Bileams EselEin Lehrstück

Über den Menschen geht (für diesen) in der Schöpfung nichts. Vor Gott wie von ihm hält er sich für exklusiv privilegiert. Wundersam Überliefertes aus der Jüdischen Bibel lässt solche Selbstgewissheit allerdings rissig werden. Durch die Konfrontation mit einem vierbeinigen Seher dort könnten wir Impulse zur Besinnung erhalten.

Die Eselin mit dem Propheten Bileam, vom Engel aufgehalten, Gemälde von Gerrit Claesz. Bleker, 1634
Die Eselin mit dem Propheten Bileam, vom Engel aufgehalten, Gemälde von Gerrit Claesz. Bleker, 1634© Gerrit Bleker, Public domain, via Wikimedia Commons

I.

Lieblingsgeschichten, biblisch. Wenn ich danach gefragt werde, löst meine Antwort meist Befremden aus. Beide nämlich sind so beschaffen, dass man sie empirisch als eher ungesichert empfinden mag. Gern versuche ich es dann mit der Unterscheidung zwischen Faktizität und Wahrheit. Damit auch, dass literarische Verdichtungen erstere an Substanz doch überbieten könn(t)en.

Im Neuen Testament ist es die Versuchung Jesu. Außerhalb seiner Legende vom Großinquisitor, wo sie das Schlüsselmotiv abgibt, hat Dostojewski ihren Kern als die Ersetzung von Glaubensinhalten durch innerweltliche Zielsetzungen bezeichnet, den Willen zur eigenen (Macht-)Vollkommenheit ohne, ja gegen Gott. Heiner Müller konzentrierte sich auf einen anderen Punkt: "Christus. Der Teufel zeigt ihm die Reiche der Welt / WIRF DAS KREUZ AB UND ALLES IST DEIN."

Noch größeres Verdutztsein aber pflegt mein Favorit aus der Jüdischen Bibel zu bewirken. Was mich dort besonders fasziniert, ist "ein Märchen" – doch, so heißt es im exegetischen Schrifttum ausdrücklich! Viertes Buch Mose, Kapitel 22, 21-33: die Erzählung von Bileam und seinem Esel (der übrigens feminin sei, wie viele meinen). Peinlich ist mir dieses outing nicht, und ausreden lasse ich mir meine Schwäche gerade hierfür ebenso wenig: da bin ich so störrisch, wie es sonst dem Langohr unterstellt wird.

II.

Auf seinem Weg in das Gelobte Land lagert das Volk Israel auf den "Steppen" der Moabiter. Balak, deren König, missfällt das sehr. Von ritualisiert herabgeschleuderten Flüchen über sie verspricht er sich die Eliminierung der Invasoren. Zu diesem Zweck soll ein ausgewiesener Experte aus Mesopotamien her, Bileam mit Namen, dessen "Orakelsprüche" üblicherweise in Erfüllung gehen. Durch "sehr hohen Lohn" lässt der sich schließlich breitschlagen und zieht entsprechend los. Jahwe aber, gegen dessen erklärten Willen er damit handelt, wird "zornig", und "der Engel des Herrn" tritt Bileam "in feindlicher Absicht" entgegen, als er auf seinem Esel des Weges reitet.

Was die kunstvoll arrangierte Kürzest-Novelle nun folgen lässt, ist eine wahrhaft unerhörte Begebenheit. Denn anders als sein Besitzer gewahrt der "seit eh und je" treu-gehorsame Diener Grautier den Gottesboten und will ihm ausweichen. Vergeblich. Noch zweimal wiederholt sich das Spiel, wobei die Räume jeweils enger werden. Bis der Esel definitiv stehen bleibt und vor dem göttlichen Gesandten "in die Knie" geht. Also geschieht erneut, was der Mensch, dieses evolutionär die Schöpfung krönende Prachtstück, mit am besten beherrscht: Eindreschen auf Jegliches, das sich den eigenen Wünschen nicht fügt.

Das Tier nimmt klarer wahr als der Mensch. Nicht nur dazu imstande, mögliches Unheil und Verderben zu wittern, verfügt es auch über den Durchblick in eine diesem verborgene Realität.

Der Esel – unten – zahlt es seinem Peiniger jedoch nicht mit ähnlich aggressiver Münze heim, sondern versucht sich, da (wie es heißt) Jahwe ihm "den Mund öffnet", als Diskursethiker, konkret per Nachfrage zum legitimierenden Grund: "Was habe ich dir getan, dass du mich jetzt schon zum drittenmal schlägst?" Der Menschen-Wüterich – oben – bleibt freilich die Argumentation schuldig und gewährt stattdessen Einblicke in sein Herz als einer Mördergrube. "Zum Narren halten" lasse er sich nicht, sowie: "Hätte ich ein Schwert dabei, dann hätte ich dich schon umgebracht." Derlei Ansage erfolgt lustigerweise, während der Seraph mit gezückter Klinge drohend vor ihm positioniert ist.

III.

Das Tier nimmt klarer wahr als der Mensch. Nicht nur dazu imstande, mögliches Unheil und Verderben zu wittern, verfügt es auch über den Durchblick in eine diesem verborgene Realität. Seine metaphysischen Sensoren sind intakter als die des arroganten Mannes. Wenn es in dieser Szene tatsächlich einen "Seher" gibt, einen echten Propheten, dann ist es eindeutig der Esel – und nicht dessen blinder Chef, von dem dies behauptet wird.

