I.
Am 24. Juli 1981 hat es in Altdorf am Vierwaldstätter See – dem Ort Wilhelm Tells – ein einschneidendes Unglück gegeben, das bis heute im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung nachhallt. Eine Gruppe von Mädchen, die im Sommer ein Ferienlager durchführte, hatte trotz schlechter Witterung ihre Zelte auf einer Wiese in Domat-Ems aufgeschlagen. Ein Gebirgsbach in der Nähe war durch anhaltenden Regen stark angeschwollen. Die wachsende Gefahr für die Zelte war den Gruppenleiterinnen offensichtlich nicht bewusst gewesen. Die Warnung eines Anwohners hatten sie für übertrieben gehalten. Oben aber scheint sich ein Felsblock gelöst und wie ein Pfropfen den Wasserlauf des Gebirgsbachs blockiert zu haben. Es hatte sich ein Rückstau gebildet. Am Abend – gegen 19.20 Uhr – hatte der Pfropfen den Wasserdruck nicht mehr gehalten: Die Rüfe samt Geröll und Schutt stürzten ins Tal herab.
Vom Donner der herabstürzenden Steine aufgeschreckt, waren die meisten Mädchen Hals über Kopf davongerannt. Nur die sechs im obersten Zelt scheinen sich sicher gefühlt zu haben. Sie wurden vom Schutt lebendig begraben. Ihrer wird auf einem Gedenkstein in Domat-Ems bis heute gedacht. Auch in Altdorf findet sich auf dem Friedhof ein Grab, das die Form einer ausgebreiteten Buchrolle hat, in die alle Namen der Verschütteten eingraviert sind: Neben Lydia Kempf, der 18-jährigen Gruppenleiterin, sind es Miriam Colombo, Ingrid Lehrke, Carmen Lehmann, Silvia Musch und Beatrice Imhof – alle zwischen 10 und 15 Jahren. Die Sache geht mir auch deshalb nah, da die verunglückten Toten in etwa das gleiche Alter haben wie ich selbst.
II.
Der inzwischen 95-jährige Pfarrer und sein damaliger Vikar – beide hatten die Aufgabe, die Familien der verschütteten Mädchen nach der Katastrophe zu verständigen – erzählen noch heute davon, dass diese Besuche die größte seelsorgliche Herausforderung ihres Lebens gewesen sei. Eltern, denen ihre Kinder von jetzt auf gleich genommen wurden, was soll man ihnen sagen? Die Wucht des Unglücks, der Einbruch des Todes in das Leben überschatten mit einem Mal alles. Sprachlosigkeit ist die einzige Sprache, die da noch bleibt. Da sein, zur Seite stehen, Fassungslosigkeit und Trauer teilen, den Schmerz aushalten – compassio.
III.
Noch leben in Altdorf Eltern, die seit 1981 statt jährlich den Geburtstag ihrer Kinder zu feiern des Todestages ihrer Töchter gedenken. Zum Leben gehört, dass etwas fehlt. Die Mädchen, deren Lebensmöglichkeiten durch den Bergunfall abrupt abgeschnitten wurden, sind als Tote in der Erinnerung lebendig. Bis heute. Was wäre aus ihnen geworden? Wie hätten sie die Schule gemeistert? Welchen Beruf hätten sie gewählt? Mit wem hätten sie sich zusammengetan – hätten sie vielleicht selbst Kinder bekommen? Der Schmerz der Hinterbliebenen aber ist nicht gleichbleibend, er kennt Latenzphasen, in denen er zurücktritt und fast verschwindet, er kennt aber auch Zeiten, in denen er akut wird und wieder nach vorne drängt. Ebbe und Flut des Gedenkens. Immer, wenn es auf den 24. Juli, das wiederkehrende Datum des Unglücks zugeht, tritt das tragische Ereignis neu ins Bewusstsein. Das Gedenken, das Peter Handke einmal das "achte Sakrament" genannt hat, schärft die Einsicht in die Fragilität und Verletzlichkeit des Lebens.
IV.
Seit dem Unglück von 1981 werden in der Pfarrgemeinde St. Martin für die Kinder und Jugendlichen, die im Sommer ins Ferienlager gehen, jeweils selbst gestaltete Kerzen entzündet. Es sind Ministranten im selben Alter, welche die Kerzen zum Brennen bringen. Das Gedenken an die sechs Toten verschwistert sich in der Liturgie mit der Bitte um Schutz und Segen für die Lebenden.
