrag. Dieses Paradox wurde zur heimlichen Quelle seiner Produktion.

Der Philosoph Sören Kierkegaard
© Arne List, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons, Søren Kierkegaard

I.

Sein Großvater war Friedhofsgärtner, sein Vater hat es aus einfachen Verhältnissen bis zum erfolgreichen Wollwarenhändler geschafft und sich im Zentrum von Kopenhagen ein stattliches Bürgerhaus gekauft. Dort ist Søren Kierkegaard mit seinen sechs Geschwistern aufgewachsen. Über seinen Vater, der belesen war und zur Schwermut neigte, hat er die Frömmigkeit des Pietismus kennengelernt. Seine Mutter Ane, die zweite Frau seines Vaters, hat er geliebt, ohne dass sie großen Einfluss auf seine geistige Entwicklung gehabt hätte. Fünf seiner Geschwister sind früh gestorben. Den Tod seines Vaters, der ihm ein stattliches Erbe hinterließ, hat Kierkegaard als "großes Erdbeben" bezeichnet. Diese Erschütterung hat seine erste Publikation veranlasst, die 1838 unter dem Titel Papiere eines Überlebenden erschienen ist.

II.

Gegen die Spekulationen des deutschen Idealismus und ihren Drang zum System hat Kierkegaard den Einzelnen verteidigt. Der Einzelne ist mehr und anderes als ein Rädchen in der Maschinerie des Ganzen. In seinem Inneren trägt er Kontinente mit sich, die meist unentdeckt bleiben. Wer bin ich? Was hat es mit mir selbst auf sich? Wie soll ich mich zur Welt stellen? Was ist meine Bestimmung? Was bedeuten mir die anderen, wieviel zeige, wieviel verberge ich? Der Blick der anderen kann eine Bühne, aber auch ein Gerichtshof sein. Mit solchen Fragen der Existenz hat Kierkegaard die Provinzen der Innerlichkeit zu erkunden versucht. Schon der 22-jährige Student notiert in Gilleleje: "Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, daß ich tun solle; es gilt eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will." Kierkegaard ist als Begründer der Existenzphilosophie in die Geschichte des Denkens eingegangen. Gabriel Marcel und Sartre, aber auch Jaspers und Heidegger sind Giganten auf seinen Schultern.

III.

Das bürgerliche Christentum, das seine institutionelle Ausformung in der dänischen Staatskirche gefunden hatte, war Kierkegaard suspekt. Mit den damaligen Repräsentanten, Bischof Jacob Peter Mynster, der ihn konfirmiert hat, und Professor Hans Lassen Martensen, dessen Vorlesungen über spekulative Theologie er gehört hat, hat er sich angelegt. Als Martensen Mynster nach dessen Tod als "Wahrheitszeugen" der dänischen Kirche bezeichnete, konnte K. nicht länger an sich halten. Seine spitze Polemik in Zeitungsartikeln, aber auch seine in schneller Folge erscheinenden Bücher machten ihn zu einer bekannten und umstrittenen Persönlichkeit in Kopenhagen. Wegen seiner harschen Abrechnung mit der verbürgerlichten lutherischen Staatskirche hatte er Feinde, die ihn mit Spott und Hohn übergossen, aber auch viele heimliche Bewunderer.

IV.

Das eigentliche Drama des Lebens von Kierkegaard ist die Aufkündigung seiner Verlobung. Er hatte einer jungen Frau aus gutem Haus versprochen, sie zu heiraten – und hat dieses Versprechen gebrochen. Nicht leichtfertig, sondern aus überzogenem Sündenbewusstsein und in Treue zu einem inneren Auftrag, der sich zunehmend Raum in ihm verschafft hat. Die nie ganz heilende Wunde der aufgekündigten Verlobung wurde zur heimlichen Quelle seiner literarischen Produktion.

V.

