Ein Auslaufmodell?Die lesende Maria von Altdorf

Eine Skulptur im schweizerischen Altdorf zeigt die religiöse Initiation Mariens – eine Lektion für die dortige Schulbehörde.

Die heilige Maria und ihre Mutter Anna, St. Anna-Kapelle in Altdort
© privat

I.

In Altdorf, der Stadt Wilhelm Tells am Vierwaldstättersee, findet sich in der St.-Anna-Kapelle der Kirchengemeinde St. Martin eine ganz außergewöhnliche Darstellung: Anna, die Mutter Mariens, lehrt ihre Tochter das Lesen. Mit ausgestrecktem Zeigefinger weist sie Maria an, aus der ausgebreiteten Tora-Rolle zu lesen – und das jüdische Mädchen fährt mit konzentriertem Blick die Buchstaben entlang und entziffert die Schrift. Die Skulptur, die um 1900 geschaffen worden ist, zeigt die religiöse Initiation Mariens in die jüdische Schriftkultur.

II.

Ohne die Verbindung zum "semantischen Universum Israels" (Franz Mußner) ist die Muttergottes nicht zu verstehen. Schon als Kind ist sie in die Frömmigkeit der Tora hineingewachsen, hat täglich das Schema Israel rezitiert (Dtn 6,4f). Auch hat sie den Dekalog mit den beiden Tafeln gekannt, die erste Tafel mit den drei Geboten, die das Verhalten gegenüber Gott, dem Heiligen Israels, regeln, aber auch die zweite Tafel mit den übrigen Weisungen, die einen Kompass für das rechte Verhältnis zum Nächsten vorgeben. Durch das Studium der heiligen Schriften ist sie mit dem vielstimmigen Chor der Propheten vertraut geworden. Dort ist vom "Spross Isais" (Jes 11,1), vom "Immanuel" (Jes 7,14), vom "Sohn Davids" (2 Sam 7,13), vom "Friedenskönig" (Sach 9,9f) die Rede – polyphone Verheißungen, die auf die messianische Gestalt vorausverweisen, die kommen soll.

III.

"Das Heil kommt von den Juden" (Joh 4,22). Gerade in Zeiten eines wieder aufflackernden Antisemitismus ist die israeltheologische Grundlage des Christentums neu in Erinnerung zu rufen. Der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth (1886-1968) hat – in pointierter Absetzung zu Konstruktionen eines "arischen Jesus" im Dritten Reich, welche den Christusglauben "entjuden" wollten – in seiner Kirchlichen Dogmatik geschrieben: "Das Wort wurde – nicht ‚Fleisch‘, Mensch, erniedrigter und leidender Mensch in irgendeiner Allgemeinheit, sondern jüdisches Fleisch" (KD I/1, 181). Jesus Christus ist Sohn einer jüdischen Mutter. Er ist mit den Psalmen Israels aufgewachsen – und hat die Partituren des Betens, die Dank, Bitte, Lobpreis, aber auch Klage und Anklage, ja alle menschlichen Lebenslagen vor Gott bringen, auswendig rezitieren können. Seine Eltern haben ihn, dem Gesetz entsprechend, am achten Tag beschneiden lassen (Lk 2,21). Durch dieses Bundeszeichen, die brith Milah, ist er als Sohn des Volkes Israels am Fleisch markiert. Maria und Josef sind zum Tempel in Jerusalem gepilgert, um vierzig Tage nach der Geburt die in der Tora vorgeschriebene Reinigung (vgl. Lev 12,1-4) zu vollziehen und die Auslösung des Erstgeborenen vorzunehmen (vgl. Ex 13,2; 12f. 15). Der greise Simeon und die hochbetagte Hanna, die auf das Kommen des Erlösers gewartet haben, werden zu Zeugen der Darstellung des Herrn. Auch Jesus selbst wollte, wie es in der Bergpredigt heißt, in seiner Verkündigung des Reiches kein Jota der Tora ändern (Mt 5, 17-19). Es ist daher falsch, seine Botschaft vom jüdischen Wurzelgrund abzuheben, wie es christliche Exegese bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts getan hat. Durch das Differenzkriterium meinte man nur das als genuin jesuanisch bestimmen zu können, was sich vom zeitgenössischen Judentum klar unterschied. Eine entjudaisierte Christologie ist neuheidnische Irrlehre!

