I.
Zum ersten Mal habe ich von Bruno Latours Buch "Jubilieren" bei einem Vortrag des Dichters und Theologen Christian Lehnert gehört, der von Suchbewegungen in der Lyrik sprach. Der Sprachduktus der Dichtung geht ja häufig ins Offene und Weite, sie zeigt so an, dass etwas fehlt, gerade Leerstellen können Platzhalter für den plötzlichen Einbruch von Fülle und Präsenz sein. Zugleich gibt es aber auch das dankbare Staunen, dass überhaupt etwas ist und nicht etwa nichts. Das Loben und Preisen, ohne sprachlich Schiffbruch zu erleiden, gehört vielleicht zu den größten Herausforderungen der Lyrik heute. In diesem Zusammenhang erwähnte Lehnert das Buch "Jubilieren" von Latour. Ich dachte, "Jubilieren", interessant, hier geht es offensichtlich um eine Sprachform jenseits der Klage, der Anklage, der flehenden Bitte, quasi um einen heilsamen Kontrapunkt gegen die weit verbreitete Doxologie-Müdigkeit und bleierne Theodizeelastigkeit heutiger Gottesrede.
II.
Aber Fehlanzeige! Meine Vermutung war falsch. Der Untertitel von Latours Buch heißt im Deutschen: "Über religiöse Rede". Der Suhrkamp-Übersetzer, der ansonsten exzellente Arbeit geleistet hat, hat hier ein entscheidendes Wort weggelassen, nämlich das Wort "les tourments". Dadurch hat er eine falsche Fährte gelegt. Das Original spricht von den "Qualen religiöser Rede" – und das durchaus quälerische Ringen und Suchen macht den Duktus dieses Buches aus. Es ist kein theologisches Buch, es ist kein religionswissenschaftliches oder philosophisches Buch, sondern ein biografisch gefärbtes Buch, das über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der religiösen Rede heute eloquent und mitunter etwas unsystematisch räsoniert. Es steht für ein Unbehagen an der Immanenz, das unter nachdenklichen Intellektuellen zuzunehmen scheint.
Mit Salon-Atheisten will er nicht verwechselt werden. Was er will, ist, den abgeschnittenen Faden der Tradition wiederaufnehmen, das Verlorene, das ihm vielleicht in der Kindheit, in der religiösen Sozialisation zugewachsen ist, wiederfinden.
III.
Bruno Latour (1947-2022) war von Haus aus Soziologe und Wissenschaftstheoretiker. Es kommt bei Soziologen manchmal vor, dass sie sich in vorgerücktem Alter dem Thema Religion zuwenden. Latour ist sicher nicht "religiös unmusikalisch", was Max Weber von sich behauptet hat – als sei religiöse Praxis vor allem eine Frage der Musikalität! Er ist auch kein Frömmigkeitsvirtuose, für den es ein Leichtes wäre, sein Leben in der verborgenen Gegenwart Gottes zu führen. Latour bewegt sich im Zwischenraum. Er gesteht am Anfang, dass er weder glauben könne noch im überlieferten Sinne glauben wolle. Als Katholik gehe er sonntags (heimlich) zur Messe, ohne dort wirklich teilnehmen zu können. Er schämt sich für das, was von der Kanzel herab gepredigt wird, aber er ist nicht minder abgestoßen von dem, was die Spötter der Kirche von sich geben, die kein Sensorium dafür haben, dass etwas fehlt, wenn Gott fehlt. Mit Salon-Atheisten will er nicht verwechselt werden. Was er will, ist, den abgeschnittenen Faden der Tradition wiederaufnehmen, das Verlorene, das ihm vielleicht in der Kindheit, in der religiösen Sozialisation zugewachsen ist, wiederfinden.
IV.
An dieser Stelle schlägt er nun einen ersten Pflock ein, nämlich die Differenz zwischen wissenschaftlicher Rede und religiöser Rede. Wissenschaft, so sagt er vielleicht etwas verkürzend, ist auf präzise Information hin abgestellt, und Kommunikation, wissenschaftliche und vor allem mediale Kommunikation, funktioniert durch die Übertragung von Daten, ohne dass diese Daten im Blick auf den Adressaten, auf den sie gerichtet sind, verändert würden. Also, die auf Datenübermittlung zugeschnittene Kommunikation funktioniert so, dass sie nicht situationsbezogen, nicht kontextgerecht, nicht sprachsensibel auf ein personales Gegenüber ausgerichtet ist.
Der zweite Pflock, den Latour einschlägt, ist der, dass er religiöse Rede mit dem Sprachspiel der Liebe in Beziehung setzt. Er charakterisiert das Sprachspiel der Liebe, das immer fragil ist, näher durch drei Aspekte. Erstens geht es in diesem Sprachspiel darum, dass einer den anderen in den Blick nimmt, ihn anspricht, ihn wirklich zu erreichen versucht. Und dadurch, dass er den anderen anspricht, versucht er, durch seinen Blick, durch seine Worte eine Art Präsenz zu erzeugen. Er versucht, das Gegenüber, das Du, den Adressaten seiner Rede in die Gegenwart zu holen. Gegenwart, Präsenz, das ist der zweite Aspekt im Sprachspiel der Liebe.
