Geißel Gottes?Der Bußprophet in der Metro

Warum beschleicht uns Unbehagen, wenn uns ein Mitpassagier als Prophet entgegentritt und uns mit ungefilterter Zudringlichkeit behelligt?

Berliner U-Bahn
© Unsplash

I.

In der U-Bahn-Station Oranienburger Tor steigt ein hochgewachsener, etwas nachlässig gekleideter Mann ein. Er hat einen abgetragenen Beutel mit diversen Utensilien bei sich und stellt sich unauffällig neben die Eingangstür. Die Türen schließen sich, die Bahn fährt an. Plötzlich tritt der Mann vor, nimmt seine Mitpassagiere ins Visier und erhebt seine Stimme: "Seht ihr es nicht? Überschwemmungen in Frankreich, in Österreich, in Slowenien! Merkt ihr es nicht? Waldbrände auf Rhodos, in Kanada und Griechenland! Überall Fluten, Stürme, Hagel und Brand – und ihr? Ihr kehrt noch immer nicht um. Was muss denn noch kommen? Kennt ihr den Propheten Jona? Er wurde nach Ninive geschickt. Erst wollte er nicht und floh vor dem Auftrag, dann ging er doch und predigte den Leuten Umkehr. Wisst ihr, was die bösen Leute von Ninive gemacht haben? Sie haben getan, womit niemand gerechnet hätte. Sie haben auf den Ruf des Propheten gehört und sind in Sack und Asche gegangen. Das hat selbst Gott überrascht, daher hat er die bösen Leute von Ninive vom Strafgericht verschont. Und ihr? Ihr hört nicht, ihr seht nicht, ja ihr ändert euch nicht! Es wird kein gutes Ende mit euch nehmen!" Danach senkt der Mann den Blick, bleibt stehen, als sei nichts geschehen, als habe er nichts gesagt – und steigt ohne Worte bei der nächsten Station "Friedrichstraße" wieder aus.

II.

Warum beschleicht uns Unbehagen, wenn uns ein Mitpassagier als Prophet entgegentritt und uns mit ungefilterter Zudringlichkeit behelligt? Die einen schauen betreten aus dem Fenster, als sähen sie nichts, andere tippen eifrig in ihr Smartphone, als hörten sie nichts, wieder andere grinsen sich belustigt an. Ist das ein religiöser Spinner? Wie kommt er dazu, den garstig breiten Graben zwischen dem Propheten Jona und den heutigen Lebenswelten zu überspringen? Meint er wirklich, einen göttlichen Auftrag zu haben? Fühlt er sich autorisiert, die fatalen Folgen des Klimawandels als revanche de Dieu für ein unbußfertiges Geschlecht zu deuten?

Seltsam, alle unsere Strategien, die biblische Botschaft historisch auf Abstand zu halten, versagen, wenn wir persönlich angegangen und mit solcher Wucht angesprochen werden. Wir können nicht ausweichen. Wir sind gemeint. Der da redet und ruft, meint uns, dich und mich, niemanden sonst.

III.

Was aber wäre, wenn wir sein Wort an uns heranließen? Wenn wir auch nur für einen Augenblick so täten, als ob wir es mit einem Propheten zu tun hätten, der uns im Namen des Allmächtigen die Leviten liest? Müssten wir dann nicht unsere Abwehrreflexe aussetzen und zugeben, dass wir Fehler gemacht haben – als Einzelne, als Gesellschaft? Der Klimawandel – und auch die Wetter-Eskapaden des vergangenen Sommers – haben mit unserem Verhalten zu tun. Sind wir uns ganz sicher, dass es sich nicht zugleich um Warnzeichen handeln könnte, Signale von höherer Warte, die auf Kommendes hindeuten?

IV.

