I.
Buchstäblich sagenhaft war seine geistige Wachheit. Voll überraschender Einfälle und Schlagfertigkeiten, scharf- und spitzzüngig, listig und behende, hoch ironisch dabei, mit fließenden Übergängen zum Zynismus. Niemand hat ihn hierin übertroffen. Mit Fug gibt es daher Anekdoten von und über Heiner Müller als gesondertes Bändchen. Eine zusätzliche wüsste ich selbst beizutragen.
Februar 1995. Unseren Termin hatte er zunächst verschwitzt. Zwei Stunden später saßen wir dann doch zusammen. Ich hatte Glück. Nach dem Gespräch, das ich für den ARD-Film zum 100. Geburtstag von Ernst Jünger mit ihm führte, begann Müller zu plaudern. Auch über den erst kurz zurückliegenden Aufenthalt in einer bayerischen Spezialklinik. "Grüß Gott!" So sei er von dem leitenden Mediziner dort begrüßt worden. Ein Schluck aus dem vor ihm stehenden Glas Whisky, ein tiefer Zug an der Zigarre, hierauf schelmisch: "Wenn der so was sagt, dachte ich, muss es wirklich schlimm mit dir stehen."
Zehn Monate später, wenige Tage vor seinem 67. Geburtstag, starb Heiner Müller an Speiseröhrenkrebs. Gott aber spielt im Werk dieses Autors, dem spätesten zumal, durchaus eine Rolle.
II.
Nein, er habe "keine Religion", sei "nicht religiös", erteilte Müller über sich selbst einmal Auskunft. Öffnendes "Aber" nachgeschoben allerdings, indem er die "Zeichen- oder Symbolsprache" des angeblich so Fernen hervorhob, "mit der man ungeheuer viel sagen" könne. Ignoriert wurde das Thema von ihm jedenfalls mitnichten. Eine darauf bezogene Semantik und Bildlichkeit sprenkelt vielmehr seine Arbeiten, verfremdet teils, manchmal von Ausfällen begleitet.
III.
Ebenso hemmungslos wie zunehmend angefochten war Müller auf Utopisches gepolt, historisch Noch-nie-Dagewesenes. Am Beispiel des Marxismus identifizierte er dabei einen "theologischen Glutkern" als unhintergehbare Kraftquelle zur (die Wortwahl lässt aufhorchen!) "Erlösung aus dem Leben in der Tiefe: wenn der kalt wird, dann hat das Ganze keine Anziehungskraft mehr".
Ohne den Stachel des Endlichen ist solches nicht triftig. Unter Verweis auf Walter Benjamin hielt Müller fest, "der Hauptzweck" kapitalistischer Gesellschaften bestehe darin, die unerträgliche "Gewißheit des eigenen Todes" durch Verheißung ständigen Wachstums und Fortschritts zu betäuben. Und führe man "die kommunistische Utopie auf ihren religiösen Kern zurück", so handle es sich letztlich um "einen Unsterblichkeitsglauben", mag er auch weder überprüf- noch widerlegbar sein. Gerade deshalb bleibe andererseits "die christliche" des weiteren "existent". (Ein spannender Gedanke, da – täuscht der Eindruck? – Transzendenz als deren Wurzelgrund kirchlicherseits inzwischen doch eher nachgeordnet behandelt wird.)
IV.
Seit der bei ihm diagnostizierten Krankheit, dem eigenen "rendezvous mit dem tod", macht das gesellschaftlich relevante Problem für Müller sich am eigenen Leibe bemerkbar. Sein absehbares Verlöschen, als "letztes Abenteuer", führt bis zum Ende zu einigen bemerkenswerten Texten, deren Sprecher (dem "keiner mehr helfen kann / Außer ein Wunder oder ein Gott oder ich") etwa mit staunend zitternder Ironie ihm schwer Verständliches registriert, einen Mann etwa, "fröhlich katholisch wartend auf den tod / und die auferstehung allen fleisches", oder, was die Überwindung von Unsicherheit und Angst anbelangt, einräumen muss: "Der Maurer im Nebenbett hat es leichter / Er stirbt im Glauben vor sich hin".
V.
"WIE EINEN SCHATTEN HAT GOTT DEN / MENSCHEN ERSCHAFFEN WER SOLL / IHN RICHTEN WENN DIE SONNE / UNTERGEGANGEN IST." Gleich über drei Banden spielt dieser Gedicht-Beginn: von der verworfenen Schlussszene aus Brechts Leben des Galilei rückwärts auf den gleichlautenden Spruch am Dachgebälk von Montaignes Turmbibliothek rückwärts auf Verse aus Hiob, dem Psalter oder der Weisheitsliteratur des Alten Testaments.
