Es gibt im Geflecht der menschlichen Geschichten Momente, in denen Unerwartetes passiert und Menschenleben umgekrempelt werden. Ob als Wink der Vorsehung oder Fügung der Fortuna oder schlicht als glücklicher Zufall – in jedem Fall sind solche Einbrüche für die Betroffenen – und die, die davon hören – deutungsbedürftig.

I.

Nemesis divina – unter diesem Titel hat der große Botaniker Carl von Linné (1707-1787) über hundert skandalöse Begebenheiten gesammelt, die er seinem Sohn testamentarisch vermacht hat. Es geht um Geschichten, in denen Menschen Frevelhaftes tun – und dafür von der Göttin der Vergeltung, Nemesis, zur Rechenschaft gezogen werden. Seine experimentelle Theologie des Bösen setzt darauf, dass es ein bislang unerkanntes, verborgenes System des Ausgleichs von Schuld und Strafe bereits in diesem Leben gibt. Aber die Geschichten, die Linné aufbietet, stehen quer zu seinen Erklärungsversuchen, die sie in ein moralisches System der Vergeltung einspannen sollen.

Auch gegenläufig dazu lassen sich Begebenheiten sammeln, die sich der ordnenden Betrachtung entziehen. Es gibt im unübersichtlichen Geflecht der menschlichen Geschichten Momente, in denen Unerwartetes passiert und Menschenleben umgekrempelt werden. Nicht historische Begebenheiten, die den Lauf der Weltgeschichte verändert haben, sondern solche, an denen das ganz und gar Unwahrscheinliche in die Biographie von Menschen eingebrochen ist. Ob als Wink der Vorsehung oder Fügung der Fortuna oder schlicht als glücklicher Zufall – in jedem Fall sind solche Einbrüche für die Betroffenen – und die, die davon hören – deutungsbedürftig.

II.

1939 haben in Orléans drei Jugendliche einen Streich unternommen. Sie sind in die Kathedrale gegangen, um zu beichten. Bei der Beichte haben sie jeweils ein ganzes Register an ausgesuchten schweren Sünden vorgetragen – Lüge, Diebstahl, sexuelle Ausschweifungen –, um den Geistlichen zu provozieren. Dieser hat das Spiel erst beim dritten Mal durchschaut. Dem letzten hat er als Buße aufgegeben: "Bitte, gehe nach vorne, knie vor dem Gekreuzigten nieder und sprich dreimal das Gebet: 'Herr, ich danke Dir, dass Du meine Sünden getragen hast.'" Der Dritte folgte dieser Empfehlung. Er sprach das kurze Gebet, doch schon beim zweiten Mal kam er ins Stottern, beim dritten Mal versagte ihm die Stimme und er brach in Tränen aus – als verwandelter Mensch ging er aus der Kathedrale heraus. Der Dritte hieß Aron und war jüdischer Herkunft. "Dieser Junge war ich", sagte Kardinal Jean-Marie Lustiger, der nach dieser alles umstülpenden Erfahrung gegen den Widerstand seiner Eltern in die Katholische Kirche eingetreten ist. Lustiger hat diese Geschichte in einer späten Predigt offengelegt.

III.

Viktor Frankl, schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein anerkannter Psychiater, erhält nach dem Anschluss Österreichs das Angebot, aus dem besetzten Land zu emigrieren. Die antijüdischen Maßnahmen der NS-Schergen werden immer bedrohlicher. Er fragt sich, ob er das tun kann, weil seine betagten Eltern noch in Wien leben. Durch seine Arbeit als leitender Arzt in der Psychiatrie "Am Steinhof" sind sie zunächst noch geschützt. An dem Tag, an dem das Visum für die Vereinigten Staaten tatsächlich eintrifft, spitzt sich für Frankl das Dilemma – gehen oder bleiben? – zu: "Unschlüssig verlasse ich das Haus …, gehe ein wenig spazieren und denk mir: 'Ist das nicht die typische Situation, in der ein Wink vom Himmel Not täte?' Als ich heimkomme, fällt mein Blick auf ein kleines Marmorstück, das da auf einem Tisch liegt." Es handelt sich um das abgesplitterte Stück einer Gesetzestafel aus der zerstörten Synagoge von Wien, und als Frankl den Stein näher betrachtet, entdeckt er einen hebräischen Buchstaben, der nur im vierten Gebot des Dekalogs zu finden ist: "Du sollst Vater und Mutter ehren" – dieser Wink – ausgerechnet am Tag der Ausreisebewilligung – überwältigt ihn. Alle Zweifel sind beseitigt und er entscheidet sich zu bleiben, obwohl das für ihn als Juden lebensgefährlich ist.