Aber sofort schütteln wir über uns selbst den Kopf. Wer kann das wissen? Wir haben die geschichtstheologischen Kategorien nicht, um Gottes Absichten so klar und deutlich zu entziffern. Wir können die Welt beobachten, wir können den anderen beobachten, wir können uns selbst beim Beobachten zuschauen, die Sicht des Alles-Beobachters Gott können wir nicht einnehmen. Der Vorbehalt bleibt. Gewiss, bei den Vorzeichen des Endes, die in den apokalyptischen Reden Jesu genannt werden, spielen auch Naturkatastrophen eine Rolle. Aber es ist ein hermeneutischer Kurzschluss, ja geradezu übergriffig, Überschwemmungen und Brände, Stürme und Erdbeben, die mit dem Klimawandel zu tun haben, als göttliche Geißel zu deuten.

Der Auftritt des Mannes hinterlässt Unbehagen, seine Gottprotzigkeit verletzt unsere Vereinnahmungsempfindlichkeit. Es stört uns, dass er sich am Unbegreiflichen vergreift. Die Roadmap der Endereignisse wie eine vorwegnehmende Reportage kennen zu wollen, ist eine Form der Gottesbemächtigung – "usurpative Theologie", würde Eckhard Nordhofen sagen. Der aber wollen wir nicht auf den Leim gehen.

V.

Erik Peterson (1890-1960), der selbst mit steiler Attitüde sprechen und schreiben konnte, hat in seinen Vorlesungen über den Römerbrief geradezu beiläufig den Begriff 'eschatologischer Vorbehalt' geprägt. Dieser Begriff bezieht sich auf das Interim zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi und erinnert daran, dass die Vollendung der Geschichte noch aussteht, obwohl der Einbruch des Ewigen in die Zeit bereits stattgefunden hat. Der eschatologische Vorbehalt weist Absolutheitsansprüche in der Deutung der Geschichte zurück. Solange die Uhren ticken, kann niemand einen transhistorischen Standpunkt einnehmen. Der Bußprophet in der Metro verletzt diese Einsicht, so können wir seine straftheologischen Zudringlichkeiten getrost auf sich beruhen lassen. Und doch hätte eine Abstumpfung des Sinns für das Krisenhafte der Zeit und die noch ausstehende Vollendung Petersons Unmut provoziert, der nach dem ersten Kommen Christi mit der Parusie das Gericht und die Vollendung erwartet hat.

Nachtrag

Am Tag der Veröffentlichung dieses Stücks über den U-Bahn-Propheten erhalte ich ein Echo des Berliner Schriftstellers Christoph Peters, das so eindrücklich ist, dass ich es hier – gewissermaßen als zweite Tafel eines Diptychons – anhänge.

Vor etwa zwei Wochen saß ich in einer ziemlich vollen S-Bahn, eine längere Fahrt von circa 25 Minuten. Kurz nach dem Einsteigen hörte ich erst von weit her, dann langsam näherkommend, eine Art orthodoxer Litanei, vorgetragen mit einer außerordentlich klaren, warmen Tenorstimme, jedoch ohne jede Gesangsattitüde. Das Einzige, was ich verstanden habe, war immer wieder das Wort "Hristos". Nach einer Weile schob sich ein Mann, vielleicht Anfang zwanzig, mit toten, trübweiß verdrehten Augen, vorsichtig, Schritt für Schritt seinem Blindenstock folgend durch das Gedränge, die linke Hand geöffnet, sodass man ihm ein Almosen hineinlegen konnte. Er ging bis zum Ende der S-Bahn, drehte um, ging wieder zurück bis ans andere Ende des Zugs, kehrte erneut um, unablässig weiter singend. Auch wenn ihm jemand etwas Geld gab, sang er unbeirrt weiter. Er bekam nicht viel, obwohl die Art der Intonation, die völlige Versunkenheit in die Anrufung von ungeheurer Kraft und Schönheit waren, so, als wäre der Mann per Raum-Zeit-Maschine direkt aus einem Dostojewski-Roman ins Berlin der Gegenwart versetzt worden, um die Anwesenheit des Heiligen im Hier und Jetzt zu bezeugen … (Christoph Peters)

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