Solidarität mit den Verdammten?Charles Péguy gegen Sibylle Lewitscharoff – ein eschatologischer Schlagabtausch

Kann es Hoffnung für die Schurken der Geschichte geben? Der 1914 gefallene französische Dichter Charles Péguy und die 2023 verstorbene Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff nehmen in dieser Frage schroffe Gegenpositionen ein – ein (fiktives) Streitgespräch der beiden bietet unzeitgemäße Denkanstöße

Mann mit kariertem Hemd gedenkt der Opfer
© Foto von Zinko Hein auf Unsplash

I.

Die kalte Gleichgültigkeit, einen Mitmenschen der ewigen Verdammnis zu überlassen, konnte und wollte er nicht hinnehmen. Er trat aus der katholischen Kirche aus, weil er das stumpfe Sich-Abfinden der allermeisten Gläubigen mit der Wirklichkeit der Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt, für unerträglich hielt. Die Missionsparole "Rette deine Seele" schien ihm Verrat am Auftrag des Evangeliums, sich gerade um die Kleinen und Verlorenen zu kümmern. Der junge Charles Péguy (1873–1914) trat in die sozialistische Partei ein, weil er meinte, die Solidarität mit den Armen und Ausgestoßenen sei hier viel eher zu Hause. Den Ausgebeuteten zu ihrem Recht zu verhelfen, ungerechte Strukturen des Kapitalismus zu bekämpfen, die Produktionsmittel zu vergemeinschaften, das war sein Anliegen. "Weg mit den Polstersesseln, einen Holzschemel unter den Hintern!"

Allerdings stießen ihn hier schon bald die üblichen Rangeleien der Funktionäre ab. So wie der Heilsegoismus einer verbürgerlichten Kirche die Solidarität mit den Verlorenen verrät, so bleibt der Parteiapparat hinter der sozialistischen Verbrüderung mit den Deklassierten zurück, wenn er nur mit sich selbst beschäftigt ist. Dass der Kommunismus, der alle mit dem Reich Gottes ohne Gott beglücken wollte, später eigene Ausstoßungspraktiken entwickelt hat, hat Péguy, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist, nicht mehr erlebt. Die Arbeitslager der Sowjetunion sind die Höllen des Sozialismus, die französische Meisterdenker wie Jean-Paul Sartre und Pioniere der Utopie wie Ernst Bloch lange geleugnet haben.

II.

Dem ersten Bruch mit der katholischen Kirche um der Solidarität willen folgt, wie Hans Urs von Balthasar treffend vermerkt, der zweite Bruch mit dem machtfixierten politischen Sozialismus. Damit wird Péguy nun selbst zum doppelt Geächteten. Er steht außerhalb von katholischer Kirche und sozialistischer Partei – und damit auf verlorenem Posten. Gerade diese Erfahrung aber lässt den Publizisten und Dichter, der 1906 in die Kirche zurückfindet, vorstoßen zu einer neuen Option, der Hoffnung für alle. Muss Gott, wenn er der Gott aller Menschen sein will, sich nicht selbst mit allen solidarisieren – gerade mit denen, die nicht glauben können oder wollen? Macht er sich in seiner Liebe nicht abhängig vom erbärmlichsten Sünder, wenn er auf dessen Umkehr und Buße wartet? Würde dem Schöpfer nicht selbst etwas fehlen, wenn auch nur eines seiner Geschöpfe verloren ginge? Wäre es nicht eine finale Tragödie für Gott, wenn er von 100 zwar 99 retten könnte, einen aber verstoßen müsste? Mit solchen Rückfragen, die auf ein dramatisches Verständnis von Theologie zielen, schreibt er gegen die Scholastik an, die Gott in Hoheitsattributen ruhigstellt.

Wäre es nicht verwerflich, wenn der Schöpfer verwerfen müsste, der doch Verantwortung für alle seine Geschöpfe trägt? Ein großer Kummer würde Gott überkommen, wenn er das Verlorene nicht mehr finden, es nicht mehr zurückgewinnen könnte.

III.

In seiner Schrift Le Porche du Mystère de la deuxième Vertu (dt.: Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung) von 1911 notiert Péguy: "Hoffnung sieht, was sein wird". In einer kühnen Umkehrung der geläufigen Sicht schreibt er, es dürfe dem Ewigen nicht das Zeitliche fehlen. "Und Gott überkam die Angst, verwerfen zu müssen" (53). Wäre es nicht verwerflich, wenn der Schöpfer verwerfen müsste, der doch Verantwortung für alle seine Geschöpfe trägt? Ein großer Kummer würde Gott überkommen, wenn er das Verlorene nicht mehr finden, es nicht mehr zurückgewinnen könnte.