V.
Humanitas und humus – sind die beiden Worte sprachgeschichtlich verwandt? "Gedenke Mensch, dass du aus Staub bist und zum Staub zurückkehrst" – das ruft der Ritus des Aschermittwochs in Erinnerung. Wir sind vergänglich, wir sind Erdenwesen. Die Humanität einer Kultur aber bemisst sich am Umgang der Lebenden mit den Toten. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass er eine Bestattungskultur ausgebildet hat. Er verscharrt die Toten nicht einfach, sondern kennt Riten, die den Transitus vom Leben in das unbekannte Reich des Todes deutend ausgestalten. Besondere Erinnerungsorte und eigene Gedenkzeiten unterbrechen das accelerando der Gegenwart. Die Trauer um die, die gegangen sind, lässt die Hinterbliebenen nicht stumm zurück, sie findet Ausdruck im Ritus, erhält so einen Haftpunkt und bekommt ein Geländer.
VI.
Die Anbindung an die Vergangenheit lockert sich, wenn die Funktionsimperative der Gegenwart immer vorherrschender werden. Mehr und mehr Hinterbliebene entscheiden sich dafür, auf eine Erdbestattung oder ein Urnengrab zu verzichten. Man kann die schleichende Transformation der Bestattungskultur in Altdorf auf dem Friedhof sehen. Hier die alten kunstvoll gestalteten Gräber mit Kreuzen und Grabsteinen, mit Blumen geschmückt. Inschriften erinnern an Namen und Lebenszeit der Verstorbenen. Dort die Schubladengräber der Urnen mit kleinen vergoldeten Aufschriften, die an Klingelanlagen von Hochhäusern erinnern. Eine Planierwalze ist gerade dabei, ein Gemeinschaftsgrab zu schaffen, in dem in den kommenden Jahren bis zu 720 Tote untergebracht werden können. Aus der aufwendigen Bestattungskultur der Vergangenheit ist in der Gegenwart eine schnelle Entsorgung der Toten geworden.
Der Wunsch einiger, in Altdorf doch bitte auch ein anonymes Gräberfeld zu errichten, ist am Einspruch des Ortspfarrers gescheitert, der die biblische Kultur des Namens als unaufgebbar in Erinnerung gerufen hat. Beim Propheten Jesaja heißt es: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir" (Jes 43,1f). Sollen Kinder, wenn sie von Erinnerungen an ihre Eltern heimgesucht werden, sollen Menschen, die ihre Freunde vermissen, nur auf einen Rasen schauen? Das Grün anstarren? Ihre Trauer bliebe irgendwie obdachlos.
Klar, es ist kostengünstiger, schneller und effizienter, die Asche der Toten auf anonyme Gräberfelder zu streuen – als hätte das gefräßige Maul des Nichts das letzte Wort. Aber kann man die Toten aus der Gemeinschaft der Lebenden, zu der sie doch gehört haben, so flink exkommunizieren? Was bedeutet die wachsende Amnesie der Toten für das Leben der Lebenden? Könnte es nicht sein, dass die Gegenwart verarmt, wenn die "geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem" (Walter Benjamin) gar nicht mehr stattfindet?
VII.
Humanitas – humilitas: Demut, die der Erdgebundenheit menschlichen Lebens eingedenk bleibt. Statt Stärke und Potenz zu simulieren und mit geschwellter Brust hoch aufgereckt durchs Leben zu stolzieren, gehört es zur Menschlichkeit des Menschen, der eigenen Schwächen inne zu sein. Die Kunst zur Selbstrücknahme gibt anderen die Gelegenheit ihre Stärken zu entdecken. Die fragwürdige Strategie, andere herunterzumachen, um sich selbst zu erhöhen, wird durch die Einübung der Demut unterbrochen. Humanitas und humilitas gehören zusammen. Ein Mensch, der sich nicht zurücknehmen und dem anderen Raum geben kann, für den Demut ein Fremdwort ist, der sich permanent beweisen muss, bleibt hinter den Möglichkeiten zurück, die mit der conditio humana gegeben sind. Kaum zufällig haben die Alten in der Demut eine Tugend gesehen …