Jahwe wendet sich dieser geringen Kreatur zu, auf in der gesamten Bibel beispiellose Weise. Des Menschen Überhebung ihr gegenüber und das Pochen auf eigene Exklusivität sind bloße Fiktion. Bis "der Herr" schließlich auch ihm "die Augen öffnet", bleibt Bileam ein lächerlich Beschämter. Danach immerhin legt er Besserung an den Tag, neigt selbst das Haupt vor dem Gottesboten und stellt sein ursprüngliches Vorhaben auf den Kopf, wenn er am Ende die Israeliten nicht verwünscht, sondern segnet. Wohl den unterschiedlichen Quellen der drei Bileam-Kapitel geschuldet, hat das Reittier in diesem weiteren Verlauf der Begebenheiten keine Bedeutung mehr.

Dass die Esel über Wesentliches Bescheid wissen, ja näher als das Menschenvolk an "Einsicht" und "Erkenntnis" zu stehen vermögen, bescherte ihnen seit Franz von Assisi dennoch einen verdienten Platz im Krippenensemble.

IV.

Allgemein genießen Esel bei uns einen zweifelhaften, ja hohnvollen Ruf. Bis ins 19. Jahrhundert hinein musste der jeweils klassenschlechteste Schüler die ihnen nachgebildete Kappe aufsetzen. Eine anrüchige Wendung (von vielen) bezichtigte sie gar, den Lauf des menschheitlichen Fortschritts aufhalten zu wollen. Die so übel verschrienen aber sind nicht nur intelligente, sondern wohl mit die geduldigsten und leidensfähigsten aller Tiere. Ein passionales Leben zeichnet exemplarisch Robert Bressons Film Zum Beispiel Balthasar von 1966 nach (der zu den besten zählt, die je gedreht wurden). An literarischen Reverenzen herrscht ebenfalls kein Mangel, um nur Juan Ramon Jimenez' Platero und ich zu erwähnen (beide zusammen neuer Unschuld entgegen strebend), oder Francis Jammes' lyrisches Gebet, mit den Eseln ins Himmelreich einzugehen, mögen die verletzlichen und missachteten Wesen dort bekanntlich auch fehl am Platze sein. Dass sie (nach Jesaja 1, 2f.) über Wesentliches Bescheid wissen, ja näher als das Menschenvolk an "Einsicht" und "Erkenntnis" zu stehen vermögen, bescherte ihnen seit Franz von Assisi dennoch einen verdienten Platz im Krippenensemble.

V.

Kulturell hat das Geschehen um Bileams Langohr durch die Zeiten verschiedene Anschlüsse erfahren, moralische zumal. Grundlegend für das Verbot, "einem Tier Schmerzen zuzufügen", sei es, gab Moses Maimonides, der bedeutende jüdische Philosoph des Mittelalters zu Protokoll. Ein Erfolgsautor während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Paul Keller, peilte weitere Sollensansprüche an: "Wir Tiere können nicht fluchen. So sollt auch ihr Menschen nicht fluchen und verdammen."

In Anbetracht unseres ruinösen Umgangs mit dem Planeten erwog Carl Amery, früher und eindringlicher Warner vor dessen Folgen, 1991 zur Identifikation alternierend, dass er gewissermaßen "der Reiter sein" könnte, "der überzeugt ist von der Verdammungswürdigkeit des lebenden Geschlechts, und der (hoffentlich) von der kreatürlichen Barmherzigkeit in und um uns eines Besseren belehrt wird. Andererseits könnte ich auch der Esel selbst sein, der von seinem Reiter, einer unbarmherzig galoppierenden Zivilisation, vorwärts gehetzt wird und die Aussichtslosigkeit solchen Galopps erkennt: weil er den Engel der Geschichte sieht (den von Walter Benjamin beschriebenen), in dessen weiten Augen das Entsetzen über diese Geschichte geschrieben steht."

 Zu schärfen wäre demnach das Bewusstsein vom Tier nicht nur als irdischem Nachbarn, sondern unserem Geschwisterwesen vor Gott.

VI.

Kaum von der Hand zu weisen ist, dass Bileams Esel nicht zuletzt eine offene Flanke christlichen Selbstverständnisses berührt. "Gott", so legte Günther Anders den Finger in die Wunde jener für diesen Exzellenz-Denker kaum zu bestreitenden "Ungerechtigkeit": "Warum missgönnt Er sich" seinen "angeblichen" Geschöpfen "– Si esset" (wenn er denn wäre)? Um dann herausfordernd zu fragen, ob solcher Monotheismus letztlich nicht auf "Monoanthropoismus" hinaus laufe: darauf, dass es nur eine einzige Spezies gibt" – eine "infinitesimale ethnische Minderheit" noch dazu –, "die den Gottesbegriff besitze?"

Freundlich gab mir vor Jahren ein kluger Kollege aus Indien zu erwägen, inwiefern Christen am Ende nicht ihre eigene Art anbeteten, jenen (so Nietzsche) "Cultus der Menschheit" betrieben, welcher modern bei ihnen voll zutage trete. Der Hinduismus hingegen respektiere mit den Vahanas, den Tieren der Götter, symbolisch deren Verschiedenheit von uns.

Ohne Bezug auf einen heiligen Patron (welch seltsamen denn auch?) kannte das frühe Christentum den Vornamen "Asellus". Gut möglich, dass er auf ein demütiges Relativieren menschlicher Hybris hindeutete, da es doch, wie Paulus nach Rom schreibt (8, 21), um die Erlösung der gesamten Schöpfung geht, aller "ächzenden Kreatur" eingeschlossen, welche den Höchsten auf ihre Weise vermisst. Zu schärfen wäre demnach das Bewusstsein vom Tier nicht nur als irdischem Nachbarn, sondern unserem Geschwisterwesen vor Gott.

Dies ist es, was (durchaus mit Ironie) in der Geschichte von Bileams Esel aufblitzt. Und deshalb hat sie bei mir einen Riesen-Stein im Brett.

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