Der dritte ist, dass dadurch, dass der Liebende zu sprechen beginnt, er beim Adressaten seiner Rede etwas verändern will. Er will die Liebe wecken oder in der Routine des Alltags neu befeuern. Das funktioniert nicht, wenn er, nach seiner Liebe befragt, nur den Satz "Ich liebe dich" wiederholt, den er vor längerem vielleicht schon einmal gesprochen hat. Die bloße Wiederholung einer Phrase wäre hier möglicherweise bereits Ausdruck einer Ermüdung oder Erkaltung der Liebe, die doch gerade durch die einfallsreiche und aufmerksam kreative Sprache neu geweckt werden soll. Die immer prekäre Sprache der Liebe als Analogie zur religiösen Rede durchzieht das Buch Jubilieren. Und mit ihr kann man auch aus der Perspektive der Theologie einiges anfangen.
V.
Dennoch gesteht Latour, nach wie vor Schwierigkeiten mit der religiösen Rede zu haben. Er ist als französischer Intellektueller durch die Stationen der Religionskritik – Voltaire, Diderot und Sartre – gegangen. Er kann das nicht einfach mit- und nachsprechen, was heute in der Liturgie der Kirche gesprochen wird. Die seit dem Konzil viel beschworene actuosa participatio am Gottesdienst ist ihm nicht möglich. Angesichts dieser Entfremdungserfahrung und Ohnmacht formuliert Latour – und das wäre der dritte Pflock, den ich betonten möchte – eine doppelte Kritik: einerseits an denen, die leichtfertig den Faden der Tradition abschneiden und so tun, als habe Religion uns heute nichts mehr zu sagen; andererseits an denen, die Religion professionell verwalten. Latour, der eigentlich über weite Strecken vorsichtig tastend spricht, wird an dieser Stelle geradezu prophetisch deutlich. Ein kurzer Passus möge die zornige Absage an die Traditionsvergessenen verdeutlichen:
"Sie werden es niemals zugeben, aber waren sie es etwa nicht, die beschlossen haben, ihre Kinder nicht taufen zu lassen, einen seit so vielen Jahrhunderten ununterbrochenen Faden mit eigener Hand zu kappen, ihnen die Zugehörigkeit zum Volk der Erlösten zu entziehen? Und warum? Damit sie später selber wählen können. Oh Freiheit, was für Verbrechen hat diese Generation nicht in deinem Namen begangen! Und was haben sie ihren Kindern vermacht stattdessen? Autonomie!" (94f.)
Und dann fährt Latour fort, dass eigentlich die Autonomie durch die Matrix von Bindungen erst zustande kommt, dass eine Wahl erst bei Kenntnis der Dinge, nicht aber im luftleeren Raum getroffen werden kann. Das ist die erste Absage an die Gebildeten unter den heutigen Verächtern der Religion.
Die andere ist an die professionellen Verwalter der religiösen Rede, also die Priester und Theologen, adressiert, die die Traditionsbestände nicht angemessen übersetzen, sondern gewissermaßen papageientheologisch nur das repetieren, was vergangene Jahrhunderte vorgesprochen haben. Ihre leichtzüngige "Gottprotzigkeit" – um ein Wort von Elias Canetti aufzunehmen – irritiert ihn, und diese Irritation sollte man nicht mit einem Anti-Reflex abweisen, auch wenn die Priester- und Theologenschelte natürlich einigermaßen pauschal ausfällt.
VI.
Latour selbst erörtert – und das wäre der vierte Pflock – unterschiedliche Strategien der Übersetzung, die ihm alle unzureichend zu sein scheinen. Ich zähle nur die Stichworte auf: Rationalisieren reiche nicht aus, das sei die Konvertierung der religiösen Sprache in die Informationssprache der Wissenschaft; es bleibe nichts übrig – die Obertöne würden weggeschnitten. Entmythologisieren und historisch-kritisch alle Übermalungen abtragen, um vermeintlich zum authentischen Ur-Text vorzustoßen, sei ebenfalls verfehlt, es bleibe dann nur die "vollständig weiße Wand" (137), die bekanntlich nie leer gehalten, sondern mit Plakaten nach Maßgabe eigener Vorlieben wieder bebildert werde. Die Versuchung zur symbolischen Lesart wird ebenfalls verworfen, ihre Operationen erscheinen Latour zu willkürlich. Ästhetisieren, also die Farben und Formen der Liturgie, die schönen Klänge der Messen und Kantanten, das polychrome Licht der Kirchenfenster in gotischen Kathedralen goutieren, ohne sich um die Aneignung der Inhalte zu scheren, das sei auch zu wenig. Die Bibel einfach wörtlich nehmen und sich gegen Rückfragen zu immunisieren, sei schließlich eine Strategie, die allzu schnell in die Fundamentalismus-Falle tappt. Alle diese Wege überzeugen Latour nicht.