Péguy spricht ohne Vorsicht von einer Abhängigkeit Gottes in Liebe: "Jetzt muß er (es ist wahnwitzig) hoffen, daß wir uns retten, / Ohne uns kann er nichts tun, / Er muß sich nach unseren Launen richten, / Er muß warten, ob der verehrte Herr Sünder geruht, ein wenig auf sein Heil bedacht zu sein." (104) Oder: "Der Schöpfer braucht sein Geschöpf, hat sich in die Lage versetzt, seines Geschöpfs zu bedürfen" Oder: "Er, der alles ist, ist nichts ohne den, der nichts ist" (106). Das Risiko Gottes, eine endliche Freiheit geschaffen zu haben, die sich, wenn sie das will, dem göttlichen Heilswillen endgültig widersetzen kann, hat Péguy in seiner kühnen poetischen Theologie wie kaum jemand sonst in Worte gebracht. "Gott hat auf uns gehofft" – was, wenn wir diese Hoffnung enttäuschen?

IV.

Charles Péguy wird zum leidenschaftlichen Anwalt der Hoffnung für alle. Genau dieser Heilsoptimismus – dieser "Wahnsinn der Hoffnung" (111) – hat nach den potenzierten Gräueln im Stalinismus und Nationalsozialismus nicht minder leidenschaftlichen Einspruch gefunden. Die Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff (1953–2023) hat immer wieder darauf hingewiesen, dass in den KZs und Gulags die Imaginationen der Hölle bittere Realität geworden sind. Gebildete Juden wie Primo Levi haben ihre ausweglose Lage im Lager sich klar zu machen versucht, indem sie sich auswendig gelernte Terzinen aus Dantes Inferno vorsprachen.

In ihrem gemeinsam mit Heiko Michael Hartmann verfassten Roman Warten auf - Gericht und Erlösung: Poetischer Streit im Jenseits von 2020 ergreift Lewitscharoff Partei für die Opfer und fordert Gerechtigkeit: "Auf ein teigiges, allumfassendes Entschuldungsmanöver pfeife ich! Sonst wären die größten Menschenschlächter, von denen das vergangene Jahrhundert eine furchterregende Anzahl an die Macht gehievt hat, einfach so, mir nichts, dir nichts, von aller Schuld befreit und dürften sich an der Schönheit und Wonne der Erlösung laben. Sollte es entgegen meiner Erwartung tatsächlich so kommen, werde ich auf meine jenseitigen Tage noch zur Religionsverächterin. Dann bitte – ab mit mir in die Hölle! Seit an Seit mit Völkermördern und Massenschlächtern will ich nicht im himmlischen Gefild lustwandeln. Das wäre ein obszöner Alptraum." (50) – Hier führt die Solidarität mit den verstummten Opfern des Unrechts zu einem ungezähmten Drang nach postmortaler Vergeltung. Kämen alle in den Himmel, wollte die eschatologische Rebellin nicht dazugehören und würde für sich selbst lieber die Hölle wählen!

V.

Lewitscharoffs schneidende Absage an "weichgespülte Theologien der Allversöhnung" kommt laut und sprachmächtig daher. Eine Hoffnung, die das heilspartikularistische Erbe Augustins, Luthers und Calvins hinter sich lässt und theologische Impulse von Karl Barth, Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar aufnimmt, hat sie, ohne mit der Wimper zu zucken, mit Fragezeichen versehen: Tendiert die latente Allversöhnungstendenz in der Theologie des 20. Jahrhunderts nicht dazu, die abgründigen Verbrechen der Täter heimlich zu relativieren, das komplizenhafte Schweigen der Mitläufer zu ignorieren und den verzweifelten Schrei der Opfer nach Gerechtigkeit zu überhören? Die "Vorstellung, dass Menschenschlächter mir nichts dir nichts der Erlösung entgegentrudeln könnten", war ihr ein Gräuel. Entschieden hat sie darauf bestanden, dass es einer Instanz bedarf, die alles speichert, was vertuscht, verschleiert oder verdrängt wird. Ohne Aufrichtung der unverstellten Wahrheit der Geschichte werde es kein gerechtes Gericht geben können.