IV.

Nicht Jesu Großmutter Anna, wohl aber die Mutter Maria wird im Apostolischen wie im Nizänokonstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis genannt. Das ist kein Zufall, sondern hat eine doppelte Funktion. Die namentliche Erwähnung der Mutter Jesu erinnert erstens daran, dass der Erlöser wirklich Mensch geworden ist. Unverkürzt! Dem Glauben an die Menschwerdung des Sohnes wurde durch den gnostischen Doketismus der frühen Kirche die Spitze abgebrochen. Dieser lehrte, dass der Erlöser lediglich einen Scheinleib gehabt habe. Die Inkarnation aber ist keine Simulation. Das fleischgewordene Wort hatte nicht nur ein corpus phantasticum, sondern ist wahrhaft Mensch geworden. Alle Versuche einer subtilen Amputation der menschlichen Natur Jesu sind im Credo abgewehrt durch die Nennung des Namens der Mutter Jesu. Durch die Nennung Mariens wird zweitens an die jüdische Herkunft Jesu und damit an die Verbindung zwischen Altem und Neuem Bund erinnert. Jeder Form des Markionismus, der das Evangelium vom Alten Testament abkoppeln will, wird dadurch ein Riegel vorgeschoben und das filigrane heilsgeschichtliche Geflecht zwischen den alttestamentlichen Verheißungen und der anfänglichen neutestamentlichen Erfüllung betont. Maria ist die Schwelle zwischen Altem und Neuem Bund, sie ist virgo israelitica (Augustinus) und Urbild der Kirche zugleich.

V.

In Altdorf ist Anna, die Lehrerin, in ein goldenes Gewand gehüllt. Die Farbe steht hier als Alteritätsinsignie. Der Heilige Israels selbst hat Anna erwählt, die künftige Mutter des Erlösers zur Welt zu bringen und groß zu ziehen. Die Tora-Rolle, aus der Maria liest, ist ebenfalls goldfarben. Sie unterscheidet sich vom sonstigen Schriftgut durch ihren göttlichen Ursprung. Maria muss die heiligen Schriften Israels kennenlernen, die hebräischen Buchstaben entziffern, das Wort Gottes memorieren und sich zu eigen machen. Auswendiglernen ist learning by heart. Sie ist die Hörende und Empfangende: "Mir geschehe nach deinem Wort". Ohne ihr Ja kann die Inkarnation nicht geschehen, kann Gottes Wort nicht geboren werden. An ihrer Mitwirkung hängt das Mysterium der Geburt Jesu, der "inkarnierten Tora" (Jean-Marie Lustiger).

VI.

Die Skulptur in Altdorf zeigt eine innige Szene der Weitergabe des religiösen Erbes. Wie Anna ihre Tochter das Lesen und Beten lehrt, so haben die "älteren Brüder und Schwestern im Glauben" (Johannes Paul II.) der Kirche auch heute Wichtiges zu sagen. Den Monotheismus Israels und das Ethos der zehn Gebote, ja das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ist jüdisches Erbe, das die Kirche nicht vergessen darf (Dtn 6,4f; Lev 19,18). Das Volk Gottes in der Doppelgestalt von Israel und Kirche ist messianische Weggemeinschaft, die auf den adventus, das Kommen Gottes, zugeht. In der Zeit bis dahin aber soll die Tora im Leben der Frommen einen konkreten Kommentar finden, wie das Evangelium im Leben der Christinnen und Christen durch die Praxis der Nachfolge Bewährung findet. Maria aber, die nicht nur das, was sie in der Tora gelesen, sondern auch das, was sie von Jesus gehört hat, in ihrem Herzen bewahrte und bewegte, gibt den Anstoß zu einer kordialen Hermeneutik, die sich von der Botschaft des Herrn im Herzen berühren lässt. Der göttliche Logos, der im Juden Jesus von Nazareth Fleisch geworden ist, soll auch heute in den Herzen der Menschen Wohnung nehmen, die von ihm hören. Das wäre echte "Cor-Respondenz" (Paul Celan).

VII.