VII.
Was will er selber? Er selber möchte eine Art Übersetzung versuchen, die an das Sprachspiel der Liebe anschließt, die aber letztlich nur fragmentarisch und allenfalls skizzenhaft entwickelt wird. Latour führt dafür das Stichwort "Re-Präsentieren" ein, das Anklänge an die Sakramententheologie mitführt. Das Präfix "Re" zeigt an, dass etwas, was in die Vergangenheit abgesunken ist, neu in die Gegenwart geholt werden soll. Er illustriert dies an einem Beispiel, einem Fresko von Fra Angelico in Florenz, welches das leere Grab zeigt. Der Rücken eines betenden Mönches ist zu sehen, der dem Betrachter eine Brücke gewährt, mit dem Mönch auf die Szene zu schauen. Keine der dargestellten Figuren sieht unmittelbar, was sich dort zuträgt. Allein der Finger des Engels weist ins leere Grab – eine hinweisende Geste, die zeigt: Der, auf den es ankommt, ist nicht da! Aber indem ich, so Latour, als Betrachter realisiere, dass er nicht da ist: nicht im Bild, nicht in der Vergangenheit, kann sich ein Umschlag ereignen. Die Leere ist die Hohlform für das Ankommenkönnen einer Präsenz. Hier und jetzt!
Latour wünscht sich, dass es mehr Übersetzer gäbe, die als im Glauben Entschiedene den Unentschiedenen eine Brücke bauen. Sie müssten die Kunst beherrschen, die brachliegenden Traditionsbestände so zu erschließen, dass sie auch bei den Suchenden und Zweifelnden ankommen können.
VIII.
Bei solchen Überlegungen, die eher indirekten Ausdrucksformen Präsenzeffekte zutrauen, hält sich Latour noch länger auf. Es fällt nicht immer leicht, ihm bei seinen Volten zu folgen. Aber er schlägt eine Lesart der Evangelien vor, die weniger horizontal – oder wie er sagt: "longitudonal" – dem Erzählbogen von Leben, Tod und Auferstehung folgt, sondern auf Textsignale achtet, die den Duktus unterbrechen, die stören, die Alteritätsmarkierungen setzen. Er nennt diese Stellen auch "transversal". Sie enthalten versteckte Appelle an den Leser: Hör mal! Schau mal!
Auch das Zittern der Stimme, die Sprache der Tränen, Veränderungen der Tonlage führt er an. Um diese, an die Aufmerksamkeit des Lesers appellierenden vertikalen Stellen durchzugehen, müsste man nun länger verweilen und eine gründliche Lektüre der Evangelien in dieser Optik beginnen. Aber das geht an dieser Stelle nicht. Stattdessen sei auf einen der letzten Sätze verwiesen, in denen Bruno Latour versucht, positiv zu sagen, was das anvisierte Ziel seiner kreisenden und mitunter tatsächlich quälenden Reflexionen zur religiösen Rede ist, gewissermaßen das Finale von "Jubilieren". Dort heißt es: "Es ist schwierig, die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbringend zu machen, um gut über die Gegenwart zu reden". Statt neue Informationen zu erfinden, ist die Pflicht "des Fortführers" (Botho Strauß) auf religiösem Gebiet die Treue: "Er darf nicht erfinden, er muss erneuern."
IX.
Man sieht, Latour traut bei aller Kritik an der religiösen Rede denen, die den Faden der Tradition fortspinnen oder fortzuspinnen versuchen, doch immerhin zu, dass sie etwas Heilbringendes, etwas Gutes in die Gegenwart hineinholen können. Das ist nicht wenig! Aber Latour wünscht sich, dass es mehr Übersetzer gäbe, die als im Glauben Entschiedene den Unentschiedenen eine Brücke bauen. Sie müssten die Kunst beherrschen, die brachliegenden Traditionsbestände so zu erschließen, dass sie auch bei den Suchenden und Zweifelnden ankommen können. Verbalismen und Ritualismen helfen hier nicht, die mimikryhafte Übernahme modischer Vokabulare auch nicht. Die, die bei den anderen zu schnell ankommen wollen, drohen beim Über-Setzen die kostbarste Fracht zu verlieren. Der Fährmannsdienst ist eine eigene Kunst. Passen wir also auf, dass wir das Wichtigste nicht verlieren …
- Bruno LATOUR, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin: Suhrkamp 2016 (Jubiler – ou les tourments de la parole religieuse, Paris 2013)