Die verstörende Geschichte der Opferung Isaaks im Buch Genesis hat ihn intensiv beschäftigt. In seinem Werk Furcht und Zittern hat er ihr tiefgründige Deutungen abgerungen, die das Innenleben Abrahams und Isaaks ausloten. Was haben sie auf dem dreitätigen Weg zum Berg Morija gedacht und gesprochen? Wie war es nach dem Akt der Opferung, der durch den Widder eine unvorhergesehene Wendung nahm? Die biblischen Leerstellen hat Kierkegaard mit feinsinnigen psychologischen Überlegungen ausgesponnen. Dass der betagte Patriarch dem Auftrag Gottes entsprechen wollte, obwohl die Tötung des eigenen Sohnes sittlich absurd ist, war für den dänischen Denker kein Anlass zur Empörung, sondern Ausdruck einer Treue, die bis zum Äußersten geht. Dass Abraham die Liebe zu Gott bis ans Ende durchgehalten hat, ohne den Ausgang des Opfers zu kennen – das ist es, was Kierkegaard wider alle Vernunft fasziniert. Er hat von der "Suspendierung des Ethischen" gesprochen und damit alle Kantianer gegen sich aufgebracht. Gott müsse mehr und anderes sein als die Funktion moralischer Imperative, war Kierkegaard überzeugt. Mehr noch als Abraham habe Maria gelitten, als sie mit ansehen musste, wie am Kreuz die Seite ihres Sohnes durch den römischen Hauptmann mit einer Lanze durchbohrt wurde. Simeons Wort vom Schwert, das durch ihr Herz gehe, hat den dänischen Denker tief beeindruckt.

VI.

Kierkegaard scheint seine eigene Existenz in Abraham gespiegelt zu haben. Er hat seine Verlobte einem größeren Auftrag geopfert – und gerade so wider alle bürgerliche Vernunft seinem Gott die Treue gehalten. Es war ihm klar, dass er ihr damit viel Leid und ihrer in Kopenhagen hochangesehenen Familie öffentliche Schmach zugemutet hat. Die Kündigung der Verlobung war in den intellektuellen Kreisen Stadtgespräch. In seinem Tagebuch hat Kierkegaard sein Verhalten gerechtfertigt, er habe einer Frau seine Grübeleien und Zweifel, seine bohrenden Reflexionen nicht zumuten können, es sei ihm einfach nicht gegeben gewesen, "Ehemann, Vater und Spießbürger" zu werden. Und doch hätte es eine andere Seite in ihm gerne gewollt. Die Verlobungskrise ist der Bruch, der nicht mehr gekittet wird, der anhaltende Schmerz, aus dem alles hervorgeht, was kommt.

VII.

Die junge Frau aus Kopenhagen, gebildet, musikalisch, fromm – keiner würde sie heute noch kennen, wäre sie nicht die Verlobte Kierkegaards gewesen. Obwohl der dänische Denker sein Versprechen aufgekündigt und seine ehemalige Verlobte später einen anderen geheiratet hat, hat er ihr zeitlebens in seinem Denken und Schreiben die Treue gehalten. Den Verlobungsring, den er zurückbekam, hat er umgestaltet und die Diamanten zu einem Kreuz konfigurieren lassen. Er war ihm ein Zeichen der Erinnerung an seinen Akt der Entsagung. Er hat ihn bis zu seinem frühen Tod getragen. Seiner Berufung, ein religiöser Schriftsteller zu werden, der frei ist, weil er weder dem Staat noch der Kirche noch einer Familie verpflichtet ist, hat er mit einer existenziellen Intensität entsprochen, die ihresgleichen sucht. Der Name der Frau, die sein Denken wie niemand sonst beschäftigt und der er testamentarisch alle seine Schriften gewidmet hat, ist REGINE OLSEN.

Postskriptum

In seinem Tagebuch hat Kierkegaard notiert, "dass sie (sc. Regine Olsen) ja doch nicht das erste Anrecht auf mein Leben hat. Nein, nein, menschlich gesprochen – ja, das ist gewiss, und wie gern würde ich es ausdrücken –, hat sie das erste und einzige Anreicht auf mein Leben und soll es auch haben – aber Gott hat das erste Anrecht. Mein Verlöbnis mit ihr und der Bruch sind eigentlich mein Gottesverlöbnis, sind, wenn ich so sagen darf, göttlich mein Verlöbnis mit Gott."

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