Auf die flammende Infernalistin, die mit aller Härte auf die Strafgerechtigkeit Gottes pocht, würde Péguy wohl mit Unmut erwidern: Aber "gäbe es nur die Gerechtigkeit, und mischte sich die Barmherzigkeit nicht in das Spiel, / Wer würde gerettet?" Er nicht, sie nicht – und auch von den übrigen Menschen niemand!

VI.

Eine bis an den Rand der Apokatastasis gehende Hoffnung hier – eine die ewige Verdammnis herbeisehende Theologie der Revanche dort: ein eschatologisches Duell. Was, wenn sich die beiden Antipoden über den Abstand eines Jahrhunderts hinweg zu einem imaginären Disput im Jenseits begegnen würden? Der 1914 gefallene französische Publizist und Dichter Charles Péguy und die 2023 verstorbene Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die beide unzeitgemäße Interventionen und unliebsame Provokationen nicht scheuten. Auf die flammende Infernalistin, die mit aller Härte auf die Strafgerechtigkeit Gottes pocht, würde Péguy wohl mit Unmut erwidern: Aber "gäbe es nur die Gerechtigkeit, und mischte sich die Barmherzigkeit nicht in das Spiel, / Wer würde gerettet?" Er nicht, sie nicht – und auch von den übrigen Menschen niemand!

Péguys verwegene Rede vom Risiko Gottes, sich vom erbärmlichsten Sünder abhängig zu machen und bang auf dessen Ja zu warten, würde Lewitscharoff unruhig auf ihrem Stuhl hin und her wippen lassen. Unverhohlen würde sie die Gegenfrage stellen, ob ein solch sanfter Gott überhaupt noch Gott genannt zu werden verdient. Nach all den barbarischen Exzessen des 20. Jahrhunderts bleibe ihr "ein wattiges Ungefähr der Erlösung für alle" verdächtig. Das Gedächtnis Gottes stehe gegen die Taktik der Täter, ihre Verbrechen zu vertuschen, ja selbst noch die Spuren der Spurenverwischung zu tilgen. "Wir brauchen Gott, der nichts vergisst" … Péguy aber würde – die Solidarität mit den Verdammten fest im Blick – leidenschaftlich ergänzen: "der nichts vergisst, aber alles verzeiht!"

Lewitscharoff würde umgehend parieren und genüsslich die drastischen Höllen-Aussagen im Neuen Testament zitieren. Hat nicht Jesus drohend von der "äußersten Finsternis" gesprochen, in der sie "heulen und mit den Zähnen knirschen" (Mt 8,12; 13,42.50; 22,51; 25.30)? Hat er nicht von der "Sünde wider den Heiligen Geist" gesprochen, die nicht vergeben werden kann? (Mk 3,21; Lk 12,10f). Und hat er im großen Gerichtsgleichnis nicht von der finalen Scheidung zwischen Schafen und Böcken gesprochen? (Mt 25, 31-46) Auch würde sie Dantes ausgeklügeltes System der Höllen-Strafen aufbieten, das passgenau auf die einzelnen Laster – Hochmut, Habgier, Geiz, Neid, Wollust, Völlerei – abgestimmt ist.

Die bibelfeste Lewitscharoff würde diese Zitaten-Collage als fahrlässige Halbierung der biblischen Zeugnisse von sich weisen und den Heilsverlust der Frevler betonen, der schon in den Psalmen, aber auch an anderen Stellen der Bibel zum Ausdruck kommt.

Péguy würde das an sich abprallen lassen, Dantes Inferno-Phantasien unter Sadismus-Verdacht stellen und die Frage stellen, ob das Kalkül von Lohn und Strafe bei aller poetischen Ausschmückung nicht an der Logik der göttlichen Liebe vorbeigehe. Die Gleichnisse vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme, vom verlorenen Sohn (vgl. Lk 15) – zeigen sie nicht die Fürsorge Gottes für seine Geschöpfe und die Freude des himmlischen Vaters über die Rückkehr der Verlorenen? Damit nicht genug, würde Péguy mit den heilsuniversalistischen Aussagen der Hl. Schrift auftrumpfen. Hat nicht Paulus davon gesprochen, dass Gott "alle zusammen dem Ungehorsam überantwortet hat, um sich aller zusammen zu erbarmen" (Röm 11,32)? Und findet sich nicht die hoffnungsvolle Aussage: "Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4)? Spricht Christus nicht im Johannes-Evangelium selbst: "Wenn ich am Kreuz erhöht sein werde, werde ich alle an mich ziehen" (Joh 12,32)? Und hat nicht wiederum Paulus das Übergewicht der Gnade betont, als er in seinem letzten Brief schrieb, der erste Adam, der mit der Sünde den Tod gebracht habe, werde vom zweiten Adam, der das Leben bringe, überwältigt werden (Röm 5,12-21)?