Rückblickend schreibt er: "Anscheinend war das Konzentrationslager meine wahre Reifeprüfung. Ich hätte ja nicht antreten müssen – ich hätte dem ja entkommen und rechtzeitig nach Amerika gehen können. Ich hätte ja in Amerika die Logotherapie entwickeln können, ich hätte dort mein Lebenswerk vollenden, meine Lebensaufgabe erfüllen können – aber ich tat es eben nicht. Und so kam ich nach Auschwitz. Es war das experimentum crucis." Dass er im Lager seinen sterbenden Vater begleiten konnte, war ihm später Bestätigung, dass er den Wink richtig gelesen hatte.

IV.

Imre Kertész schreibt im Dossier K., dass er nur überlebt hat, weil er für tot erklärt wurde.

"Im Buchenwalder Häftlingsregister ist nämlich ein sogenannter Abgang vermerkt: 'Kertész, Imre, ungarischer Jude, Häftling Nummer 64921', gestorben am 18. Februar 1945. Ein unanzweifelbarer Hinweis, daß mich irgend jemand aus der Liste gestrichen hatte, damit ich, als jüdischer Häftling, nicht im Zuge der Liquidation des Lagers umgebracht würde. Wer sich auch nur ein wenig mit der administrativen Struktur der Konzentrationslager auskennt, weiß, daß zum Zustandekommen eines solchen Eintrags die heimliche Zusammenarbeit mehrerer Personen erforderlich war."

Beim Nachdenken über die Errettung aus dem KZ kreist sein Nachdenken um die Frage einer höheren Vernunft oder Providenz:

"Wenn ich versuche all das als rational anzusehen, was mich im frühen Winter 1945 halbtot in eine gefrorene Pfütze auf dem Buchenwalder Beton gebracht hat, kann ich immer noch nicht als rational betrachten, daß ausgerechnet ich von dort gerettet wurde und nicht ein anderer. Betrachte ich das nämlich als rational, dann muß ich auch die Idee der Vorsehung akzeptieren. Wenn aber die Vorsehung rational ist, warum hat sie sich dann nicht auch auf die übrigen sechs Millionen ausgedehnt, die umgebracht worden sind?"

V.

In seinem Roman eines Schicksallosen beschreibt Kertész die letzten Tage vor der Befreiung von Auschwitz. Er war schon auf einem Sammellager abgelegt worden, wo man die hingebracht hatte, die nur noch Haut und Knochen waren und die man für nicht mehr überlebensfähig hielt. Da zog ihn ein Unbekannter heraus, umwickelte ihn mit einem Tuch und trug ihn die steilen Stufen eines Treppenhauses hinauf, brachte ihn in ein Zimmer und legte ihn in ein Bett. Später wurde er wiederholt in andere Baracken verlegt, um in Steppbetten-Revier zu landen. Dort liegt ein junger KZ-Mitinsasse polnischer Herkunft wegen Unterernährung und schwerer Krankheit – wie György Köves, der Protagonist des Romans, der überlebt.

Jahrzehnte später – der ungarische Schriftsteller ist im Winter 2002 in Stockholm, um am nächsten Tag den Nobelpreis für Literatur entgegenzunehmen – klingelt in seinem Hotelzimmer das Telefon:

"Hier ist ein Mann aus Australien am Apparat, der Sie unbedingt sprechen will. Er hat bereits dreimal angerufen – und dreimal habe ich ihn abgewiesen. Nun aber stelle ich ihn durch. Er kennt Sie. Bitte warten Sie einen Augenblick … (Knacken in der Leitung, dann eine andere Stimme) … Hier ist Kuharski, wir waren zusammen in Buchenwald, ich bin der polnische Junge, der auf den letzten Seiten im Roman eines Schicksallosen vorkommt und von dem man als Leser annimmt, dass er gestorben ist. Ich aber lebe – und, und … (die Stimme versagt) möchte dir gratulieren zum Nobelpreis …"

Kertész räumt im Dossier K. ein, dass dieses Gespräch zwischen den Kontinenten bei ihm "die Erinnerung an eine fast transzendente Nachricht" hinterlassen habe.