Über die Erwähnung eines "Malers" werden in den beiden an- und abschließenden Versen solche Kreaturen ohne Bestand mit dessen Kunst des Zum-Verschwinden-Bringens verknüpft. Eine Nachbarstrophe überblendet ihn mit Charon, dem mythologischen Totenflößer, der den letzten Augenblick "vor dem Vergessen" festhalte. Und dann? Es "kommt Wahrscheinlich / Nichts Was immer das sein mag", so (durchweg Sicherheiten verweigernd) die lyrische Betrachtung Sterbender Mann mit Spiegel aus dem gleichen Jahr (1992). Doch "Gott / ist unberechenbar auch in seiner Gnade". Das findet sich als Notiz für ein Gedicht, welches Müller, seine Motive immer wieder uneindeutig belichtend, mit der Frage versieht, ob dem "Nicht-Rechtgläubigen" gleichwohl "Einlaß gewährt" werden könnte "in die Gefilde der Seligen". `Uneigentliche Rede´ muss hier der Zuordnung letzter Schluss keineswegs sein.
VI.
Für den Höchsten hat in der deutschen Gegenwartsliteratur niemand solch krasse Denkbilder gewählt wie jener Extrempoet. "GOTT IST DIE WÜSTE", variiert Müller dreimal-zehnsprachig Meister Eckhart: Ödland, dem Menschen schweigend abgewandt, weglos, unaufklärbar. Auch als "Wiedergänger aus einer anderen Galaxis" vermag er zu erscheinen, als "Zombie". In Klammern anschließend, wohl nicht bloss so dahin gesagt: "(der den Messias zur Welt bringt, sein Tod Bedingung der Geburt)". Ihre Illusion von Zukunft abräumend, wird er Menschen an der Schwelle zur letzten Erfahrung erkennbar. "Der Arzt zeigt mir den Film DAS IST DIE STELLE / SIE SEHEN SELBST Jetzt weißt du wo Gott wohnt". Herzkranzgefäß heißt das so anhebende Gedicht, dessen vorletzter Vers einem memento mori gleich bilanziert: "Was du nicht wissen wolltest ZEIT IST FRIST".
"Gott ist vielleicht ein Virus / Der uns bewohnt", lässt das Fragment eines nachgelassenen Stücks den "Autor" im leeren Theater zum ebenfalls betrunkenen Regisseur sagen. Die Vorstellung scheint aufschlussreich genug. Viren kommen vor, ohne dem Vollsinne nach selbständiges Leben zu sein. Sie bedürfen eines Wirts – ähnlich die Konstellation wie beim Schatten und der Sonne, nun umgekehrt. Krankheitserreger sind sie. Bedrohliche Fremdkörper. Was also meint Müller mit dieser Heimsuchung? Dass gegen Gott nichts zu immunisieren vermag? Dass er uns irgendwann ereilt, wir immer wieder mit der Infektion durch ihn rechnen müssen? Dass er einnistet, uns so gleichsam zwingt, sich ihm gegenüber zu verhalten, und sei es nur, dass wir ihn wieder los haben wollen?
VII.
Doch ist die Topik des Viralen auch medientheoretisch besetzt. Mit einem dem Bestehenden gegenüber subversiven Sinn findet sie sich bei Denkern, die man trotz bestehender Unterschiede gemeinhin als `poststrukturalistisch´ zu beschildern pflegt.
Jean Baudrillard etwa (bei Müller gesprächsweise mehrfach gegenwärtig) bezeichnet solche sich selbst verbreitenden Viren als mögliche Retter von Systemen, just vermöge einer deren Bruch herbeiführenden "Destabilisierung". Anderes als gewohnt, völlig Neues kann nun anlangen und werden. So gelesen, handelte es sich um die Metapher einer Utopie. Unverfügbare Infiltration macht den Weg eines Kommenden frei. "Erinnerung an etwas, das noch nicht existiert oder existiert hat", echot es hierzu aus Müllers Schriften.
VIII.
In den letzten zehn Tagen seines Lebens noch entstand ein kurzer Text. Prospero, der Zauberer aus Shakespeares Drama Der Sturm wird – als "Vater" – hier zum schrecklichen "warum" verknotet. Weshalb ist die Geschichte der Menschen so grausam leidvoll? Und stünde hinter allem Untergehen gar ein Wesen, dessen Plan das entspricht? Als Gegenbild zum Virus also Bleibend-Heilloses? Finis?
Der Schluss von Shakespeares Werk jedoch ist (wie Müller bekannt war) ein offener.
IX.
"Ich habe mehr Fragen als Antworten", äußerte der Autor sich bei Gelegenheit grundsätzlich, "und für Polemik keine Zeit". An dem Satz stimmt nur Letzteres nicht ganz. Erstere aber machen Heiner Müllers Texte für religiöse Reflexion mit Sicherheit nahrhafter als jene zunehmend gereichte Wassersuppe im Namen von Christentümern, welche im Anschluss an die Horizonte eines juste milieus moderner Gesellschaften ihre Erfüllung suchen.