Die bibelfeste Lewitscharoff würde diese Zitaten-Collage als fahrlässige Halbierung der biblischen Zeugnisse von sich weisen und den Heilsverlust der Frevler betonen, der schon in den Psalmen, aber auch an anderen Stellen der Bibel zum Ausdruck kommt. Werden die Bösen nicht aus dem Buch des Lebens gestrichen? Damit nicht genug, sie würde die Autorität des heiligen Augustinus bemühen, der in seinem Spätwerk De civitate Dei von der massa damnata gesprochen und "die allzu mitleidige Theologie" des Origenes mit Spott überzogen hat. Péguy hingegen würde gerade im großen Alexandriner seinen stärksten Verbündeten sehen und an die eindrückliche Vision des wartenden Christus erinnern, der im Himmel nicht eher von der Frucht des Weinstocks trinken möchte, bis nicht das letzte Glied seines Leibes Eingang ins Reich der Vollendung gefunden hat. Lässt Origenes nicht den reuigen Sünder sagen: "Auch jetzt noch trauert mein Erlöser über meine Sünden. Mein Erlöser kann sich nicht freuen, solange ich in meiner Sündigkeit verbleibe" (in Lev. hom. 7,2)?

Dem Solidaritätspathos Péguys würde Lewitscharoff mit diebischer Freude entgegenhalten, dass selbst Benedikt XVI. am Ende seines Lebens erhebliche Zweifel geäußert habe, ob es für verkorkste Täter-Profile noch Hoffnung gebe, er vermisse bei den "eigentlichen Häuptern des Bösen jenen Rest von Wahrheit und Liebe, der sie verwandlungsfähig macht". Die Schurken der Geschichte müssten bestraft werden. Basta! Péguy würde den frühen Ratzinger dagegenhalten: "Die Wahrheit, die uns richtet, ist aufgebrochen, uns zu retten." Diese erlösende Umcodierung des Gerichtsgedankens im Christentum dürfe man nicht klein reden, sie lasse ihn wider alle Hoffnung hoffen. So würde es hin und hergehen, beide würden sich Schriftstellen und Väterzitate, theologische Positionen, aber auch Passagen aus der Weltliteratur um die Ohren werfen, ohne dass sich die Waage klar und deutlich in eine Richtung neigen würde.

Dem flammenden Votum der Berliner Schriftstellerin, die den Zutritt in den Himmel verweigern will, wenn die Schurken der Geschichte darin Einlass finden, wäre die Haltung Karl Rahners entgegenzuhalten, der einmal geäußert, er würde an der Pforte des Himmels innehalten und für die verlorenen Brüder und Schwestern beim Richter eintreten wollen, damit auch sie eingelassen werden.

VII.

Wie sollte sie auch? Würden wir die Frage final entscheiden, bräuchte das letzte Gericht nicht mehr stattzufinden. Das Duell zwischen Péguy und Lewitscharoff muss daher offenbleiben. Dem Infernalismus ist allerdings entgegenzuhalten, dass er das Gericht Gottes keck vorwegnimmt, wenn er die Schurken der Geschichte schon hier und jetzt als Verdammte in der Hölle sieht. Derselbe Einwand ist gegen Theologien der Allversöhnung zu erheben, die das Eintrittsbillet in den Himmel bereits heute an alle verteilen wollen. Nur entschiedene Urteilsenthaltung kann im Blick auf Himmel und Hölle das vorläufige Urteil in der Geschichte sein.

Dem flammenden Votum der Berliner Schriftstellerin, die den Zutritt in den Himmel verweigern will, wenn die Schurken der Geschichte darin Einlass finden, wäre die Haltung Karl Rahners entgegenzuhalten, der einmal geäußert, er würde an der Pforte des Himmels innehalten und für die verlorenen Brüder und Schwestern beim Richter eintreten wollen, damit auch sie eingelassen werden. Diese Theologie der Solidarität, die von der Hoffnung für den hoffnungslosen Fall nicht lassen will, entspricht dem Glauben an einen Gott, der in der Passion auf Golgatha nichts unversucht gelassen hat, die Verlorenen zu erreichen und zu retten. Ob sie sich am Ende alle retten lassen?

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