VI.

Oder eine Notiz aus einer italienischen Zeitung, die Elias Canetti in seiner Provinz des Menschen festgehalten hat: ein siebzehnjähriges Mädchen wird nach schwerer Krankheit zu Grabe getragen. Ihre Schwester wird während der Zeremonie unruhig und bittet hartnäckig darum, den Sarg doch noch einmal zu öffnen. Erstaunlicherweise unterbricht man die Zeremonie und lässt sich darauf ein – und tatsächlich: in dem Augenblick, wo der Sargdeckel geöffnet wird, gibt die junge Tote Lebenszeichen von sich. Als Dank für das "Wunder" beschließt die Gerettete, Ordensschwester zu werden. Das zweite Leben im Dienst der Kirche dauert länger als das erste. Mit 100 Jahren stirbt sie als hochbetagte Nonne – 83 Jahre blieben ihr noch, nachdem man sie für tot gehalten und beinahe lebend begraben hätte.

VII.

Ernst Jünger berichtet in seinem Tagebuch Siebzig verweht, wie ein Ingenieur bei einer Schiffsreise nach einer nächtlichen Geburtstagsfeier sich zu weit über die Reling beugt und ins Meer stürzt. Zwei Stunden später erst wird seine Abwesenheit bemerkt. Das schwere Passagierschiff wendet und fährt trotz hoher See zurück an die mutmaßliche Unfallstelle. Der Kapitän lässt den Verschollenen mit Scheinwerfern suchen, obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, dass er nach etwa vier Stunden noch gesichtet und gerettet werden kann. Doch der Ingenieur hält sich "halb schwimmend halb treibend über Wasser" und sieht das Schiff in seine Nähe kommen. Er hofft, gesehen zu werden, und macht sich bemerkbar. Doch vergeblich, die Scheinwerfer erfassen ihn nicht, er bleibt ungesehen. Das Schiff wendet und gibt die Suche auf. Die Hoffnung zerschellt …

Vierzehn Stunden später geschieht das völlig Unwahrscheinliche: ein Feuerschiff, das per Funk über das Unglück benachrichtigt worden war und in die Nähe kommt, gabelt den immer noch schwimmenden, völlig erschöpften Mann auf. Später berichtete der Ingenieur, dass er aus Furcht, erneut übersehen zu werden, seine Unterhose – das letzte ihm verbliebene Kleidungsstück – ausgezogen und damit verzweifelt gewinkt habe. Jünger fragt: "Wie viele müssen ertrinken, bevor einer gerettet wird? Und warum gerade er? Es ist ein Wunder, jedenfalls für den Betroffenen. Und wenn er es so auffasst, schließt es eine stellvertretende Verpflichtung ein."

VIII.

Vor kurzem kam zufällig im Fernsehen eine Sendung über den Gulag, die Arbeitslager unter Stalin, in denen mehr als zwei Millionen Menschen interniert waren. Eine Sequenz in wackligen Schwarz-Weiß-Bildern zeigt deutsche Soldaten, die 1955 nach über zehn Jahren russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückkehren: abgehärmt und von der Härte des Lebens hart geworden, steigen sie aus dem Zug – und Frauen warten am Gleis mit Schildern in der Hand, auf denen die Namen ihrer vermissten Männer stehen. Dann plötzlich die Szene einer Wiederbegegnung: die Kamera zeigt die Zuckungen in den Gesichtern, Rührung, Tränen – die Sprache reicht nicht aus, um das Unbeschreibliche zu beschreiben, was hier geschehen ist.

IX.

Als am 5. März 1953 Papst Pius XII. die Nachricht vom Tod Stalins überbracht wurde, erbleichte er. Er unterbrach die Sitzung, erhob sich und eilte ohne ein Wort in die Privatkapelle des Päpstlichen Palastes, um zu beten. Später wurde er gefragt, warum. Man müsse doch für das Heil eines solchen Diktators, der Millionen auf dem Gewissen habe, beten! Der Papst, der nach Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter (1963) versagt hat, weil er zur Deportation und Vernichtung der Juden geschwiegen hat – ein Vorwurf, dessen Berechtigung bis heute kontrovers diskutiert wird –, ist durch sein Eintreten für den sowjetischen Diktator zum Stellvertreter geworden.

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