Während ich diese Zeilen über die Skulptur der lesenden Maria in der St.-Anna-Kapelle schreibe, höre ich, dass die Gesamtschulleitung Altdorf im Frühjahr angeordnet hat, dass es ab dem kommenden Schuljahr 2024/25 für die Kinder der Primarstufe keine Schulmessen mehr geben soll. Eine jahrhundertelange Tradition in Altdorf wird damit per Erlass beendet, die Weitergabe des religiösen Erbes stillgelegt. Die Begründung des Schulbeamten ist denkbar stark: Die Kompetenzen des Lehrplans könnten im Unterricht nicht passgenau umgesetzt werden, die Schulmessen würden wichtige Zeit stehlen, auch sei die Betreuung der Kinder, die nicht zum Gottesdienst gehen, organisatorisch aufwendig. Dabei sind die Schülerinnen und Schüler, die alle sechs Wochen an der Schulmesse teilgenommen haben, durchschnittlich nicht mehr als 25 Minuten zur ersten Stunde zu spät gekommen. Wahrlich – eine pädagogische Katastrophe!

Der Beschluss der Gesamtschulleitung Altdorf mag ganz im Zeitwind liegen. Dieser bläst der Kirche gerade – auch in der katholischen Innerschweiz – scharf ins Gesicht. Da lässt sich gut anschließen. Aber was, wenn die Gegenwart über die Vergangenheit zu Gericht sitzt, ohne sich selbst noch einmal kritisch zu befragen? "Tradition ist Demokratie für die Toten", hat Chesterton einmal notiert. Was, wenn man in einem imaginären Experiment den Toten von Altdorf Stimmrecht in dieser Causa gäbe? Immerhin ist die Stadt für ihre katholische Prägung bekannt.

Die Skulptur der Anna, die Maria lesen und beten lehrt, setzt gerade in Altdorf einen wichtigen Kontrapunkt. Denn auch im Blick auf die Zukunft ist der Erlass anfechtbar, Kindern, die aus kirchenfernen Elternhäusern stammen, die Möglichkeit zu nehmen, einen Ort des Gebetes zu besuchen und die geschichtsträchtige Pfarrkirche St. Martin von innen zu erleben. Matthias Horat, der Pfarrer, merkt denn auch an, die Leidtragenden des Entschlusses seien letztlich die Kinder. Der überwältigende Kirchenraum, die außergewöhnlich gestaltete Kanzel, die eindrücklichen Deckenfresken mit Szenen aus dem Leben des hl. Martin, die Okuli des Langhauses, das Taufbecken, der Altar, das ewige Licht am Tabernakel, das Chorgestühl, die Seitenaltäre, die imposante Orgel-Empore, um von den Worten und rituellen Zeichen in der Schulmesse zu schweigen – wer kann schon sagen, welche nachhaltigen Resonanzen das alles bei Kindern hinterlässt? Was Generationen von Altdorfern in ihrem Glauben wichtig gewesen ist, was ihnen Halt im Leben und Trost im Sterben gegeben hat, das soll den Schülerinnen und Schülern ab jetzt vorenthalten werden.

Der Schulbeamte mag entgegnen, dass ja jedem die Pfarrkirche St. Martin auch weiterhin offenstehe und dass es weiterhin Religionsunterricht geben werde. Recht hat er. Auch könnte er auf die abnehmende Bedeutung der Kirche selbst im Kanton Uri, dem katholischsten aller Schweizer Kantone, verweisen. Recht hätte er. Aber er wäre zu fragen, ob er wirklich meint, dass es ein Fortschritt an Bildung und Kompetenzerwerb ist, wenn die Anbindung an das gelebte religiöse Erbe der Vergangenheit abgeschnitten wird. Religiöse Selbstamputation kann keine Antwort auf weltanschaulich und religiös bunter werdende Lebenswelten sein. Die goldene Anna, die ihre Tochter Maria das Lesen und Beten lehrt, steht sichtbar und eindrücklich gegen den Beschluss der Gesamtschulleitung. Wer weiß, ob sich in der Stadt Wilhelm Tells, die für die Widerborstigkeit gegenüber sinnwidrigen Erlassen bekannt ist, doch noch Widerstand regt?

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